TIMELESS
Berlin, 24.06.2023
Die Projektion an der weißen Wand liefert ein gestochen scharfes Bild eines Quarks, eines dieser Teile, die ich nie verstanden hatte und von denen die Physikprofessoren nun schon seit Jahrzehnten in höchsten Tönen schwärmten. Es bleibt relativ ruhig an seiner Stelle, zittert nur ein klein wenig – doch dies sei nach den Worten des leitenden Wissenschaftlers lediglich das Resultat `minimalster Schwankungen des Tableaus` und kein Zeichen einer `aus Energie hervorgebrachten Eigenbewegung des Teilchens`. Die Dämpfungen seien einfach nicht in der Lage, nanoskopisch kleine Wellen auszugleichen.
„Dies ist gleichzeitig das fatale der Nanologie“, erläutert Dr. Higgins, „man ist in der Lage, die kleinsten Teile anzuschauen, doch noch nicht soweit, sich im Nanokosmos störungsfrei zu bewegen“.
Ich verstehe nicht viel. Ich starre lediglich auf das Teilchen, das schwach zuckend vor uns auf der Wand zu sehen ist.
Der Professor schaltet die Projektion ab.
„Ja, es ist wahr. Diese Teilchen befinden sich in einem absoluten Ruhezustand. Lange Zeit nahm man an, sie trügen Ladungen in sich – doch es sind absolut ausgeglichene, raumlose Materiepunkte. Es scheint fast so, als würden die energetischen Gesetze nicht für sie gelten und“, er macht eine demonstrative Pause, „als würden die Gesetze der Dimension in diesen Bereichen keine Rolle mehr spielen.“
Stille. Der Professor blickt mich an. Scheinbar wartet er auf eine besondere Reaktion. Eine Art Aha! Aber ich habe keinen blassen Schimmer.
„Keine Dimension und keine Bewegung. Das heißt?“
Der Professor schaut mich weiterhin an. Er scheint zu begreifen, dass es keinen Sinn macht, mich mit physikalischem Kauderwelsch zu überschütten. Ich würde es einfach nicht verstehen.
„Ok. Ich erkläre es Ihnen etwas vereinfacht. Es bedeutet“, und wieder diese demonstrative Pause, „ das für diese Teile die Gesetze der Zeit nicht gelten. Es bedeutet, dass dieses Teil, welches ich Ihnen mithilfe der Projektion zeigte, exakt so und genau an derselben Stelle bereits seit Urzeiten an diesem Punkt liegt. Oder besser gesagt, es liegt erst seit einem Moment dort, während sich das ganze Geschehen wie wir es kennen um dieses Teilchen herum geschieht. Es ist ein absolut ursprünglicher Moment, während um diese zeitlosen Punkte die Dimensionen wie ein Mantel liegen und erst die Welt erschaffen, in der wir leben.“
Ich verstehe immer weniger. Und der Professor scheint nicht aufhören zu wollen.
„Wenn man es genau nehmen will, besteht das Universum aus einem regelmäßigem Strickmuster von Quarks, und Dinge wie Zeit, Raum, Materie, Energie und Bewegung entstehen zwischen Ihnen. Sehr geehrter Herr Keane“ – demonstrative Pause und das erneute Anschalten des Projektors, „hier sehen sie die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit in einem Punkt vereint. Hier sehen sie ein Teilchen, welches schon Bestandteil eines Sauriers war, welches jetzt hier durch uns sichtbar gemacht wurde, und welches in einigen Jahrmilliarden den Untergang der Welt und der menschlichen Rasse erleben wird, bis es im wahrscheinlichen Antiknall zusammen mit dem gesamten Universum erneut in einen riesigen Klumpen Materie verdichtet wird – um durch den Druck wieder zu explodieren und erneut ein Strickmuster, eine Matrix zu formen.“
Thriumphierend blickt er auf mich herab. Aha. Alles klar. Und was will er mir damit sagen?
Nur, dass sie mich richtig verstehen: Ich bin kein Physiker. Kein Wissenschaftler. Keiner dieser Illusionäre, die Dinge erklären, die man nie beweisen kann – und deshalb eigentlich immun gegen Kritik sind. Das All ist nicht durch einen Urknall entstanden? Na, dann beweisen sie mir erstmal das Gegenteil! Nein, ich komme aus einem anderen Metier. Ich bin Detective. Und ich habe mich auf ungelöste Verbrechen spezialisiert. Der Professor? Ein alter Kollege. Er hat mir schon oft durch revolutionäre Techniken zur Lösung des ein oder anderen Falles geholfen.
Im Prinzip sind wir gar nicht so verschieden: Wir möchten erklären. Wir möchten Lösungen finden. Und wenn wir die eine Lösung haben, dann suchen wir uns eben die nächste Frage...
„Sie fragen sich gewiss, was das alles soll? Passen sie auf!“
Der Professor schiebt einen Stuhl in die Mitte des Raumes, auf eine Stelle, die er vorher penibelst mit einigen x-en und Punkten markiert hat. Dann packt er mich ein wenig unsanft an den Schultern und setzt mich auf den Stuhl.
„Was soll das?“, frage ich ungeduldig.
„Warten sie ab“. Er blickt mir in die Augen und fängt an, meinen Kopf mit beiden Händen zu umfassen. Er bewegt mich hin und her, auf und ab, vor und zurück. Mal schnell, mal langsam. Allmählich komme ich mir etwas albern vor. Nicht, dass sie mich falsch verstehen. Ich respektiere ihn und seine Arbeit. Aber dies geht vielleicht etwas zu weit. Trotzdem lasse ich die Prozedur über mich ergehen. Ich beginne mich zu langweilen und merke, wie mein Magen zu knurren beginnt. `Blaubeerkuchen` denke ich, `ein schöner, saftiger Blaubeerkuchen`.
So lasse ich mich noch ein wenig hin- und herschieben, bis der Professor endlich aufhört.
„Was sollte das denn jetzt?“
Er grinst mich kurz an und geht hinaus.
`Freak. Ein echter Freak. Fehlt nur noch das graue, lodernde Haar`.
Er kommt wieder in den Raum, seine Hände hinter seinem Rücken versteckt. Stellt sich vor mich hin, grinst, und zaubert ein Tablett vor, welches er versteckt gehalten hatte. Auf dem Tablett – Blaubeerkuchen!
Nach einigen Stunden habe ich die Grundlagen verstanden: Der Prof hat einen Weg gefunden, um die Muster von Gedanken auf die Matrix der Quarks zu legen. Kommt das Bewusstsein eines Menschen in den Aktionsradius dieser Gedanken, so fasst sein Gehirn den Gedanken auf und versteht ihn als seinen Eigenen. Dadurch könne man nicht nur Informationen in unfassbarer Menge konservieren, nein, man könne sie sogar durch die Zeit schicken – oder besser: Die Zeit lege sich um den Gedanken herum und festigt ihn so in der Zukunft und in der Vergangenheit. Natürlich gebe es auch etliche Risiken – sowohl physikalischer als auch ethischer und gesellschaftlicher Art. Aber er möchte ein kleines Experiment wagen – mit meinem Einverständnis und meinem Wissen in einer speziellen Angelegenheit. Er berichtet mir von einer Idee, von einer kleinen Möglichkeit. Als er mir ein Foto zeigt, muss ich nur noch grinsen. Er kennt mich eben – und er kennt meinen sehnlichsten Wunsch.
Nach drei Tagen ist es soweit. Daten sind gesammelt. Informationen verwertet. Zur Sicherheit fertigt der Professor ein Skript an, indem er den jetzigen Wissenstand festhält.
„Wer weiss“, sagt er, „vielleicht klappt unser Experiment, wir merken es aber nicht – weil wir keine Erinnerung daran haben können.“
Die Reise geht los. Der Flug dauert etwa 2 Stunden…
London, 30.09.1888
PC James Harvey läuft gegen 1:38 Uhr durch die Church Passage, um noch einmal einen Blick auf den Mitre Square zu werfen. Er muss an sein Zuhause denken, an sein Bett. Er hasst Nachtschichten, wäre viel lieber bei seiner Frau. Als er am Eingang zum Square angekommen ist, hat er einen Gedanken: „Schau in den dunklen Ecken nach. Dort lauert das Monster.“…