Autor Thema: Gedanken  (Gelesen 70191 mal)

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Offline Isdrasil

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Gedanken
« am: 14.03.2007 19:46 Uhr »
Eine völlig themenfreie Plattform für Gedanken, Texte oder sonstigem Krimskrams rund um Jack the Ripper...

Offline Isdrasil

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Re: Gedanken
« Antwort #1 am: 14.03.2007 19:46 Uhr »
Die schmerzhafte Schönheit des Lebens

Rosen. Rote Rosen. Es waren ihre liebsten Blumen.
„Sie erinnern mich“, sagte Sie an diesem regnerischen Tag zu mir, „sie erinnern mich an diese schmerzhafte Schönheit des Lebens.“, und dann sah Sie mich an, mit ihren unglaublich schönen braunen Augen.
Ich strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und blickte Sie lange an. Der Glanz unbändiger Lebensfreude lag in ihren Augen, und jene, die Sie noch nicht lange kannten, sahen in ihr eine glückliche Frau. Doch ich wusste von ihrem inneren Kampf und der Zweifel, die an ihrer Seele nagten und Sie manchen Tages in den Wahnsinn trieben, seit Sie von diesem schrecklichen Geheimnis erfahren hatte.
Ich nahm Sie in die Arme. Sog den Duft ihrer Haut ein und drückte Sie ganz fest an mich.
„Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“.
Mehr konnte ich nicht sagen. Ich hatte schon so oft alles gesagt, und manchmal war ein Schweigen heilsamer als tausend Worte. Wir verweilten so, eine kurze Ewigkeit.
Als wir uns aus der Umarmung lösten, wischte Sie sich die Tränen von der Wange und sah die Rose an, die ich ihr geschenkt hatte.
„Meine Urgroßmutter hatte ihn mir einst beschrieben. Er muss ein loyaler Mann gewesen sein. Ein Mann, der die raue Schroffheit der Klippen mit dem sanften Rauschen des Windes in seinem Wesen vereint. Er konnte jede Frau haben. Manchmal stelle ich ihn mir vor wie eine süße Versuchung, von der man lassen sollte. Wie diese Rose eben. Wie die schmerzhafte Schönheit des Lebens…“.

Dies ist nun alles lange her. Noch immer bringe ich ihr Rosen und lege Sie sachte auf den Stein, bis Sie verwelken oder vom irischen Wetter auf den schmutzigen Boden getragen werden und im Schlamm vergehen. Ich habe ihre Worte nie vergessen.
Am Tag ihres Todes am Sterbebett, als Sie zitternd meine Hand hielt und wir beide von einem seltsamen Mix aus Weinkrämpfen und nachdenklicher Seligkeit erfasst wurden, bat Sie mich, alles zu verbrennen. Die Fotos. Die Briefe. Erinnerungen. Andenken.
Ich habe es getan. Ich schmiss es alles in das Feuer unseres Ofens, blickte in die lodernden Flammen und heulte Rotz und Wasser, bis der Morgen graute…
Nun stehe ich hier, an ihrem Grab – blicke in den Himmel, in die Ferne, auf ihren gemeißelten Namen und auf die See, die Wellen peitschend an der Küste zerschellen lässt.
Manchmal lange ich noch einmal nach der Rose, die ich auf den Stein gelegt habe, und blicke sie nachdenklich an. Und dann muss ich an diese schmerzhafte Schönheit des Lebens denken, und an die Vergänglichkeit – und daran, dass mit mir der letzte Geheimnisträger vergehen wird. Genau so, wie Sie es wollte. Und ich hoffe, Sie wird dadurch Ruhe finden. Meine Liebste. Meine ewige Liebe. Wenn niemand mehr weiss, wer wirklich Jack the Ripper war…



Mort

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Re: Gedanken
« Antwort #2 am: 15.03.2007 15:44 Uhr »
Schön. Hast Du das selbst verfasst?

Offline Isdrasil

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Re: Gedanken
« Antwort #3 am: 15.03.2007 16:17 Uhr »
Ja. Ich schreib gerne mal, und wollte mal eine kleine "Kurzgeschichte" zum Thema loswerden. Gehört zwar nicht direkt hierher irgendwie, und erfüllt auch keinen Zweck, aber ich hoffe, dass diese Plattform gerne mal besucht wird und positiv aufgefasst wird. Natürlich möchte ich auch, dass der "Boss" diese kleine Gedankeninsel willkommen heißt und solche Themen nicht als störend empfindet.... :icon_wink:

Ich hoffe doch, es folgen noch andere Texte von Euch - ich will auch was zu lesen haben  :icon_wink:

Grüße, Isdrasil

Offline thomas schachner

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Re: Gedanken
« Antwort #4 am: 15.03.2007 18:26 Uhr »
klasse!!!
<~> any propaganda is good propaganda, as long as they spell your name right <~>

Offline Pathfinder

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Re: Gedanken
« Antwort #5 am: 16.03.2007 09:15 Uhr »

Ich hoffe doch, es folgen noch andere Texte von Euch - ich will auch was zu lesen haben  :icon_wink:

Grüße, Isdrasil


nö, mach du mal, bin beeindruckt, auch von mir ein kompliment.

.
UND ER WAR ES DOCH !!!!!!!!

Alexander-JJ

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Re: Gedanken
« Antwort #6 am: 18.03.2007 16:15 Uhr »
... Ich hoffe doch, es folgen noch andere Texte von Euch - ich will auch was zu lesen haben ...


Na gut. Du hast es so gewollt.

Hier kommt mein Beitrag:




DER LETZTE TAG DES RIPPERS


Karel betrat die heruntergekommene Herberge. Dielen knirschten unter seinem Gewicht als er sich dem niedrigen Schreibtisch näherte. Dahinter saß ein alter, zerlumpter Mann. Der alte Mann sah Karel an und schob ihm mit zittrigen Händen wort- und grußlos das zerschlissene Gästebuch hin.
Die Herberge war genauso heruntergekommen wie das ganze Kaff. Karel hatte in seinem Leben schon so manchen Slum gesehen, aber dieses gottverlassene Kaff war die Krönung. Hier gab es keine Polizeistation, keine Feuerwehr und der Postman kam nur, wenn er keine schlechte Laune hatte.
“Ich bin Daniel Brown, Mister.”, stellte sich der alte Mann doch noch vor.
In seinem Mund kamen verfaulte Zähne zum Vorschein. Speichel tropfte ihm von den Lippen auf das verdreckte Gästebuch.
“Ich bin Michael Ostrog.”, sagte Karel und bemühte sich einen entsprechenden Akzent hervorzubringen. Mit großen, deutlichen Buchstaben schrieb er den falschen Namen in das Gästebuch. Wenn Frederick George Abberline kam um nach ihm zu suchen, würde er erfahren dass er hier übernachtet hatte. Es war eine Art Abschiedsgeschenk an den tüchtigen Kommissar.
“Wenn sie den Bürgermeister suchen, der ist weg”, sagte Daniel.
“Der Bürgermeister?”, fragte Karel nach.
“Ja, der ist mit der Stadtkasse abgehauen. Nach London um das bisschen Geld zu versaufen und verhuren. Zwei der Huren waren auch hier gewesen. Eigentlich ganz schnuckelige Dinger. Ich hab mich mit ihnen ganz gut verstanden. Aber Carsten, der Bürgermeister, ging nach London und kam nie wieder. Das war kurz nachdem die Polizeistation dicht gemacht hatte und die Websters nach Liverpool gezogen waren. Kurz darauf ist meine verdammte Alte … äh … meine Frau gestorben.”
Der alte Mann sah Karel in die Augen. Karel lächelte.
“Ja … ähem … ach, Mister, ich dachte sie sind vom Finanzamt. Sie sehen so … so aus. Wie ein Beamter halt. Sie sind doch ein Beamter, oder nicht?”
“Oh ja, ein Beamter, ein russischer Beamter eben.”, sagte Karel schnell.
Der alte Mann dachte angestrengt nach und nickte dann. Ein Russe arbeitete wohl doch nicht für das britische Finanzamt.
“Tut mir leid, Mister.”, meinte er. “Schließen sie die Tür? Wir bekommen heute noch Regen.”

Karel schoss die schäbige Eingangstür und stieg in den ersten Stock hinauf. Die uralte Treppe ächzte unter seinem Gewicht. Einen Moment lang wunderte er sich das sie noch nicht zusammengebrochen war. Der alte Mann hatte sich inzwischen in seine gute Stube zurückgezogen.
Das einzige Gästezimmer war sogar noch dreckiger als der Rest des Hauses. Es stank erbärmlich nach Eiter, Urin und Blut. Diese Gerüche kamen Karel bekannt vor. In London und anderswo hatte er sie schon gerochen. Schreckliche Dinge waren dort geschehen. Karel erinnerte sich nicht gerne daran. Ihn suchten auch so schon genug Alpträume heim.

Dieses ganze Kaff, das sich Dorf nannte, war ein einziger, toter Slum. Die meisten Bewohner waren weggezogen, nach London oder Liverpool, um dort zu leben und zu sterben. Zurückgeblieben waren nur ein paar Alte und Kranke. Karel wusste dass dieses Dorf in den nächsten zehn Jahren zu einem Geisterort werden würde. Und genau deshalb war er ja hier. Niemand würde in diesem Kaff einen Serienmörder vom Kaliber eines Jack the Ripper vermuten, niemand außer Abberline. Aber Karel war sich sicher das Abberline auch diesmal zu spät kommen würde.

# # #

Karel wartete.
Ein junger Mann kam um nach dem Alten zu sehen. Er ging in die gute Stube des Hauses und redete auf den Alten ein. Karel musste sich anstrengen um dem Wortwechsel zu folgen. Im Grunde war es ihm ja egal was die beiden Leute zu bereden hatten, aber andererseits vertrieb die Lauscherei seine Langeweile.
Der alte Mann schien erregt zu sein.
“ … hast … kannst nicht … geht nicht … will … nicht, nein, nicht, auf keinen Fall … .”
Mehr konnte Karel nicht verstehen. Der junge Mann nuschelte, bemühte sich leise zu sprechen.
“Nein, Samuel, ich gebe dir kein Geld … nein … Hund … Idiot … geh … .”
Der junge Mann, Samuel, verließ wütend das Haus. Er ging ein paar Minuten vor dem Haus auf und ab, während er vor sich hin schimpfte. Offensichtlich war der alte Mann sein Onkel und schuldete ihm Geld. Der alte Mann schien das genau andersrum zu sehen. Samuel zog schließlich ab.

# # #

Der Gestank im Zimmer wurde unerträglich.
Karel öffnete das Fenster. Ein kalter Windhauch ließ ihn frösteln. Er hörte Schritte. Eine alte Frau, in Lumpen gehüllt, näherte sich dem Haus. Sie sah zum geöffneten Fenster hoch und winkte.
“Heh … Dan … ich bin’s, Liz … heh … geht’s dir gut?”
Karel winkte zurück. Die Frau konnte sein Gesicht unmöglich sehen. Außerdem war sie wahrscheinlich halbblind und fast taub.
“Ja … ja … ich geh ja schon, alter Miesepeter.”, murmelte sie und schlurfte davon.
Neben der alten Schmiede hielt sie an. Samuel trat hinaus und wechselte ein paar Worte mit ihr. Dann hinkte sie weiter bis sie aus Karels Blickfeld verschwand. Samuel zog sich in die alte Scheune zurück.
Das Kaff wirkte völlig ausgestorben. Leer und öde lag die einzige Straße da. Karel seufzte und döste weiter. Die Kälte störte ihn schon nicht mehr.

# # #

Stunden vergingen.
Aus einem nebeligen Morgen wurde ein verregneter Tag.
Die Hauptstraße des Ortes verwandelte sich in eine Schlammpiste. Karel zog den Mantel enger um seinen Körper. Dann stand er auf um sich aufzuwärmen. Verkrampfte Muskeln konnte ein Scharfschütze nun einmal nicht gebrauchen.
Der alte Mann, Daniel Brown, ging zu dem etwas abseits gelegenen Stall hinüber. Er wollte wohl sein Pferd füttern. Der Stall lag genau neben der alten Schmiede. Beide Gebäude waren verfallen, eigentlich schon einsturzgefährdet. Kurz konnte Karel Stimmen aus dem schäbigen Bretterschuppen neben dem Stall hören. Dann folgte ein Peitschenknallen, ein Krachen und dann herrschte Stille.
Karel wartete aber Daniel Brown kam nicht zurück.

# # #

Karel packte schließlich das Spencer-65 aus. Es war ein altes us-amerikanisches Gewehr, ein Karabiner. Er hatte das alte Gewehr mit einem verlängerten, abnehmbaren Lauf und einem abnehmbaren Kolben ausgestattet.
Dieses Spezialgewehr passte in jeden Reisekoffer.
Langsam und methodisch schraubte Karel seine Waffe zusammen. Die schweren Patronen überprüfte er genauestens, bevor er das Gewehr damit lud. Sorgfältig überprüfte Karel die Waffe noch einmal.
Jetzt war er bereit.
Er stopfte eine alte, stinkende Decke in die Fensterecke und legte den Lauf des Gewehrs vorsichtig darauf. Karel zog den Kolben der Waffe an seine Schulter. Über Kimme und Korn visierte er den alten Schuppen an.
Der Schusswinkel war perfekt.
So würde es gehen.
Jetzt musste er nur noch auf sein Opfer warten.

# # #

Es war fast Abend als sich eine schwarze Kutsche dem verlassenen Kaff näherte. Die Kutsche wies keine Abzeichen auf, kein Wappen und auch kein sonstiges Kennzeichen. Ein junger Mann, in einen dicken aber alten Mantel gehüllt, stieg aus. Er trug einen hohen Hut und einen langen, roten Schal. Im dichten Regen blieb er stehen. Der Kutscher warf ihm ein schwarzes Bündel zu und fuhr dann weiter. Er blickte nicht zum offenen Fenster hoch.
Vielleicht wollte er auch nicht wissen was dort oben auf der Lauer lag.
Karel visierte den jungen Mann an.
Der junge Mann blieb eine ganze Weile im Regen stehen. Sein Mantel und sein Hut schützten ihn vor den gröbsten Auswirkungen des Unwetters. Nervös fummelte er an dem Bündel herum.
Dann flog das Tor des Stalls auf und Samuel kam mit einem alten Karren herausgefahren. Das Pferd war eher ein abgemagerter alter Klepper als ein Kutschpferd. Der Karren hatte wohl auch schon bessere Zeiten erlebt. Langsam fuhr Samuel das Klappergestell neben die verfallene Schmiede.
“Da bist du ja.”, sagte der junge Mann im Mantel zu ihm. “Woher hast du denn diesen Dreckskarren?”
“Geklaut … der Besitzer braucht ihn nicht mehr?”, antwortete Samuel.
“Du … du hast Dan … Onkel Dan ...?”
“Je-ah.”, sagte Samuel gedehnt. “Es war Notwehr. Der alte Sack wollte mich mit seiner Peitsche erschlagen.”
“Das war Mord! Du hast Onkel Dan umgebracht, du Schwein!”, ereiferte sich der junge Mann im Mantel.
“Na gerade du hast es nötig dich aufzuregen!”, schrie Samuel laut.
Beide Männer sahen sich um. Sie lauschten in den prasselnden Regen hinein. Doch da war niemand und das offene Fenster nahmen sie gar nicht wahr. In diesem heruntergekommenen Kaff gab es dutzende offene oder kaputte Fenster. Das Pferd trottete ein kleines Stück weiter. Samuel hatte Mühe es zum Stehen zu bringen. Dann drehte er sich um und half dem jungen Mann im Mantel aufzusteigen.
“Das hat Onkel Dan nicht verdient.”, meinte der junge Mann.
“Er hat Mutter totgeschlagen! Er hat uns geschlagen! Er war ein Drecksschwein!”
“Die beiden Nutten waren schuld … .” , warf der junge Mann zaghaft ein.
“Pah!”, rief Samuel laut. “Den beiden Nutten hast du es ja gegeben. Aber wieso hast du die vier anderen Huren umgebracht?”
“Sei doch still! Sie wollten es so. Sie sagten es wäre für König und Vaterland. Und Stride habe ich nicht getötet. Das waren diese Zuhälter, diese fiesen Typen … .”
Samuel packte den jungen Mann und schüttelte ihn.
“Du bist doch krank, du perverser Narr!”
Der klapprige Karren schaukelte hin und her. Für einen Moment sah es so aus als wollte er umkippen. Die beiden jungen Männer kamen dadurch zur Besinnung. Der junge Mann im Mantel setzte sich friedlich auf die Ladefläche des Karrens.
“Lass uns nicht mehr schreiten.” sagte er. “Was geschehen ist, ist eben geschehen. Hast du das Geld für die Überfahrt dabei?”
“Ja, sicher. “ , brachte Samuel mürrisch hervor. “Wir werden über Liverpool nach Belfast und dann nach New York reisen. Wir haben mehr als genug Geld. Deine Freunde haben deine … ah … Arbeit sehr gut bezahlt … .”

Der Schuss peitschte laut über die leere Straße. Wie von einer unsichtbaren Faust gepackt wurde der junge Mann im Mantel von dem Karren geschleudert. Er blieb im Matsch der inzwischen völlig aufgeweichten Straße mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegen.

Samuel reagierte schnell. Karel erkannte wie erschreckend jung er war. Ein halbes Kind noch.
Er sprang vom Karren und rannte los.
Er rannte so schnell er konnte auf das offene Feld, weg von dem Haus und dem schrecklichen Scharfschützen.
Er hatte entsetzliche Angst.
Samuel warf seine Mütze weg um noch schneller rennen zu können.

Der zweiten Schuss hallte ohrenbetäubend laut über den heruntergekommenen Ort. Samuel wurde nach vorn geschleudert und blieb mit dem Gesicht nach unten im Schlamm liegen.

# # #

Karel wartete.
Er hatte Zeit.
Samuels Beine zuckten ein paar Minuten lang. Dann lag er still da.
Der zweite Mann, der junge Mann im Mantel, rührte sich überhaupt nicht.
Karel wartete noch zwanzig Minuten.
Dann ging er nach unten.

Der zweite Mann lag noch immer mit ausgebreiteten Armen da. Der Regen hatte sein Gesicht vom Dreck und Schmutz gesäubert. Es sah fast so aus als schliefe er, sogar die weit offenen Augen hatten etwas friedliches, etwas freundliches an sich. Karel konnte kaum glauben dass dies hier Jack the Ripper sein sollte. Ein Monster in Menschengestalt, ein Schlächter wie ihn die Welt nur sehr selten sah.
Aber Karel wusste zweifelsfrei dass dies der Mörder war.
Bald würden Abberline und viele andere Polizisten eintreffen.
Wie schon so oft würden sie zu spät kommen.
Karel, alias Michael Ostrog, hatte den Spuk bereits beendet. Die Anweisungen vom russischen Geheimdienstkommando waren eindeutig gewesen; Jack the Ripper finden und eliminieren. Genau diesen Auftrag hatte er gewissenhaft erfüllt. Die restlichen Verwicklungen, die Intrigen und Verschwörungen bis hinauf in das englische Königshaus, gingen ihn nichts an.

Und doch dachte Karel zurück an sein erstes Treffen mit Abberline und weiter an den Beginn seiner Mission. Ein Teil von ihm fand es bedauerlich das er nie diese Geschichte erzählen konnte. Aber der andere Teil seines Selbst, der professionelle Agent und Killer, war in Gedanken bereits bei seiner Abreise nach Russland.

Sorgfältig verstaute Karel sein Gewehr in seinem Koffer und ritt langsam aus dem Kaff. Die alte Frau, Liz, winkte ihm lange nach. Sie wusste selbst nicht so recht warum sie dies tat. Vielleicht war sie einfach glücklich dass sie die ganze Sache überlebt hatte.


* Ende *




 :)

« Letzte Änderung: 18.03.2007 16:27 Uhr von Alexander-JJ »

Offline Isdrasil

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Re: Gedanken
« Antwort #7 am: 18.03.2007 18:29 Uhr »
Genial, gefällt mir...Hut ab!  :icon_thumb: :icon_thumb: :icon_thumb:

...An dir ist aber auch ein Schriftsteller verloren gegangen - oder bist du am Ende sogar einer?  :icon_wink:

Grüße, Isdrasil

Alexander-JJ

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Re: Gedanken
« Antwort #8 am: 18.03.2007 19:05 Uhr »
Nein, ich bin natürlich kein Schriftsteller. Ich wollte und will auch keiner werden. Das Ganze ist nur ein Hobby von mir.

  :icon_aetsch:

Floh82

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Re: Gedanken
« Antwort #9 am: 19.03.2007 22:35 Uhr »
das inspiriert mich jetzt auch zu einer Geschichte...



Montague war traurig....und erzürnt. Nachdem sein Vater bereits verstorben war, wurde seine Mutter wahnsinnig. Ihre Depressionen wurden immer schlimmer und so entschlossen die Geschwister sie in ein Heim einzuweisen. Es war ein trauriger Tag für ihn, selbst das Cricket-Spielen brachte ihm keine wirkliche Freude.
An diesem Abend ging er noch in ein Lokal und trank ein paar Gläser Alkohol, bevor er nach Hause torkelte und ins Bett ging. Mitten in der Nacht wachte er auf. Er war schweiß gebadet, Alpträume hatten ihn heimgesucht und er zitterte am ganzen Leib. Er entschloss sich einen Tee aufzugießen und stand auf. Als er in seinem Sessel saß und den Tee trank, fiel sein Blick auf die Kommode neben seinem Bett. Dort in einer Schublade, lagen Andenken an seinen Vater. Eine alte Fotografie, eine Taschenuhr und ein altes Skalpell seines Vaters. Geistesgegenwärtig öffnete er die Schublade und nahm das Foto, die Uhr und dann das Skalpell aus dem Fach.
Er betrachtete das Foto, blickte kurz auf die Uhr und nahm dann das Messer in die Hand. "Wie scharf es ist? Wie es sich wohl anfühlt, wenn dieses Skalpell in Fleisch dringt? Was Vater wohl dabei fühlte?" Montague betrachtete das Messer noch eine Weile, drehte es im Flackern der Kerze hin und her und legte es dann zurück.
Er ging wieder zu Bett und schlief gleich ein.

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Er freute sich bereits diebisch über das Dinner an diesem Abend. Er hatte seine Kollegin bereits einmal eingeladen, nur hatte sie damals leider kurzfristig etwas anderes vorgehabt. Doch diesmal würde es klappen, daran glaubte er fest.
Und so kam es auch.
Sie kam zum Essen, und das Date verlief ganz wunderbar. Nach dem Essen gingen sie zu ihm und unterhielten sich. Irgendwann zeigte er ihr auch die Erbstücke seines Vaters...die Uhr, das Foto und auch das Skalpell. Er schaute ihr in die Augen, sagte ihr das er sie mag und sie lächelte. Dann legte er das Skalpell auf ihren Arm, strich vorsichtig bis hoch zu ihrer Schulter und zum Hals...sie war verwundert und erschrack als er mehr laut dachte: "Wie sich wohl anfühlt so ein Messer in Fleisch zu stechen". Er legte das Messer nun auf seinen Arm und strich darüber und pickste es ganz leicht in seinen Arm.
Sie wirkte verstört...schaute ihn erschrocken an, stand dann auf und flüchtete aus der Wohnung. Er lief ihr hinterher....aber sie wirkte so verstört, das er von ihr abließ.

Am nächsten Morgen entschuldigte er sich bei ihr. Sie nahm an...doch sagte sie dass sie nie wieder mit ihm ausgehen würde. Sie versprach ihm aber zu schweigen.

In der kommenden Nacht bekam er Alpträume....er weinte und verfluchte das Messer und schließlich die Frauen, die ihn immer wieder nur für einen guten Freund oder Kollegen hielten, nie für einen Mann fürs Leben.

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Da waren sie wieder....die Alpträume. Diesmal waren sie so schlimm gewesen, das er nicht mehr einschlafen konnte. Er trat auf die Straße und beschloss durch die Straßen Londons zu laufen.
Dieser kleine Spaziergang beruhigte ihn ein wenig....aber die Bilder kamen jetzt öfter. Und sie wurden schärfer...das beunruhigte ihn. Er hatte geglaubt endlich vergessen zu können, aber diese Bilder waren in sein Hirn gebrannt.

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Je häufiger er seinen Cousin im East End besuchte, umso besser gefiel es ihm dort. Die unzählige Masse der Menschen, die Anonymität. Hier wollte er nie leben, hier sah er das er etwas besseres war. Aber er sah auch das ganze Elend dieser Stadt...dieser Welt....dieses Lebens. Huren und Kriminelle, Freier und Alkoholiker. Der Abschaum der Zivilisation.
Manchmal erinnerte es ihn an seinen geliebten Vater, der an manchem Abend noch in das nächstgelegene Lokal ging und etwas trank. Er war für ein paar Stunden weg....immer dann wenn Mutter noch Besuch hatte. Männlichen Besuch. Wenn Vater nach Hause kam war der Besuch bereits weg und Vater war müde vom Bier das er getrunken hatte.
Sein Vater war auch in dieser Situation stets ein liebender Vater gewesen und ein Mann mit Stil und Klasse. Er war nie betrunken, sondern nur müde....er hatte nie diese eine Grenze überschritten. Die Grenze die diese Alkoholiker hier bereits überschritten hatten.

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Es war wieder eine dieser Nächte. Die Alpträume waren sehr schlimm heute Nacht. Er fuhr ins East End. Er musste dorthin, um sich besser zu fühlen. Um den Abschaum zu sehen. Diese Huren....schmutzige Frauen, die einer so billigen, so ekelerregenden, so verderblichen Arbeit nachgingen und Freiern, die nur der Lust wegen eine Frau für eine Nacht suchen. Und diese Trinker....schmutzige Gestalten, die stanken und lallten.

An diesem Abend ging er lange durch die Straßen Whitecheapels. Irgendwann...später erinnerte er sich kaum an die genaue Zeit, folgte er, bewußt oder unbewußt (selbst das war ihm danach nicht ganz klar) einer Frau. Je länger er ihr folgte, umso klammer und feuchter wurde die Hand in seiner Manteltasche, die den Dolch umschloß, den er zur Sicherheit immer bei sich führte.

Er folgte der Frau....bis in den Eingang eines Hauses, sie erschrack als er urplötzlich hinter ihr stand und die Tür aufhielt. Er lächelte sie an, dann ging alles sehr schnell.
Er nahm das Messer und rammte es mehrfach in ihren Körper. Er entsann sich später nicht mehr, wie oft er das tat und wie lange er dafür brauchte. Er wußte nur dass sie am Boden lag, blutüberströmt, als er ungesehen aus dem Haus verschwand und eiligen Schrittes seine Heimreise antrat.

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Er kam nach Hause. Halb lachend, halb erschrocken hockte er auf seinem Bett....in seiner Hand das Skalpell, das er nun statt des Dolches benutzte.
"Diesmal waren es 2" sagte er leise und sah das Skalpell ehrfürchtig an. Die Bilder verfolgten ihn immer noch, doch nun war er an der Reihe zu bestrafen. Er würde die Strafe aussprechen, die sein Vater eigentlich aussprechen hätte müssen. Er tat es mit dem Skalpell seines Vaters....so wie es sein Vater hätte tun müssen. Sie bestrafen. Den Dreck aus ihr heraustrennen. Ihr die Kehle durchtrennen, damit sie nicht weiter lügen kann. Er war Richter....für seinen geliebten Vater.

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Einige Wochen nach seinem letzten Mord, dem bisherigen Höhepunkt seiner "Bestrafung", wurde es unruhig für ihn. Er hatte seine Kollegin wieder angesprochen, das er Messerspiele immer noch bevorzuge. Es war ein Scherz...er wollte die Stimmung auflockern....doch das ging in die Hose. Diesmal erzählte die Kollegin es weiter, es sprach sich schnell herum das Montague ein kranker Mann war, der mit Messern spiele und krankhafte Phantasien ausleben möchte. Er wurde von der Schule ausgeschlossen und verlor einige Tage später alle Posten im Cricket Club...eine Katastrophe für ihn.
Hoffentlich würde niemand ihm auf die Schliche kommen.....dass er der Mörder von London ist, ein heimtückischer Serienkiller der landein, landaus gesucht wird.

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Er hatte Angst und war traurig, verstört. Die Bilder kamen immer wieder, sie wurden schlimmer, klarer und nun hörte er sogar die Stimmen und das Stöhnen.
Er hatte es nicht mehr geschafft ins East End zu fahren, die Alpträume waren zu schlimm um noch klaren Kopfes nach Whitecheapel zu kommen. Er wurde verrückt....wie seine Mutter.
Diesmal fasste er einen folgenschweren Entschluss. Er wollte nicht mit diesen Bildern leben. Er wollte nicht mit dem Wissen leben, dass seine eigene Mutter seinen geliebten Vater so hintergangen hat.
Abends, wenn er länger von der Arbeit wegblieb, noch in einem Lokal war...dann nahm sie sich die Männer aus der Gegend, manchmal völlig fremde. Sie nahm sie mit nach Hause, und dort hatten sie Sex. Als er ein Kind war, ahnte er nicht was seine Mutter tat. Sie genoss jeden dieser Männer. Sie stöhnten und juchtzen vor Lust....seine Schwestern weinten manchmal. Aus Scham, aus Angst.
Er war angeekelt und gleichzeitig fasziniert....er hatte sie einige Male beobachtet....doch was ihn am meisten verstörte, war wenn sein Vater kam. Sie küsste ihn, umarmte ihn....schmutzig und benutzt wie sie war. Es war ein widerlicher Anblick.
Diese Bilder sind nie gegangen..... nachts suchten sie ihn heim....immer und immer wieder.

Vater tat nie etwas, er wußte nie etwas....hätte er es gewußt, er war sich sicher dann hätte Vater seine Mutter bestraft....gerechtfertigterweise.

An diesem Abend weinte er. Er schrieb einen Brief, indem er erklärte er würde verrückt wie seine Mutter werden. Wahnsinnig....wie sie es jetzt war. Eine wahnsinnige Hure.

Er fuhr nach London und sprang in die Themse. Die Steine in seinem Mantel zogen ihn nach unten. Er ertrank....und mit ihm die Bilder in seinem Kopf.
Montague John Druitt war gestorben. Und mit ihm Jack the Ripper.



Offline Pathfinder

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Re: Gedanken
« Antwort #10 am: 20.03.2007 08:46 Uhr »
Nun, hier ist mein Erstlingswerk  :icon_verwirrt:


Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, kaum wahrnehmbar, aber doch so
intensiv, daß es ein Zufreidenheit zum Ausdruck brachte, welche sie seit längerer
Zeit nicht mehr verspürt hatte.

Die Kühle der Nacht umhüllte sie noch, als sie ein weiteres Stück Holz in die
schwach lodernden Flammen legte. "Es wird gleich wärmer" sagte sie, als sie sich
vor dem Kamin erhob und ihren Gast lächelnd ansah. Gleichsam spürte sie den
Blick des Gastes auf sich und gleichzeitig spürte sie einen leichten, aber nichts
desto weniger kalten Luftzug, welcher durch das gebrochene Fenster neben der Tür
den Weg zu ihr gefunden hatte. Ein Frösteln überzog ihren Körper.

Der Gast, schick gekleidet, ansehlich, anders wie die meisten Gäste, die den
Weg in ihrer bescheidenen Unterkunft gefunden hatten, blickte auf sie und erwiederte
nur ein leichtes Nicken mit dem Kopf. Obwohl der Blick ihres Gastes irgendwie
kühl auf sie wirkte, dachte sie nur an die Pennys, die sie bekommen würde.
Was solls dachte sie, hab hier schon schrägere Typen gehabt, welche nicht
so viel für ihre Dienste entlohnt hatten, als wie sie es mit diesen Gast vereinbart hatte.

Alles in allem war es für sie ein erfolgreicherTag gewesen. Sie war durch ein
Mahl mit Kartoffeln und fisch gesättigt und hatte zu guter letzt noch einen Kunden,
welcher für das Auskommen der nöchsten Tage sorgen würde.
In diesem Moment fielen ihr die Mietrückstände ein, die sich für ihre einfache
doch behagliche Unterkunft angesammelt hatten. Sie blickte sich um, der Raum
war in diesem wärmenden Halblicht gewandet, welches nur der Schein eines
Feuers und einer Kerze zustande bringen konnte. Es hatte erwärmende
Wirkung, wenn nur dieses verdammte Loch im Fenster nicht wäre.

"Möchtest du den Mantel nicht ablegen" fragte sie keck, als sie den spartanisch
eingerichteten Raum hinüber zum Bett durchquerte. Vielleicht dachte sie,
vielleicht würden noch ein paar Pennys mehr abfallen, wenn sie sich besonders
Mühe mit dem Gast geben würde. Der Gast legte seinen Mantel ab, während
sie sich ihr Oberkleid entledigte. Wenn dieses verfluchte Loch im Fenster nicht
wäre, wieder überkam ihr ein Kälteschauder, eine Gänsehaut überflutete langsam
aber intensiv ihren Körper.

In ihrem Unterkleid bekleidet ging sie zum Tisch hinüber, um die Kerze aus zu-
blasen. "Was haste denn da in dem Päckchen" gragte sie den Gast, welcher
seinen Mantel über die Stuhllehne abgelegt hatte. "Das ist etwas für dich" ant-
wortete der Gast mit einem kühlen aber nicht unsympathischen Lächeln.
"Für mich" kam es ihr verwirrt über ihre Lippen. "Ja" hörte sie den Gast sagen,
während dieser das Päckchen ausrollte. Ihr Herz schlug vor freudiger Erwartung
schneller, sie konnte ihr Glück, welcher der heutige Abend ihr bescheren sollte
nicht fassen. Sie nahm sich vor, den Gast besonders zu verwöhnen.

Etwas blitze im Schein der Kerze, welche sie eigentlich Löschen wollte.
Zuerst dachte sie eine Silberkette bevor sie erkannte was dies für ein Gegenstand
war. Sofort wurde ihr bewußt, wer ihr Gast ist, "Oh Mörder" hörte sie sich noch
sagen, dann wurde es kälter und eine dunkelheit überkam sie.

Die Kerze brannte weiter, ihre Flamme flackerte im Luftzug, welcher sich
immer noch seinen Weg durch den Raum bahnte.
UND ER WAR ES DOCH !!!!!!!!

Offline Isdrasil

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Re: Gedanken
« Antwort #11 am: 20.03.2007 13:23 Uhr »
Hey, das wird ja immer besser  :icon_mrgreen:

Ein großes Lob an Euch beide, wirklich klasse.  :icon_thumb:

Freut mich auch, dass dieses Thema doch so viel Anklang findet – hätte ich nicht gedacht.  :icon_mrgreen:

Grüße, Isdrasil

Alexander-JJ

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Re: Gedanken
« Antwort #12 am: 20.03.2007 15:18 Uhr »
Ja, wirklich toll. Ganz großes Lob an die neuen Storyschreiber.

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Und an die alten auch (vor allem an mich selbst) ...

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Offline Pathfinder

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Re: Gedanken
« Antwort #13 am: 20.03.2007 16:38 Uhr »

danke für die blumen und ich bitte die schreibfehler :icon_redface:  zu entschuldigen, wollte den text editieren, geht aber nicht mehr  :icon_rolleyes:
UND ER WAR ES DOCH !!!!!!!!

Offline Isdrasil

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Re: Gedanken
« Antwort #14 am: 28.03.2007 18:54 Uhr »
Für Merrick

„Could I create myself anew,
I would not fail in pleasing you..“

Joseph las sich die Zeilen immer und immer wieder durch. Wie oft schon hatte er sich gewünscht, den Ansprüchen Anderer gerecht zu werden und nur einmal in ihrer Mitte zu stehen. Doch Joseph stand am Rande der Gesellschaft – womöglich sogar noch ein Stückchen weiter davon entfernt.
Er stand auf und ging an sein Bett. Behutsam legte er das Kissen zurecht. Noch einmal musste er an die Menschen denken, die ihn damals durch die verdreckte Glasscheibe betrachtet hatten und angewidert ihre Gesichter verzogen. Wie traurig es doch ist, dass Menschen die Welt nur mit den Augen sehen…

Es gab nicht viele, die Joseph wohlwollend gegenüber standen. Doktor Treves war einer dieser wenigen Menschen, zu denen Joseph eine Art Freundschaft aufgebaut hatte. War Treves` Interesse an Merrick zu Beginn nur wissenschaftlicher Natur, so hatte dieser doch mit jedem neuen Tag den Menschen hinter der Maske kennengelernt und schätzte inzwischen Merrick`s hintergründige und unschuldige Sichtweise auf das Leben. Oftmals besuchte ihn Treves in seinen Räumen im Londoner Hospital, um mit ihm über die Existenz oder einem neuen philosophischen Werk zu diskutieren – es gab ihm den nötigen Abstand zu den Grausamkeiten, die hier ein Arzt alltäglich zu Gesicht bekam.
Auch der neue Assistenzarzt aus den USA, Dr. Timothy Goldstein, hatte einen Platz in Merrick`s Leben erhalten. Er war im Spätsommer 1888 von Chicago nach London gezogen – und war von Anfang an ein sehr offener und freundlicher Mann gewesen.
Merrick konnte sich noch genau an eine Situation erinnern, als ihm wie so oft einmal der Lebensmut abhanden kam und er gedankenverloren durch die Scheibe auf die Wolken stierte, die dunkel ihren Weg über das aufgerüttelte London suchten. Herr Goldstein klopfte an die Tür, und trat hinein zu Merrick. Als Goldstein Merricks Kummer sah, setzte er sich neben ihn auf die Bettkante und stierte mit ihm hinaus. Nach einigen endlosen, schönen Sekunden sagte er in leisem Ton:
„Joseph – du bist nicht das Monster. Du kannst mir glauben, ich bin ein freier Mann, sehe nicht schlecht aus und bin zudem noch ein Arzt und sollte von jedem begehrt werden. Doch auch ich fühle mich manchmal verloren und von den Frauen verwehrt. Nein, Joseph, dort draussen gibt es noch andere Monster, die viel grausamer sind als du es dir vorstellen kannst.“
Dr. Goldstein hatte die Angewohnheit, Merrick`s Gedanken wie ein offenes Buch zu lesen.
„Weißt du, Joseph, wenn man nur könnte, wenn man wirklich könnte, dann müsste man all diese Monster aus dieser Welt verbannen und ihnen einen neuen Platz in der Hölle zuweisen.“ Goldstein hielt kurz inne und seufzte leicht. „Doch leider kann man nicht alle Monster aus dieser Welt verjagen…“.
Merrick blieb still. Er mochte es, anderen Menschen zuzuhören. Es geschah viel zu oft, dass nur er reden musste und sich rechtfertigte und verteidigte – es war einfach schön, wenn ihm Menschen etwas erzählen wollten. Ihm, Merrick. Das war einfach zu schön…
Goldstein nahm den kleinen Bilderrahmen in die Hand, in dem Merrick`s Gemälde einer jungen, rothaarigen Frau eingerahmt war. Sorgsam hatte Joseph das Portrait einer Fantasiefrau gemalt, einer wunderschönen Prinzessin. Oftmals schaute er das Bild an und versuchte zu weinen. Der Doktor sah das Bild lange an. Dann blickte er zu Merrick - und wieder aus dem Fenster hinaus. Als langsam dicke Tropfen englischen Regens auf die Stufen der Treppe vor dem Fenster schlugen, sagte er leise:
„Du wünschst dir bestimmt auch manchmal, deine Monster verjagen zu können…“.
Goldstein stand auf und ging hinaus.
Joseph schaute noch lange auf das Bild und aus dem Fenster hinaus…

--------

Der 10. November 1888 bescherte Merrick einen Schicksalsschlag, den er so schnell nicht vergessen sollte. Herr Goldstein, einer seiner wenigen Freunde, war wieder in die USA abgereist, um seine Studienergebnisse an der Universität in Chicago zu präsentieren. Lange suchte er sich Trost bei Dr. Treves und sprach mit ihm bis in die Nacht hinein. Die Nachricht eines neuen, grausamen Mordes an einer jungen Irin namens Mary Kelly nahm er nur am Rande war. Die ganze Zeit hatten ihn die Morde sehr interessiert und Merrick empfand für den gefürchteten Jack the Ripper nichts als blanken Hass. Nun liess es ihn außerordentlich kalt – und dies, obwohl dieser Mord nicht mehr mit der Tat eines Menschen vergleichbar war und von den Medien als „Werk des Teufels“ bezeichnet wurde. Der Mörder hatte einige Hinweise hinterlassen – es schien, als habe Kelly ihn gekannt, und an der Wand hinter dem Bett der Ermordeten fand man zwei Buchstaben mit Blut geschrieben: „FM“.
Merrick aber saß nur in seinem Raum und dachte an seinen Freund Goldstein - die Sehnsucht nach ihm und den langen und tiefsinnigen Gesprächen sollte ihn noch lange Zeit verfolgen.

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Nachdem Merrick wieder aus seinen Gedanken zurückgekehrt war, strich er die Bettdecke so gut es ging gerade. Ein kleiner Zipfel des Bettlakens hing auf den Boden hinab. Joseph versuchte, das Laken wieder zurück auf das Bett zu ziehen, und in dem Moment, als er zur Seite gehen wollte, geschah es:
Joseph trat mit dem einen Fuss auf den Zipfel, verhackte sich mit dem Anderen derart an dem Bettlaken, dass er das Gleichgewicht verlor und fiel kopfüber auf das Bett.
Das Gewicht seines deformierten Körpers zwang ihn sofort auf die Matraze. Hilflos zappelte er mit den Beinen und den Armen umher. Sein schwerer Kopf drückte immer stärker auf seine Luftröhre. Merrick versuchte, um Hilfe zu schreien, etwas nach der Türe zu schmeißen, doch weder wurde er erhört noch fand sich etwas geeignetes zu werfen. Die Luft wurde ihm knapp. Langsam aber sicher schwanden ihm die Sinne.

Und gerade, als Merrick begriff, dass sein Ende gekommen war, musste er noch einmal an Goldstein denken – und urplötzlich erfasste ihn eine grausame Gewissheit, die er lange verdrängt hatte: Goldsteins lachendes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, mit einem abscheulich wahnsinnigen Blick, und er hörte eine verzerrte Stimme aus den Tiefen seiner Erinnerung sagen: „dort draussen gibt es noch andere Monster - wenn man wirklich könnte, dann müsste man all diese Monster aus dieser Welt verbannen und ihnen einen neuen Platz in der Hölle zuweisen.“ Und in diesem kurzen Moment sah er eine Vision von Mary Kelly`s verstümmelter Leiche, und Goldstein, der mit blutigen Händen über sie gebeugt zwei Buchstaben an die Wand schrieb: „FM“.
Für Merrick.
Joseph war tot.
« Letzte Änderung: 28.03.2007 19:06 Uhr von Isdrasil »