@Angel: Ich will dir auch nochmal die Anfangsfrage beantworten.
Halte ich also solch eine Mordserie wie damals in London auch heute noch für möglich?
Ich denke, hier muss man eine Differenzierung vornehmen:
Die Morde an sich, also die Ausführung, halte ich natürlich heute noch für möglich, und sie geschehen in regelmäßigen Abständen rund um den Globus. Das Aufschlitzen der Opfer scheint eine zeitlose Fantasie zu sein, die sich losgelöst von gesellschaftlichen und kulturellen Umständen in der Psyche mancher Menschen einnistet. Dies liegt wohl daran, dass gerade das Ausweiden des Opfers ein Vorgang ist, der uns Menschen in der gesamten Evolutionsgeschichte begleitet hat und unabdingbar für ein Bestehen in der Natur ist. Die Unterschiede zwischen einzelnen Tatfantasien erkennt man im Vergleich: Hat ein Täter zum Beispiel die Fantasie, seinem Opfer eine Kugel in den Kopf zu jagen, so ist diese Fantasie relativ „modern“ und eine Weiterentwicklung alter Instinkte und Triebe. Hier gibt es durchaus gesellschaftliche Unterschiede.
Deswegen denke ich, dass die Verstümmelung und die Ausweidung der Opfer extrem tief im Unterbewusstsein des Täters verankert sind.
Solche tiefen Fantasien wird es immer geben, solange es uns Menschen gibt, und selbst in ihrer Ausführung werden sie sich nicht großartig verändern. Es wird immer den Täter geben, der in direktem Kontakt zum Opfer treten muss, der daher die Anonymität sucht und bewahren möchte (daher auch selten das Opfer persönlich kennt), der wissen muss, dass ihn gerade das Ausweiden erregt, und der die Tat ausüben wird, während das Opfer höchstwahrscheinlich auf dem Boden liegt, einem neutralen und anonymen Boden. Auch wenn das aufgrund der Öffentlichkeit der Rippermorde paradox klingen mag, die Anonymität ist in meinen Augen auch ein wichtiges Kriterium für den Ripper, und Entpersonifizierung spielt bei dieser Art von Taten eine große Rolle. Morde dieser Art im unmittelbaren persönlichen Umfeld stellen eher die Ausnahme dar (es ist natürlich auch eine Frage der Täterperson an sich, inwieweit sie sich von den anderen emotional abgrenzen kann). Deshalb erkläre ich mir auch bei Kelly die extrem anmutende Ausführung der Tat und gerade die Gesichtsverstümmelungen durch einen Hauch zuviel „erlebte Persönlichkeit des Opfers“. Da steckt viel Wut mit drin, dass die Tat diesmal nicht zu einer für den Täter als anonym empfundenen Situation auf offener Strasse führte.
Jedenfalls gibt es diese Morde oft genug, und sie finden auch heutzutage noch auf offenen Straßen oder Feldwegen statt, und auch heutzutage sind die Opfer dem Täter unbekannte Prostituierte, Anhalterinnen oder Menschen, mit denen man in der Anonymität des Internets äußerst schnell Treffen arrangiert hat (ein zu langes Warten würde wieder zuviel Persönlichkeit bedeuten). Die Morde an sich sind also durchaus heute noch möglich, denn sie finden statt und gehören zu einer Grundkategorie von Mordausprägungen. Auch in den heutigen Großstädten halte ich dies für möglich, wenn sich die Taten auch stärker nach außen (in Randgebiete, Stadtparks etc.) verlagern, was einfach an veränderten urbanen Gewohnheiten („the city never sleeps“) und gewachsener Mobilität liegt.
Dann wären da noch die Ereignisse nach der Tat: Die Ermittlungsarbeiten, die Aufklärung.
Hier gab und gibt es immense Fortschritte, und bei diesem Punkt fasse ich mich mal kurz: Ich denke, es werden heute tatsächlich bedeutend mehr Morde aufgeklärt, innerhalb Deutschlands schreitet die Verknüpfung einzelner Bundesländer stark voran, der nächste Schritt Europa wird wohl auch immer weiter ausgebaut. Also halte ich eine ungeklärte Mordserie in einem solch kleinen Gebiet einer Großstadt für unwahrscheinlich.
Die Morde könnten wohl wieder geschehen, auch wenn die Täter natürlich dazulernen und weiter streuen etc, aber die Rippermorde 1:1 auf heutige Verhältnisse übertragen würden wohl (auch von offizieller Seite) aufgeklärt werden.
Grüße, Isdrasil