Hallo,
zunächst einmal vielen Dank, daß ihr es auf euch nehmt, eine so ausufernde Argumentation zu studieren. Danke auch für eure Einwände.
Rolf:
Maria Harvey sagt u.a. im Inquest aus. Ihre Zeugenaussage ist auch eine von jenen, die am Mordtag im Hof von Miller's Court aufgenommen wurde. Sie stand also wahrscheinlich auch dort herum, wie auch Elizabeth Prater. Maria Harvey hat übrigens nicht mehr bei MJK gewohnt, und auch nicht Julia VanTurney (vgl. Inquest und The Complete History of Jack the Ripper, S. 326-328). In der Tat war diese Nacht die erste seit Wochen, wahrscheinlich seit Monaten, in der sie alleine war (EDIT: Dies schließt Freier nicht mit ein).
Scharfnase:
Ich gehe bei dem armen Schwein von Redlichkeit aus. Und garantiert hat er sich in diesen Sekunden keine Gedanken um Verdachtsmomente und Rechtsdetails gemacht (so er sie denn kannte). Er wollte das hinter sich bringen, ganz schnell.
Es reicht die Statur, Haarfarbe, Augenfarbe, die Beschaffenheit der Haut und vielleicht eine vertraute Stelle irgendwo mit einem Leberfleck. Gerade ihre Arme waren ja noch voll intakt.
RICHTIG, gut erkannt. Es gab Möglichkeiten der ID, aber er hat sie aber nun einmal nicht an Leberflecken, an Statur oder an ihren Armen identifiziert, sondern allein an Haaren (Ohren) & Augen. Gerade das ist das entscheidende Indiz für das angegebene Szenario eines kurzen, oberflächlichen Blicks zur ID. Was er sah, deckte sich mit seinen schlimmsten Befürchtungen, und der Anblick war aufgrund äußerer Details so vertraut, daß Angst zur Gewißheit wurde.
Alle:
Die bereits oben zumindest als sehr begründeter Verdacht geäußerte Schlußfolgerung einer Identifikation in situ wird von Barnetts Aussagen selbst gestützt (zitiert nach James Tully, The Secret of Prisoner 1167.Paperback Edition, London: Robinson, 1998, S. 249). Dies wird auch von anderen Autoren behauptet, die sich aber dann, anders als wir hier, leider nicht um Quellenangaben scheren (z.B. Paul Harrison, "Catch me when you can." In: Maxim Jakubowski, Nathan Braund (eds) The Mammoth Book of Jack the Ripper. London: Robinson, 1999, S. 201).) Deduktion aus zeitgenössischen Berichten und aus Barnetts Aussagen machen eine in-situ-Identifikation fast zur Gewißheit.
Barnett mußte sich das Schlachthaus ansehen.
Wenn wir uns das vor Augen führen, müssen wir uns auch vorstellen, was in Barnett passiert sein muß, um diese "Identifikation" bewerten zu können. Und dazu möchte ich anmerken - und das jetzt nicht in den falschen Hals kriegen, das soll keine Crazy-Diskussion werden -, daß die Rationalisierung von Barnetts Gefühlswelt und Entscheidungsmöglichkeiten, wie Scharfnase und Rolf sie vornehmen, ein wenig an Weltfremdheit krankt.
Barnett wird vollkommen unvermittelt in eine der grauenvollsten Situation geschleudert, die sich ein Mensch vorstellen kann. Auf dem Weg zum Tatort baut sich ängstliche Spannung auf, nachdem sein Schwager ihm vermutlich schon erzählt hat, daß man Mary Jane ermordet hat (vgl. Barnetts Aussage in Tully, a.a.O., S. 249), der Name der Toten ist garantiert auch aus der Menge um Miller's Court zu hören, aus Angst wird Panik (davon ausgehend, daß Barnett MJK wirklich liebte). Er ist kein intellektueller Goliath, er ist ein East Ender, ein (ehemaliger) Arbeiter in den Fischmarkthallen, seine formale Bildung beschränkt sich auf etwas Lesen, Schreiben und Rechnen, Autoritätspersonen, die man mit einem unterwürfigen "Sir" anspricht, führen ihn mit grimmiger Miene in das Zimmer (die Polizei hatte ihn ja schon auf der Liste). Er ist eingeschüchtert, verängstigt und dann sieht er.... das.
Wird ernsthaft erwartet, daß er nun cool in diesen zerschmetterten Resten eines geliebten Menschen wühlt, um einen Leberfleck zu suchen? Gar einige der Stücke auf dem Nachttisch in die Hand nimmt, um sie auf Vertrautheit zu untersuchen? Oder sich, während er sich zwingt zumindest kurz in dieses zerfetzte Elend von Gesicht zu starren, überlegt, wie er einen evtl. Verdacht von sich ablenken kann? Nein, die Angst wird zur Gewißheit, ein flüchtiger Blick am Eingang bereits bestätigt die schlimmsten Erwartungen, das Hemd, die Haare, in Dir stirbt etwas, Du willst nur noch raus hier, lieber Gott laß es enden....
In diesen Sekunden hat Barnett gar nichts überlegt. Und er hat nichts bewußt gesehen. Und so bestätigte er die Identität von Mary Jane Kelly, weil er sich sicher war, daß sie es ist. Es gab ja für ihn auch keinen Grund, dies anzuzweifeln.
Als Aussage aber ist dies aufgrund der Umstände wertlos. Nochmals aber auch: das heißt nicht, daß es sich bei der Leiche nicht um MJK gehandelt haben kann, sondern nur, daß Barnett keine gültige Identifikation vorgenommen hat.
CB