Je mehr Gegenargumente, desto besser. Falls dieses kleine Gedankenspiel hier nach ordentlichem Feuersturm durch euch immer noch schwimmfähig ist, dann ist wohl was dran. Aber erst einmal muß es da durch, daher wiederum danke für das ordentliche Futter. Also -
ESM: Kelly ist nicht nur von Barnett identifiziert worden, sondern auch von diversen anderen Leuten. Aller Wahrscheinlichkeit nach auch von Hutchinson.
Hutch weiß ich jetzt wirklich nicht, da wär ich für Näheres dankbar. Da ich ihn ernst nehme (was, wie ich weiß, nicht jeder tut), könnte seine positive ID alleine das hier versenken. Also, wenn Du was genaues findest, bitte gib mir Bescheid.
Ganz sicher hat auch sie auch MacCarthy "identifiziert" - wobei er sich selbst ad absurdum führt. Darauf bin ich schon eingegangen, aber der Bequemlichkeit halber noch einmal. Auf der einen Seite gibt er in der Times (10.11.1888) zu Protokoll: "The woman's nose had been cut off, and her face gashed beyond recognition." Andererseits sagt er dann im Inquest: "I knew the deceased as Mary Jane Kelly, and had no doubt at all about her identity." (Daily Telegraph 12.11.1888). In beiden Fällen bezieht er sich auf die vorläufige ID am Tatort, und die Aussagen sind diametral entgegengesetzt. Es ist einer der vielen Widersprüche, die der Coroner im Inquest nicht aufgeklärt hat. Aufgrund dieses sehr krassen Gegensatzes, können wir mit dieser Aussage nichts anfangen. Der Zeuge widerspricht sich zu 100%.
ESM: Ich glaube kaum, dass die Polizisten Barnett den ganzen "Fleischklumpen" zugemutet haben (dafür gab es ja zunächst auch mal gar keinen Grund), sondern vermutlich alles abgedeckt haben außer das Gesicht (so wie es auch heute bei Identifizierungen normalerweise gemacht wird). Es gab für Barnett also gar keine andere Möglichkeit, als sie durch Merkmale am Gesicht zu erkennen.
Das war auf alle Fälle das Standardprocedere für normale Zeugen, und es ist auch hier die wahrscheinliche Form der Durchführung. Andererseits war Barnett zu diesem Zeitpunkt kein "normaler Zeuge" mehr, sondern in den Augen der Polizei ein Verdächtiger. Ich bin da etwas unentschlossen, neige da aber Deiner Schilderung zu.
ROLF: Du machst jetzt genau das, was du sonst bei anderen immer als übereilt aufdeckst und widerlegst. Du spekulierst darüber, warum Barnett nicht in der Lage gewesen sein könnte, Mary tatsächlich zu identifizieren.
Was tue ich hier: Ich versuchte initial nicht zu "beweisen", daß Barnett nicht in der Lage war, Mary zu identifizieren, sondern zu ergründen, wie wir Barnetts Aussage, die ja eine Quelle ist, zu werten haben. Wenn wir nun anfangen, diese Quelle zu studieren, stellen wir sofort fest, daß sie in einem massiven Konflikt zu einer anderen Quelle steht (eigentlich zwei anderen Quellen), nämlich Mrs. maxwell's Aussagen. In diesem Moment müssen wir die Quellen gegeneinander abwägen. Wenn Du Barnett als "wahr" akzeptierst, dann wertest Du gleichzeitig Mrs. Maxwell als "falsch". Aber mit welcher Begründung unterstellst Du Mrs. Maxwell eine wie auch immer motivierte fehlerhafte Aussage? Maxwells Aussage wir immer mit Barnett entwertet, aber welche Gründe haben wir dafür, seine so ganz automatisch der ihren vorzuziehen? Das sind die Fragen, die ich in jeder Quellenlektüreübung stellen muß.
Vor diesem Hintergrund habe ich die Standardfragen an zunächst an die erste Quelle gelegt: Wer, wann, was, wie (referring to frame of mind) und warum. Auch mit Mrs. Maxwell Aussage wird das noch geschehen müssen. Zunächst habe ich gefolgert, aus belegbaren Tatsachen, daß die ID in einer psychischen Ausnahmesituation Barnetts zustandekam und daher mit Vorsicht zu genießen ist. Mehr nicht. Ich habe mehrfach daraufhin gewiesen, daß dies allein nicht ausreicht, zu sagen, es sei nicht MJK gewesen. Wirklich, Rolf, das habe ich in zwei Posts zur Barnett-ID gesagt: "Nochmals aber auch: das heißt nicht, daß es sich bei der Leiche nicht um MJK gehandelt haben kann." und vorher bereits: "Daß Barnett wiederum meiner Meinung nach gar nicht sicher gewesen sein kann, wessen Leiche ihm da gezeigt wurde, bedeutet im Umkehrschluß nicht, daß er automatisch falsch lag."
ROLF: "Ob er z.B. dazu neigte, den Ermittlern nach dem Mund zu reden, weil er sie in der gesellschaftlichen Hierarchie über sich stehend einstufte."
Das "nach-dem-Mund-reden" stammt nicht von mir. Ich sprach davon, daß Barnett durch die Gegenwart von Autoritäts- oder meinethalben auch "Respektspersonen" wie Dr. Bond, Dr. Phillips, Superintendent Arnold "eingeschüchtert und verängstigt" wurde. Das ist eine vollkommen legitime Deduktion aus gleich vier belegbaren Faktoren: 1. Barnetts Stand 2. Stand der anwesenden Personen 3. Wertigkeiten des sozialen Standes in England 1888 4. Die Gesamtsituation in Miller's Court.
ROLF: "Deine Annahmen mögen ja durchaus richtig sein, aber mit Bestimmtheit kann man das nun wirklich nicht sagen. Ich habe ja selbst eingeräumt, dass Barnett durch den Anblick der Leiche -vermutlich der geliebten Mary- vollkommen verstört gewesen sein könnte und sie allzu schnell und ohne genaues Hinsehen identifizierte. Aber ob das tatsächlich der Fall war, ist nur zu vermuten. Wir wissen auch nicht mit Bestimmtheit, welche Charakterzüge Barnett hatte und wie er auf die Konfrontation mit der Polizei reagierte."
Mit Bestimmtheit sage ich es nicht für Dich oder jemand anderem außer mir. Ich bin zu diesem Schluß gekommen aufgrund des vorliegenden Materials. Leider ist das natürlich in letzter Konsequenz eine Spekulation, aber ich habe versucht, es so zu halten, daß es mit dem, was wir über Barnett wissen (was sehr wenig ist), übereinstimmt. Hier galt es Wahrscheinlichkeiten abzuwägen. Daß ein Barnett, von begrenztem Bildungsstand (das wissen wir), "niederer" Herkunft (dito) und unverhofft in die gegebene Situation (die ich nicht spekuliert, sondern belegt habe) geworfen, eher so reagiert wie beschrieben (voll Angst und Grauen), als daß er cool eine ID vornimmt, ist glaube ich im vertretbaren Rahmen, zumal es die einzige Extrapolation im Gesamtkontext ist, die ich mit den vier o.a. belegbaren Grundlagen des Rückschlusses auch noch unterfüttern kann.
ROLF: Das ergibt aber doch nur einen Sinn, wenn du eine schlüssige Theorie hast, wer denn sonst in ihrem Zimmer war und ihr zumindest so ähnlich sah, dass ein sehr enger Freund sie fälschlich als Mary Kelly identifizierte.
Richtig. Erst sehe ich nach, wie es sich mit dem verhält, was wir zu wissen glauben, sollte sich das als falsch herausstellen, dann erst muß ich die Konsequenzen untersuchen. Der umgekehrte Weg - ich bastele mir eine Theorie und sorg dafür, daß die Beweise (eher Indizien) passen - führt dazu, voreilig zu sagen "Case closed".
Grüße CB