Bevor ich mich für die nächsten tage in die Höhlen verabschiede ein oder zwei Gedanken:
Zwei Zeugen, Caroline Maxwell und Maurice Lewis , gaben an, Mary Jane Kelly, wie wir sie vorerst weiterhin nennen wollen, nach ihrem vermeintlichen Tod gesehen zu haben. Maurice Lewis war gar nicht erst vor den Inquest geladen worden. Carolin Maxwell wurde indes von Dr. Macdonald, dem Untersuchungsrichter, auf seine unnachahmliche Weise „befragt“: „Sie sind besser sehr vorsichtig mit Ihren Aussagen, denn sie weicht von der anderer Leute ab.“ Die Aussage von Mrs. Maxwell in Bezug auf Mary Jane Kelly lautet:
Macdonald Sie sahen an der Ecke des Eingangs zum Hof stehen?
Maxwell Ja, am Freitagmorgen, von acht bis halb neun Uhr. Ich bestimme die Zeit, als mein Mann seine Arbeit beendet hat. Als ich das Lodging House [gegenüber Miller’s Court, wo er arbeitet] verließ, war sie gegenüber.
Macdonald Haben Sie mit ihr gesprochen?
Maxwell Ja, es war ungewöhnlich, sie zu dieser Zeit auf zu sehen. Sie war eine junge Frau, die sich mit niemandem einließ. Ich sprach über die Straße „Was bringt dich so früh raus, Mary?“ Sie sagte: „Oh, Carrie, ich fühle mich so schlecht.“
Macdonald Und obwohl Sie sagen, Sie hätten Sie nur zweimal vorher gesehen, kannten Sie ihren Namen und sie den Ihren?
Maxwell Oh ja, durch meine Anwesenheit im Lodging House.
Macdonald Was sagte Sie?
Maxwell Sie sagte: „Ich hatte ein Glas Bier und habe es wieder erbrochen“; und es war auf der Straße. Ich nehme an, sie war im Brittania an der Straßenecke gewesen. [...] Später sah ich sie außerhalb des „Brittania“ [eines Pubs], wie sie mit einem Mann sprach
Macdonald: Das wäre wann gewesen?
Maxwell: Etwa neun Uhr [...]
Sie ist bereit, ihre Aussage zu beeiden und tut dies auch.
Carolin Maxwells Aussage läßt sich mit allen anderen Zeugenaussagen in Übereinstimmung bringen, ohne jede Einschränkung, denn da kein anderer Zeuge behauptet, Mary Jane Kelly zur angegebenen Zeit an einem anderen Ort gesehen zu haben, kann es auch den von Macdonald behaupteten „Widerspruch“ nicht geben – ergo hat Macdonald ein weiteres Mal gelogen, wahrscheinlich um die Zeugin einzuschüchtern. Alle Zeugenaussagen in der Zusammenschau ergeben folgenden Ablauf der verhängnisvollen Nacht.
20:00 Ca. gegen 20:00 verläßt Joseph Barnett Mary Jane Kelly nach einem Besuch. Maria Harvey ist zu diesem Zeitpunkt noch anwesend. Harvey verläßt Mary Jane kurz darauf.
2:45 Mary Ann Cox sieht sie als nächstes um 23:45, als sie betrunken mit einem Fremden nach Hause geht. Nach einem kurzen Gruß schließt der Begleiter die Tür zu Marys Zimmer. Mrs. Cox hört sie danach singen .
01:00 Das Singen ist immer noch zu hören, als Mrs. Cox Millers Court wieder verläßt. Außer Mrs. Cox hat nur Catherine Picket das Singen um 00:30 wahrgenommen, als ihr Ehemann sie davon abhielt, sich zu beschweren.
01:20 Mrs. Elizabeth Prater kehrt heim, das Zimmer von Mary Kelly ist dunkel, kein Singen ist mehr zu hören.
02:00 Um 2:00 trifft George Hutchinson einige Minuten von Miller’s Court entfernt Mary Jane. Nach einer kurzen Unterhaltung trennen sie sich, und Mary Jane wird von einem Fremden angesprochen, der sie in ihre Wohnung begleitet. Hutchinson folgt den beiden und beobachtet Marys Zimmer, im Hof von Millers Court stehend.
02:30 Während Hutchinson im Hof steht, beobachtet Sarah Lewis einen weiteren Fremden mit breitkrempigem Hut gegenüber Millers Court, der zu beobachten scheint.
03:00 Hutchinson geht nach vergeblicher Wache weg. Mary Ann Cox kehrt indes ebenfalls zurück und berichtet, alles sei dunkel und ruhig gewesen.
03:30 Mrs. Prater hört ein leises “Oh, murder”.
04:00 Miss Lewis hört ein lautes „Oh, murder“.
05:00 Mrs. Prater sieht “einige Männer Pferde anschirren“.
06:15 Mrs. Cox hat einen Mann auf leisen Sohlen durch den Hof gehen hören, kann aber nicht ausschließen, daß es sich um einen Polizisten auf Streife gehandelt hat.
Eine Widerspruch liegt offenkundig nur dann vor, wenn man darauf besteht, daß das Opfer in Nr. 13 Miller’s Court tatsächlich Mary Jane Kelly gewesen ist, und der einzige Zeuge, der das behauptete, war Joseph Barnett. Es ist unbestreitbar eine Frau zwischen 3:30 und 6:00 in diesem Zimmer zerfleischt worden, aber daß es Mary Jane Kelly war, dafür spricht nur Barnett’s Identifikation.
Auch wenn Macdonald der Aussage von Mrs. Maxwell quasi keine weitere Beachtung schenkt, so ist z.B. Inspector Abberline durchaus nachdenklicher gewesen, der die Aussage bezüglich der Bewegungen und Handlungen von Mrs. Maxwell an diesem Morgen in jedem Detail bestätigen konnte . Weder eine intensive Befragung durch die Polizei im Vorfeld der Untersuchung, noch das massive Angehen durch Macdonald während der Voruntersuchung konnte sie von ihrer Aussage abbringen, die sie im übrigen unverändert aufrechterhielt.
Einige Punkte werden immer wieder aufgebracht, die Mrs. Maxwells Aussage diskreditieren sollen. Zum einen habe niemand ihren Austausch mit Mary Jane Kelly bemerkt – die Straßen waren voll potentieller Zeugen, denn es war 08.15 und die Lord Mayors Day Parade stand bevor. Es handelte sich dabei aber um Fremde, die keinerlei Anlaß hatten, die beiden zu bemerken.
Die Angaben über das Biertrinken Kellys im Brittania konnten von der Polizei nicht bestätigt werden, lautet ein weiterer Einwand. Sehr wahr, aber Kellys Besuch im Brittania hatte sie nur vermutet, nicht als Tatsache behauptet („Ich nehme an, sie war im Brittania an der Straßenecke gewesen.“).
Und daß sie nur so wenig Kontakt mit ihr gehabt hatte, was schon Macdonald zur Diskreditierung einzusetzen versuchte, spricht eigentlich nur für sie. Die Tatsache ein weiteres, drittes Gespräch mit Mary Jane Kelly geführt zu haben, sollte es erschweren, Tag oder Inhalt oder Zeit des Gespräches mit einem anderen zu verwechseln. Und zum ersten Zeitpunkt ihrer Aussage waren erst wenige Stunden vergangen, seit dem sie das fragliche Gespräch geführt haben will.
Für die Aussage spricht ferner, daß die Beschreibung von Mrs. Cox bezüglich der Kleidung von Mary Jane in dieser schicksalhaften Nacht weitgehend mit der von Mrs. Maxwell übereinstimmt.
Cox: Sie hatte keinen Hut, einen roten Überwurf und einen schäbigen Rock. [....]
Maxwell: [Sie trug] einen dunklen Rock, einen „Samtbody“, einen kastanienbraunen Schal und keinen Hut.
Ein kastanienfarbener, als rötlicher um die Schulter geschlungener Schal kann in der Dunkelheit (Mrs. Cox spricht von Mitternacht) schon für einen roten Überwurf gehalten werden, und beide Zeuginnen beschreiben den für damalige Sitten und Gebräuche ungewöhnlichen Zustand, daß Mary Jane Kelly keinen Hut trug.
Einen weiteren Funken Glaubwürdigkeit erhält Mrs. Maxwells Aussage jedoch in Verbindung mit einer zweiten Aussage, die erst nach ihrer gemacht wurde. Mrs. Maxwell beschrieb, daß Mary Jane Kelly krank aussah, und das nicht vom Alkohol; wie deutlich aus dem hervorgeht, hielt sie Kelly an diesem Morgen nicht für betrunken, sonst hätte Macdonald kaum gefragt, ob sie Kelly jemals betrunken gesehen hätte. Mrs. Maxwell antwortete, sie hätte, aber Kelly sei nicht als Trinkerin bekannt gewesen . Mary Kelly war tatsächlich krank. Es war November, Nässe, Kälte, geschwächte Abwehrkräfte und fiebrige Augen sind Indizien für einen grippalen Infekt.
Und hier kommt die Aussage von David Hutchinson ins Spiel. Inspektor Abberline hielt ihn für sehr vertrauenswürdig, denn er war freiwillig, nach langem Zögern an die Polizei herangetreten, wohl wissend, daß die nächtliche Schleicherei ihn sehr verdächtig machen würde. Trotzdem sagte er aus, um den Ermittlern zu helfen. Und er sah etwas außerordentlich Faszinierendes: „[Kelly] sagte, sie habe ihr Taschentuch verloren. [Der Fremde] zog dann sein Taschentuch, ein rotes, heraus und gab es ihr.“
Wozu braucht man ein Taschentuch, denn um Tränen zu trocknen oder die Nase zu schneuzen, wenn man krank ist?
Seit 116 Jahren also nehmen die meisten Autoren an, die als Mary Jane Kelly bekannte Frau sei in den frühen Morgenstunden in ihrem Bett viehisch dahingeschlachtet worden. Alles, was sie als Beweis dafür haben, daß die Ermordete tatsächlich Mary Jane Kelly war, ist Joseph Barnetts Aussage:
"Ich habe den Leichnam gesehen und identifiziere ihn anhand der Ohren und Augen, die das einzige sind, was ich erkennen kann; aber ich bin sicher, das es dieselbe Frau ist, die ich kannte."
Barnett, dem Alkohol nicht abgeneigt, mag zwar einige Monate mit ihr gelebt haben – oder auch nicht -, aber die Identifikation im Rahmen dieser hastig dahingeschluderten Voruntersuchung ist genauso zweifelhaft, wie Barnetts Verhältnis zur vermeintlich Ermordeten.
Die in Einzelheiten überprüfbare, in Aspekten durch andere Zeugen unterstützte Aussage einer wohl beleumundeten Frau, die trotz äußerstem Druck bei ihrer Wahrheit blieb, wurde hingegen vernachlässigt, wegerklärt oder verlacht. Schenkt man ihr jedoch den gebührenden Ernst, dann beginnen auch hier die Fragen, die so unangenehm werden. Dann bekommt das beabsichtigte letzte Opfer das zurück, was man ihm so brutal hat nehmen wollen - ein Gesicht, eine Person und eine Geschichte. In diesem Moment bleibt es nicht einfach „das fünfte Opfer“.