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Allgemeine Zeitung München, 11. November 1888

London, 10. Nov. (Der neue Mord in Whitechapel.)
Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass der grause, gestern Morgen wiederum in Whitechapel unter genau den früheren Umständen verübte Mord auf dasselbe Ungeheuer zurückzuführen ist, welches nun schon seit Wochen das Ostende Londons mit Schrecken erfüllt. Der Schauplatz des gestrigen Verbrechens ist keine 200 Yards von Hanbury Street entfernt, wo die Nicholls ums Leben gebracht wurde. Die gestern Ermordete war eine Irländerin, 23 oder 24 Jahre alt, und lebte mit einem Kohlenträger Namens Kelly zusammen, der sie für seine Frau ausgab. Wie die meisten Frauenzimmer ihres Schlages, war sie der Trunksucht stark ergeben und führte den Spottnamen „Ginger.“ Sie bewohnte ein möblirtes Zimmer in einem Hause in der Dorset Street, zu dem der Eingang von Millers Court aus führte. Das Haus hat ein Krämer Namens McCarthy gemiethet. Ein pensionierter Soldat Namnes Bowyer, welcher in den Diensten McCarthy’s steht, war der Erste, welcher die Mordthat entdeckte. Die die Kelly mit ihrer Miete im Rückstande war, begab er sich gestern früh in die Wohnung der Prostituierten, um die schuldige Summe einzucassieren. Nachdem er vergeblich die Thüre geklopft und keine Antwort erhalten hatte, schob er von außen die Fensterläden zurück, worauf sich der grausam verstümmelte, blutige Leichnam der Unglücklichen seien Augen darbot. Sofort wurde die Polizei benachrichtigt. In dem ärmlich ausgestatteten Zimmer fand sie das ermordete Frauenzimmer auf dem Bette unter dem Bettzeug liegen. Nichts ließ auf einen Kampf schließen und ebenso wurde kein Messer oder sonstiges Instrument gefunden. Wie berichtet, waren Hals, Nase, Ohren und Brüste abgeschnitten und der Leib aufgetrennt. Der verstümmelte Leichnam wurde in eine Kiste gepackt und nach der Morgue in Shoreditch gebracht, wo die Leichenbeschaueruntersuchung abgehalten wird. Bemerkenswerth ist, dass von den anwesenden Ärzten constatiert wurde, dass, entgegengesetzt den früheren Mordthaten, kein Stück des Körpers fehlte. Der Liebhaber der Ermordeten, Kelly, hat jedenfalls nichts mit dem Verbrechen zu thun. Am Dienstag Abend um 8 Uhr hatte er die Kelly, mit der er Streit gehabt, freilich noch besucht, wohnte jedoch schon seit 10 bis 12 Tagen in New Street, wo ihn die Polizei gestern sinnlos betrunken im Bette fand. Über die Zeit der Verübung des Mordes herrscht noch immer große Unklarheit und die Erzählungen ihrer unglücklichen erschreckten Mitschwestern weichen sehr voneinander ab. Wann wurde die Kelly zuletzt gesehen und mit wem? Eine Frau Kennedy, welche ihr gegenüber wohnt, sagte aus, dass sie die Ermordete am Freitag Morgen um 3 Uhr mit drei jungen Männern, von denen sie einen beschrieb, bei der nahen Britannia-Schenke habe stehen sehen. Zwischen halb 4 und 4 Uhr habe sie den Ruf „Mord“ gehört, da er sich aber nicht wiederholte, demselben keine weitere Beachtung geschenkt. Wieder Andere sagen, dass sie die Kelly noch um 8 Uhr hätten Lebensmittel einkaufen sehen und sie noch um 10 Uhr mit ihr in der Britannia-Schenke zusammen getrunken hätten. Den Detectives ist es aufgefallen, dass die Mordthaten stets am Ende der Woche verübt werden, uns sie halten es daher für möglich, dass einer der Fleischer der am Donnerstag oder Freitag in London eintreffenden und am Sonntag oder Montag wieder fortsegelnden Viehdampfer der Mörder sein könnte. Bestimmte Anhaltspunkte liegen für diese Theorie nicht vor. In dem Zimmer der Ermordeten wurden ein Lootsenrock aufgefunden; ob er aber von einem der Liebhaber der Kelly zurückgelassen ist, oder wem er sonst gehört, ist noch nicht aufgeklärt. Die Polizei hat jetzt zwei Verhaftungen anlässlich des Verbrechens vorgenommen. Beide Verdächtige mussten jedoch als unschuldig entlassen werden. Auch Jack der Aufschlitzer hat wieder etwas von sich hören lassen und in einem an die Polizei gerichteten Briefe angekündigt, dass er heute Abend seine Thätigkeit in dem Stadttheil Marylebone wieder aufnehmen werde, wo er zwei Frauenzimmer bereits für seine Zwecke notirt habe. Dem Briefe wird natürlich wenig Beachtung geschenkt, wenn auch die Polizei darauf hin einige Vorsichtsmaßregeln trifft. Die Aufregung in Whitechapel kennt kaum noch Gränzen. Der Wachsamkeitsausschuß, welcher in der letzten Zeit ermüdete, wird seine Thätigkeit verdoppeln, und der Minister des Innern, Mathews, hat sich wohl oder übel veranlasst gesehen, etwaigen Complizen des Mörders Begnadigung zuzusichern, falls sie den Behörden Mittheilungen machen, die zur Ergreifung des Unholdes führen.

 

Thomas Schachner
(Dokument zuletzt bearbeitet am 02.12.04)