Hi.
Generell beziehe ich mich in Folge u.a. auch auf einiges, was im Thread über den Miller´s Court (ab etwa hier:
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,1134.msg20278.html#msg20278) aktuell diskutiert wurde und wird, will dort aber nicht komplett vom Thema abschweifen. Zudem habe ich bewusst das Opfer-Board gewählt, da sich einige Diskussionen über die einzelnen Tatorte auch bei den jeweiligen Opfern finden lassen.
Ich schreibe gerade an einer sozialwissenschaftlichen Arbeit über Stadtsoziologie und Wahrnehmung, und da ich momentan (ursprünglich nicht) auch beabsichtige, das viktorianische London (vor allem das East End) miteinzubeziehen, habe ich mich nun u.a. auch eingehend mit Studien über Prostitution (vor allem über ihre ´Mikrogeografie´ und psychologische Aspekte) beschäftigt. (Bei Interesse (?) poste ich gerne mal einige Literaturhinweise zu diesem Thema, einige Texte beziehen sich auch konkret auf Prostitution im viktorianischen London.) Unseren Fall hier selbst werde ich in meine Arbeit zwar nicht miteinbringen, zumal sich darüber zu wenig Konkretes sagen oder verifizieren lässt, kann aber als Diskussionsgrundlage hier mal kurz beschreiben, wie sich die Sache bezüglich der Tatorte aktuell für mich darstellt:
Prinzipiell darf man nicht den Fehler machen, zu glauben, dass arme Frauen und Prostituierte mögliche Geldquellen an Orten wie der Buck´s Row, der Hanbury Street oder dem Mitre Square suchten, schon gar nicht nach der Sperrstunde. Es ist prinzipiell auch falsch, dass sie irgendwo
völlig planlos größere Straßen auf- und abliefen (das tut im Grunde niemand, schon gar nicht, wenn sein Einkommen davon abhängt) – natürlich nahmen sie
jede Gelegenheit wahr,
prinzipiell suchten sie allerdings (und das hat sich ja bis heute kaum verändert) ganz bestimmte Orte auf, die sich aufgrund bestimmter Eigenschaften (Anbindung, Überschaubarkeit, Landmarke, Rückzugsmöglichkeiten in unmittelbarer Umgebung, Pubs) besonders gut für Bettelei oder Prostitution eigneten. Im Falle einer Polizistensichtung (zumeist kannten sie zumindest die etwaige Länge der Polizeibeats aufgrund von Beobachtung und hatten an solchen Plätzen sogar eine Uhr zur Verfügung) liefen sie schon mal um den Block, suchten eine Rückzugsmöglichkeit auf oder wechselten einfach zum nächsten, günstigen Ort. Wenn sie mit einem Freier ins Geschäft kamen, zogen sie sich (bestenfalls durch eine Art Passage – siehe später) mit diesem an einen stillen Ort in unmittelbarer Umgebung zurück.
Der am besten geeignete Ort im Zentrum von Whitechapel, der diese Voraussetzungen erfüllte, war die Kirche
St. Mary Matfelon (wo Emma Smith auf ihre Mörder stieß, in deren Umgebung Martha Tabram und Mary Ann Connelly mit ihren Soldaten durch die Pubs zogen, und wo Mary Ann Nichols und Alice McKenzie das letzte Mal lebend gesehen wurden.) Der ´nächstbeste´, größere Ort dieser Art in nordöstliche Richtung war
Whitechapel Station / London Hospital (wo man in den nördlich direkt dahinter liegenden Blocks Nichols´ Leiche fand), und Richtung Nordwesten entlang der Commercial Street
Christ Church, Spitalfields (wo in den angrenzenden Blocks Annie Chapman und Mary Jane Kelly ihr Ende fanden, und auch das Ten Bells neben der Kirche frequentierten). Zwischen St. Mary und der Christ Church lag als etwas ´kleinerer´ Ort mit eventuell ebenfalls ganz guten Voraussetzungen
St. Jude´s (in einem der angrenzenden Blocks fand man die tote Alice McKenzie). Ein besonders gut geeigneter Ort für Bettelei und Prostitution war (nach dem ebenfalls günstigen
Kreuzungspunkt der beiden Hauptverkehrsstraßen - auch mit Nähe zum Auffindungsort McKenzies) von St. Mary entlang der Whitechapel High Street in Richtung Südwesten zu finden, der dafür sogar berüchtigt war:
St. Botolphs (´the Church of Prostitutes´) mit der Aldgate Station gleich nebenan (Aldgate, City). (Connelly bewegte sich dahin, nachdem sie in der Angel Alley in der Nähe von St. Mary mit dem Soldaten zum Geschäft gekommen war, Eddowes wurde am Nachmittag vor ihrer Ermordung dort betrunken aufgegriffen und letztlich tot in einem umliegenden Block in etwa gleicher Distanz zur Kirche aufgefunden.) Von St. Mary aus nach Südosten findet sich kein so eindeutiger Ort, es ist jedoch zu bemerken, dass Elisabeth Stride das letzte Mal nachweislich lebend vor dem Pub (´Bricklayer´s Arms´) direkt nördlich von
St. Augustine´s gesehen, und letzten Endes zwei Blocks südwestlich davon (Berner Street) tot aufgefunden wurde. (Um diesen Fall näher zu beurteilen, benötigte man aber zumindest auch noch ein Foto von St. Augustine´s – und ich habe leider bisher keines gefunden. Mag sein, dass sich Stride von Clubmitgliedern mögliche Einnahmen erhoffte, und deshalb dort längere Zeit stehen blieb.)
Explizit hinzufügen möchte ich noch, dass nächtliche Polizeistreifen aus Sicherheitsgründen nachweislich so gut wie nie direkt durch Passagen (also durch ´überdachte´ Straßenzugänge) führten, was von Kriminellen und Prostituierten definitiv empirisch feststellbar war. Als Beispiele für derartige Passagen seien George Yard / Gunthorpe Street, Wood´s Buildings (von neben der Whitechapel Station Richtung Buck´s Row) und Mitre Passage angeführt.
Damit sei in etwa kurz skizziert, wo Prostitution (aber auch Bettelei) primär stattfand, wie sie ausgeübt wurde, und welche Umgebungen in und um Whitechapel dafür generell besonders geeignet waren. Die toten ´Unfortunates´ von Whitechapel und Umgebung wurden alle an strukturell relativ ähnlichen Orten von St. Mary aus in verschiedene Richtungen aufgefunden. Ob der Mörder seine Opfer an diesen Orten bewusst suchte, oder letztlich ´nur´ fand, ist unklar – Ebenso, ob er in der Gegend einen Ankerpunkt hatte, oder oben genannte Orte und ihre Umgebung vor jeder Tatbegehung näher ausforschte. Generell ist aber festzuhalten, dass er sich, im Gegensatz zu seinen Opfern, an den konkreten (!) Tatorten prinzipiell eigentlich
nicht unbedingt ausgekannt haben
musste, ihm die Stadtmorpholgie an diesen Orten generell entgegenkam, und er sich folglich höchstwahrscheinlich eher von den Prostituierten dort hinbringen ließ. (Dass er die Himmelsrichtungen genauso wie die jeweiligen Zeiten zwischen Sperrstunde und Sonnenaufgang von Tat zu Tat wechselte, mag auch dafür vielleicht nicht uninteressant sein - ebenso wie die Tatsache, dass er gerade in jenem Bereich umging, der die höchste Dichte an jüdischer Bevölkerung in London hatte und er vielleicht (!) auch ein judenfeindliches Graffiti anbrachte und mit Hilfe eines Beweisstückes ´autorisierte´, obwohl er ähnliche Orte der Prostitution auch außerhalb seines ´Territoriums´ gefunden hätte – das ist aber eben ein etwas anderer, diskussionswürdiger Aspekt, zu dem ich aber auch einige Daten beisteuern könnte.)
Bei Interesse am Thema (?) bringe ich auch gerne einige Karten und Links zu Bildern mit ein!
Beste Grüße,
panopticon