Das Kleeblatt der Opfer(c) 2004 Colin Benson (Sorry, das hat seine Gründe)Es geht hier um drei der Frauen; nicht weil mir das in den Kram paßt, nicht weil ich damit eine "Theorie" stütze, nicht weil ich die anderen beiden nicht auch ins Schema
pressen könnte, sondern weil drei der fünf ganz einfach, ganz selbstverständlich und ohne Gewalt immer wieder ihre Wege kreuzen und so dicht aufeinander hocken, daß wir mehr als eine Sichtbekanntschaft vermuten können (müssen).
Reden wir über die Dorset Street, eine der Straßen der bösen Viertelmeile. Wer seine Ordinance Map ausmißt, der kommt zu dem Schluß, daß sie ca. 100 m lang ist und mit der Bebauung und den kleinen Sackgäßchen wie Miller's Court zu beiden Seiten eine Breite von etwa 40 m aufweist. Das entspricht nicht ganz einem Acre. Die Daily Telegraph ist nicht gerade berühmt als geographische Fachzeitschrift, aber wenn ihre von offizieller Seite stammenden Angaben zur Bevölkerungsdichte in Spitalfields stimmen(1) (die wegen der vielen Lodging Houses recht hoch ausfiel) dann können wir in diesem Gebiet mit genau 286 Einwohnern rechnen. Runden wir und sagen wir 260 bis 320 Menschen lebten hier, eine überschaubare Menge. Grundschulen in deutschen Mittelstädten haben i.d.R. mehr Schüler.
Aber für das Kommende benötigen wir noch nicht einmal die gesamte Dorset Street. Wir benötigen nur ein Stück, nämlich von #26 bis #38, also ca. 30m. Sagen wir ein Drittel. Das reduziert nun unsere Einwohner im statistischen Mittel ebenfalls auf ein Drittel, also auf eine Zahl von, na, sagen wir 90 bis 110 (soll niemand sagen, ich würde unfair abrunden). Das wird immer überschaubarer. Diese Berechnung ist so gut, wie die mir zur Verfügung stehenden demographischen und geographischen Daten. Wer genauere Daten hat, der möge sie mir doch bitte mailen oder hierher posten.
Drei der fünf Opfer von Jack the Ripper stammen aus dem Kreise dieser etwa 100 Menschen. Vielleicht sollten wir alle mehr Lotto spielen und weniger rauchen.
Annie Chapman, das ist allgemein unumstritten (oder? ODER?!) wohnte in der Dorset Street, war eine dieser 100. Im Inquest(2) gibt Amelia Palmer an, Annie habe zunächst in #30 gelebt, aber einige Monate vor ihrem Tod zog sie in das Lodging House in #35, Dorset Street. Steht so im Inquest, wird auch von Fido et al. (A-Z), Sugden (Complete Jack the Ripper) und im Casebook so berichtet. Die nächste unstrittige Adresse ist die von Mary Jane Kelly - Miller's Court, ein kleiner Hinterhof an der Dorset Street #26, fast in Spuckweite zu Annie's Adresse. Über die müssen wir auch nicht diskutieren.
Dann ist da noch Liz Stride. Ich habe sie oben noch fälschlicherweise als Flower&Dean Street angegeben, was nicht stimmt. F&D war
eine der beiden Adressen von Long Liz. Es war, die sie so gut wie nicht frequentierte, denn nach Aussage der dortigen Aufseherin, Elizabeth Tanner, hat Liz dort seit 1882
"immer mal wieder" gewohnt(3). Tanner kannte noch nicht einmal den Namen von Elizabeth Stride(4), was schließen läßt, daß sie nicht eben ein Dauergast war. Liz lebte indes, seit etwa 1885, mit Michael Kidney zusammen. Er selbst sagte im Inquest, er habe seit dieser Zeit mit Liz zusammengelebt (
"nearly all the time") und gibt als Adresse ein Lodging House in Dorset Street #38 an.(5)
Und damit haben wir zunächst einmal 3 der Opfer, die monate- bzw. jahrelang in unmittelbarer Distanz von max. 30 m als Mitglieder einer Gruppe von ca. 100 Menschen lebten. Das ist Fakt.
Das Leben im East End spielte sich in dieser Zeit mehr auf der Straße ab, als in den üblen, dunklen und feuchten Unterkünften, die Straße war Warenumschlagplatz, Nachrichtenbörse und Unterhaltung (kein Fernsehen). Jack London berichtet uns in seiner Reportage
People from the Abyss, wie abends Männer und Frauen vor den Häusern hockten und Bier tranken (6), die Erinnerungen von Walter Dew decken sich damit(7), und das wird auch von der Geschichts- und Sozialforschung bestätigt(8 ). Unvergessen Dews
Anekdote, wie die hutlose Mary Jane Kelly mit zwei oder drei Freundinnen durch die Dorset Street zu paradieren pflegte...
Die Straße war der Lebensmittelpunkt dieser Menschen, und in so unmittelbarer Nähe werden sie sich gekannt haben.
Ein weiterer Mittelpunkt für viele - gerade auch, da das Wasser teilweise ungenießbar war - war der Pub. Von unseren drei Frauen wissen wir, daß sie Rum, Gin und Bier zu schätzen wußten. Sie tauchen auch in den Pubs wieder im Verbund auf. Populär war natürlich - wiederum in unmittelbarer Nachbarschaft - das "Brittana", auch als "Ringer's" bekannt, nach der Wirtin. Weitere Verbindungen haben wir im Ten Bells und im Queens Head(9). Mit einiger Sicherheit waren die Frauen dort Stammgäste allein aus dem Grund, daß se oft etwas zu trinken brauchten.
Wer das Ten Bells kennt, weiß, daß diese Pubs nicht sehr groß sind. Wir haben hier im Dorf (ca. 2500 Einwohner) auch eine Kneipe, die ist sogar etwas größer. Ich bin nicht oft dort (einmal alle drei bis vier Wochen), aber ich kenne die Stammkunden. Ein neues Gesicht fällt mir auf. Mit den "regulars" trinke ich auch mal einen, spiele Dart, Skat oder auch mal Schach etc. Man kennt sich, namentlich, man weiß, was der andere tut, kennt u.U. auch einige der familiären Sorgen, schwätzt auch mal kurz, wenn man sich auf der Straße sieht. Das alles ist etwas mehr als "sich vom Sehen kennen".
Alles in allem ist für mich klar, daß diese Frauen sich gekannt haben, Anni, Liz und Mary Jane waren vielleicht keine Busenfreundinnen, aber sie haben sich recht gut gekannt.
Aber vielleicht ist da sogar noch mehr. Liz Stride verschwand am Dienstag vor ihrer Ermordung wieder in die Flower-Dean Street, nicht zum ersten Mal, denn gelegentlich verließ sie Kidney für eine Sauftour, und so ging er davon aus, daß das auch diesmal der Grund war(10). Auch Anni Chapmann "verschwand" einige Tage vor ihrer Ermordung aus der Dorset Street und kehrte erst an ihrem letzten Tag zurück - niemand weiß, wo sie war. Es wird allgemein angenommen, sie sei in einem "Casual Ward" gewesen, aber das ist nirgends dokuemntiert(11). Mary Ann Kelly schließlich wurde in der Nacht ermordet, als sie zum ersten Mal seit Monaten ohne Barnett oder eine Bekannte in Miller's Court nächtigte(12).
Fußnoten
(1) "Metropolitan Board of Works", Daily Telegraph 13.10.1888
(2) Daily Telegraph 10.09.1888
(3) Daily Telegraph 03.10.1888, auch die entsprechenden Ausgaben der London Times
(4) ibid
(5) ibid, die Zeitleiste auf dem Casebook wird übrigens #35 angegeben - das würde Stride in dasselbe Haus mit Chapmann setzen. Ich habe da allerdings Zweifel. Als Quelle ist auf dem Casebook angegeben: Martin Fido et al "A-Z, p454"
(6) Jack London, People from the Abyss, 1903 (Online: http://sunsite.berkeley.edu/London/Writings/PeopleOfTheAbyss/ )
(7) Walter Dew, "The Hunt for Jack the Ripper" in I Caught Crippen, 1938. (Online: http://casebook.org/ripper_media/rps.walterdew.html ). Seine Fakten stimmen wahrlich nicht immer, aber die Eindrücke seines jahrelangen Lebens vor Ort dürften durchaus zutreffend erinnert sein.
(8 ) vgl. Asa Briggs, A Social History of England - New Edition, 1994, S. 264f
(9) vgl. A. M. Phypers, "The Houses Where Jack Swilled", http://www.casebook.org/dissertations/dst-pubsv.html Mr. Phypers, der leider so früh verstorben ist, war auf dem Casebook auch bekannt als "Viper" und hat sich insbesondere um das Pressearchiv verdient gemacht.
(10) vgl. die Aussagen von Tanner und Kidney, Daily Telegraph 03.10.1888
(11) http://www.casebook.org/victims/chapman.html
(12) vgl. die Aussagen von Barnett und Harvey, Daily Telegraph, 12.11.1888