Autor Thema: Beweise für Freundschaft?  (Gelesen 62956 mal)

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Alexis

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Beweise für Freundschaft?
« am: 10.07.2003 12:02 Uhr »
Es gibt ja nun bekanntlich mehrere Therioen über JTR, und in einigen geht es um Frauenhass, in anderen um eine Verschwörung usw. Aber ich habe mal eine Frage. Gibt es Beweise, dass die Prostituierten befreundet waren? Das würde ja dann die ein oder andere Theorie ausschließen.
Natürlich ist es relativ schwierig sowas auszuschließen, aber mich würde das mal interessieren.

Danke schonmal

Offline thomas schachner

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #1 am: 10.07.2003 12:12 Uhr »
hallo alexis,

über eine freundschaft der ermordeten prostituierten ist nichts bekannt und kann eigentlich auch ausgeschlossen werden.
ein argument hierfür wäre, dass sie sich als zeugen bei der polizei gemeldet hätten, um angaben über die ermordete person zu machen, wenn sie tatsächlich mit ihnen befreundet gewesen wären.

sie sind sich aber sicherlich ab und zu über den weg gelaufen, da es nur einige bestimmte strassen in whitechapel und umgebung gab, wo man nach freiern ausschau gehalten hat.
mary kelly, chapman und nichols hatten beispielsweise alle die "christ-church-runde".

gruss
thomas.
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Alexis

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #2 am: 10.07.2003 12:20 Uhr »
Danke schön. Sehr lieb.  :D

Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #3 am: 27.10.2004 01:40 Uhr »
Mögliche engere Verbindungen würde ich nicht so leichtfertig ausschließen, auch wenn ich mir da noch keine feste Meinung habe bilden können. Drei der Fünf hatte nicht nur die gleichen "beats" (wenn man es denn analog zur Polizei sehen will), sondern zumindest Vier der Fünf hätten sich die ganze Zeit über die Füße stolpern müssen.

  • Polly Nichols, Elizabeth Stride und Catherine Eddowes lebten alle vor ihrem Tode in Lodging Houses in der Flower&Dean Street (#32 bzw. #55).
  • Nichols und Stride hatte es erst wenige Wochen zuvor hierher verschlagen, Nichols von der Thrawl Street (eine Querstraße weiter) und Stride von der Devonshire Street (auch nicht weit)(--> Sugden).
  • Annie Chapmann und Mary Jane Kelly lebten beide in der Dorset Street (#35 bzw. #26) (--> Sugden).
  • Zwischen der Ecke Dorset/Commercial Street und der Ecke Flower&Dean/Commercial Street liegt eine Distanz von ca. 130 Meter (großzügig berechnet nach Ivor Edwards, Jack the Ripper's Black Magic Rituals, S. 144).

Ja, in Whitechapel gab es viele Prostituierte und noch viel mehr andere Menschen, aber wir reden hier von einem Kreis mit einem Durchmesser (nicht Radius) von max. 400 Metern (excluding Eddowes in 55, Flower & Dean) und nicht von ganz Whitechapel. Dies ist eine kleiner Kosmos, verbunden von einem kleinen (!) Stück der Commercial Street, bewohnt von Menschen, die sich tagsüber  vorzugsweise draußen oder in Pubs aufhielten.

Nach A. M. Phypers (A. M. Phypers, "The Houses Where Jack Swilled", www.casebook.org/dissertations/dst-pubsv.html ) frequentierten vier der fünf Frauen in einer Gegend mit mindestens zwei Dutzend Pubs vorzugsweise vier, vielleicht fünf Häuser, die besonders günstig zu ihren Schlafstätten und "Runden" lagen. Die meisten dieser Pubs waren nicht eben groß.
  • The Brittania (auch "Ringers") sah Chapman und Kelly.
  • The Ten Bells zählte Stride und Kelly, wahrscheinlich auch Chapmann zu seinen Gästen.
  • The Queens Head sah sicher Stride, vielleicht Kelly.
  • The Frying Pan wurde zumindest einmal von Nichols aufgesucht - am Abend ihrer Ermordung.
  • The Bricklayer's Arms wurde vielleicht von Stride frequentiert.

Wie wahrscheinlich ist es, daß zumindest vier der fünf Frauen (ich ziehe Eddowes hier einmal heraus) sich nicht kannten, zumindest flüchtig?

Grüße

CB

Scharfnase

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Was bringt es?
« Antwort #4 am: 27.10.2004 09:51 Uhr »
Hi Colin,

ist schön und gut, kann ja sein, dass einige der Opfer sich vom Sehen (mehr sicher nicht) kannten. Andererseits was soll diese späte Annahme bringen? Für wüste Verschwörungstheorien ist sie doch unbrauchbar, da dazu wohl mehr gehört als eine flüchtige Bekanntschaft.;-)

Ich glaube übrigens nicht daran, dass die Opfer sich kannten. Es gibt dafür nicht den leisesten Anhaltspunkt (etwa aus den gerichtlichen Verhandlungen).

Gott zum Gruße,
Scharfnase

Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #5 am: 29.10.2004 12:07 Uhr »
Hi,

das muß ich in zwei Fuhren machen und habe doch so wenig Zeit. Zunächst einmal muß ich auf Scharfnases Antwort eingehen.

ist schön und gut, kann ja sein,dass einige der Opfer sich vom Sehen kannten.
Na, immerhin, eine Art Zugeständnis an die Möglichkeit.

(mehr sicher nicht)
"Sicher"? Woher kommt dieser Sicherheit? Steht irgendwo in einem Memorandum "die fünf Toten haben glaubwürdig an Eidesstatt versichert, daß sie sich nicht kannten"? Das wäre "sicher" (zumindest wenn man den unreflektierten Willen zum Glauben an Memoranden und zweifelhafte Schriftstücke in sich trägt).

Andererseits was soll diese späte Annahme bringen?
Die "späte Annahme" ist derzeit interpretationsresistent, aber die Frage nach dem Nutzen wird gestellt. Ich habe keine Ahnung, was es "bringen" soll (oder die gesamte "Ripperologoie"). Ich wollte nur klar machen daß Thomas Behauptung, "eine Bekanntschaft kann eigentlich auch ausgeschlossen werden", die er oben trifft, eine Annahme ist - nicht mehr, nicht weniger.

Für wüste Verschwörungstheorien ist sie doch unbrauchbar, da dazu wohl mehr gehört als eine flüchtige Bekanntschaft.
Ich bin jetzt mal gutmütig und sage nicht, daß Du mir hier was unterstellen willst. :) Ich konstruiere keine Theorien, ich sehe mir lediglich einen Teilaspekt des Komplexes genauer an, habe eine Fragestellung, und versuche diese zu beantworten.

Dir ist hoffentlich aufgefallen, daß ich nichts behauptet habe, sondern am Ende meines letzten Postings eine Frage nach Wahrscheinlichkeiten gestellt habe. Ich beabsichtige auch nicht, an die Frage, waren sie befreundet oder nicht, irgendeine Bedeutung anzuhängen.

Aber, und das sei mir erlaubt; was zu einer Verschwörungstheorie "gehört", liegt ja dann wohl letztlich an der Theorie.


Ich glaube übrigens nicht daran, dass die Opfer sich kannten.
So wird die eingangs so lässig postulierte Sicherheit zum simplen Glauben.

Es gibt dafür nicht den leisesten Anhaltspunkt (etwa aus den gerichtlichen Verhandlungen).
Nun ja, unsere Akten und Unterlagen sind mehr als lückenhaft. Also ersetzen wir mal "es gibt" durch das zutreffendere "wir haben" und dann wird klar, warum Du im Endeffekt nur "glaubst" und Deine anfängliche "Sicherheit" verloren hast. Glaubensartikel aber kann man so oder so beantworten.

So, und wenn ich die Zeit habe, poste ich dann, warum mein Glaube nicht so fest ist wie Deiner. Bis dahin ein Teil des Manifestos dieser Seite zu allfälligen Betrachtung:

Unser Streben sollte nicht darin bestehen, die Augen starr auf das vermeintlich Gegebene zu richten, sondern die fehlenden Teile des Puzzles zu finden.

Grüße

CB

Offline thomas schachner

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #6 am: 29.10.2004 13:23 Uhr »
hi colin,

rigoros ausgeschlossen habe ich es ja auch nicht. deswegen schreibe ich ja auch "eigentlich".
ich glaube nur nicht unbedingt daran, da man diese möglichkeit spätestens nach dem doppelmord in betracht gezogen haben müsste. die cops damals waren ja auch nicht blöd!

das sie sich vom sehen her gekannt haben, schließe ich jedoch nicht aus, vor allem weil es sich ja hier auch um ein recht kleines einzugsgebiet handelt, aber mehr denke ich nicht. also keine freundschaft in dem sinn, dass sie abends gemeinsam im trauten 5er kreis ins ten bells auf ein bier gegangen sind.

gruss
thomas.
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Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #7 am: 29.10.2004 13:38 Uhr »
da man diese möglichkeit spätestens nach dem doppelmord in betracht gezogen haben müsste.

Ich bin 100% Deiner Meinung, daß man das gemacht haben müßte. Nur, in mir regt sich schon seit längerem der leise Verdacht, daß man das nicht getan hat - zusehr hatte sich der "wahllos zuschlagende Serientäter" schon in die verseuchten Hirne gegraben. Das war übrigens einer meiner Anlässe, diesen Aspekt zu beleuchten.

Wenn Du zu entsprechenden Ermittlungen etwas hast, Thomas, wäre ich (und wären wahrscheinlich alle hier) Dir sehr dankbar für Näheres.

Grüße

CB

Offline thomas schachner

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #8 am: 29.10.2004 13:59 Uhr »
hi cb,

sorry...da muss ich dich enttäuschen. hierzu ist leider zum aktuellen zeitpunkt absolut nichts an unterlagen/zeitungsausschnitten etc. aufzufinden.
da haben sich schon ganz andere die zähne daran ausgebissen .-((

über dieses thema kann man lediglich vermutungen anstellen...hoffentlich haben wir irgendwann mal was schriftliches. und wenn es nur eine kleine randnotiz in den memoiren eines ex-polizisten, innenministers, public-house besitzers etc ist .-)))


gruss
thomas.
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Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #9 am: 29.10.2004 14:14 Uhr »
:) :) :)

Vielen Dank. Ich werde jetzt noch ganz bescheiden andeuten, daß mich das nicht überrascht. Einen Teil der Dir zur Verfügung stehenden Unterlagen habe ich ja auch, und aus denen ist sehr deutlich, daß man sich ab dem Nichols-Inquest auf die (anfangs jüdische) "Monsterjagd" spezialisiert hatte.

Die Frauen wurden (von fast allen) Zeitgenossen nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als Striche auf einer Liste.

Grüße

CB

Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #10 am: 30.10.2004 00:31 Uhr »
Bevor ich weitermache, gucken wir uns mal den Status Quo an. Worauf gründet sich also nun diese seltsame, felsenfeste Annahme, die Frauen, oder auch nur einige von Ihnen, seien nicht befreundet gewesen:

  • Nichts in den Ermittlungsakten. Wir wissen, z.B. von Walter Dew, daß in es jedem Mordfall seit Emma Smith Hunderte von Aussagen gegeben hat. Uns liegt nur ein Bruchteil davon vor. Die Akten wiesen bis 1987 noch eine beachtliche, nennen wir es einmal "Fluktuation" auf. Wir wissen nicht, ob es entsprechende bejahende oder verneinende Zeugenaussagen gab.
  • Die Polizei war nicht doof - die hätten das doch ermittelt. Nun, selbst wenn, ist auch hier wieder das Problem fehlender Akten. Aber auch ohne dieses Problem ist das Argument nicht sehr überzeugend. Aus dem was wir haben, geht hervor, daß die Opferhintergründe bei der großen "Monsterjagd" rasch vernachlässigt wurden. Ripperopfer - peng. Leute für die ID heranschaffen, genug Infos , um den Anforderungen der Voruntersuchung zu genügen.
  • Es gibt auch keine Hinweise "aus den gerichtlichen Verhandlungen". Gemeint sind hier wahrscheinlich die Inquest genannten Voruntersuchungen, die, das habe ich schon anderer Stelle ausgeführt, keinesfalls das Gewicht einer deutschen Gerichtsverhandlung haben. Im gesamten Ripperfall gab es keine Gerichtsverhandlungen.
  • Aber abgesehen davon wäre in der Tat Trüffelschwein Baxter der Mann gewesen, solche Verbindungen aufzuspüren. Dazu gehören jedoch zwei Dinge, nämlich a) eine Freundin hat etwas auszusagen und b) will sie aussagen. "Freundinsein" allein bedeutet ja noch nicht, nennenswertes zu erzählen zu haben. Und falls doch - wir haben mehr als eine zeitgenössische Quelle, die uns schildert, wie paranoid sich viele East Ender (v.a. die schattigeren Typen) gegenüber der Polizei verhielten. Als reine Leumundszeugin wäre sie nicht gehört worden - hierzu hat man, das wird aus den Aussagen ersichtlich, sich auf Lodging House Wardens, andere (halb)offizielle Personen und Verwandte verlassen. Prostituierte wurden nur im Inquest gehört, wenn sie zur Rekonstruktion von Tat und Umfeld beitragen konnten oder zur ID gebraucht wurden.
Das reicht in keinem Fall, jene kategorische Verneinung zu treffen, die in diesem Thread getroffen wurde. Die initiale Frage des Threads, gab es Beweise für eine Freundschaft, muß natürlich verneint werden, und einen rauchenden Colt werden wir nicht mehr finden, aber für welchen Aspekt in dieser Sache haben wir den schon?

Aber wir haben keine Beweise dagegen, wir haben noch nicht einmal Indizien dagegen weil keine Sau sich darum gekümmert hat auf gut Deutsch gesagt. Wir haben nichts in der Hand, um die Frage nach einer Freundschaft zu verneinen. Wir wissen nichts. Nun herzugehen und daraus Gewißheiten zu konstruieren ist analog zum Verhalten der mittelalterlichen Kirche in der Frage "Kugel oder Scheibe".

[to be continued]

Grüße

CB

Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #11 am: 30.10.2004 02:02 Uhr »
So, als Vorbereitung:

Colin Benson

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Beweise für Freundschaft?
« Antwort #12 am: 30.10.2004 04:19 Uhr »
Das Kleeblatt der Opfer

(c) 2004 Colin Benson (Sorry, das hat seine Gründe)

Es geht hier um drei der Frauen; nicht weil mir das in den Kram paßt, nicht weil ich damit eine "Theorie" stütze, nicht weil ich die anderen beiden nicht auch ins Schema pressen könnte, sondern weil drei der fünf ganz einfach, ganz selbstverständlich und ohne Gewalt immer wieder ihre Wege kreuzen und so dicht aufeinander hocken, daß wir mehr als eine Sichtbekanntschaft vermuten können (müssen).

Reden wir über die Dorset Street, eine der Straßen der bösen Viertelmeile. Wer seine Ordinance Map ausmißt, der kommt zu dem Schluß, daß sie ca. 100 m lang ist und mit der Bebauung und den kleinen Sackgäßchen wie Miller's Court zu beiden Seiten eine Breite von etwa 40 m aufweist. Das entspricht nicht ganz einem Acre. Die Daily Telegraph ist nicht gerade berühmt als geographische Fachzeitschrift, aber wenn ihre von offizieller Seite stammenden Angaben zur Bevölkerungsdichte in Spitalfields stimmen(1) (die wegen der vielen Lodging Houses recht hoch ausfiel) dann können wir in diesem Gebiet mit genau 286 Einwohnern rechnen. Runden wir und sagen wir 260 bis 320 Menschen lebten hier, eine überschaubare Menge. Grundschulen in deutschen Mittelstädten haben i.d.R. mehr Schüler.

Aber für das Kommende benötigen wir noch nicht einmal die gesamte Dorset Street. Wir benötigen nur ein Stück, nämlich von #26 bis #38, also ca. 30m. Sagen wir ein Drittel. Das reduziert nun unsere Einwohner im statistischen Mittel ebenfalls auf ein Drittel, also auf eine Zahl von, na, sagen wir 90 bis 110 (soll niemand sagen, ich würde unfair abrunden). Das wird immer überschaubarer. Diese Berechnung ist so gut, wie die mir zur Verfügung stehenden demographischen und geographischen Daten. Wer genauere Daten hat, der möge sie mir doch bitte mailen oder hierher posten.  

Drei der fünf Opfer von Jack the Ripper stammen aus dem Kreise dieser etwa 100 Menschen. Vielleicht sollten wir alle mehr Lotto spielen und weniger rauchen.

Annie Chapman, das ist allgemein unumstritten (oder? ODER?!) wohnte in der Dorset Street, war eine dieser 100. Im Inquest(2) gibt Amelia Palmer an, Annie habe zunächst in #30 gelebt, aber einige Monate vor ihrem Tod zog sie in das Lodging House in #35, Dorset Street. Steht so im Inquest, wird auch von Fido et al. (A-Z), Sugden (Complete Jack the Ripper) und im Casebook so berichtet. Die nächste unstrittige Adresse ist die von Mary Jane Kelly - Miller's Court, ein kleiner Hinterhof an der Dorset Street #26, fast in Spuckweite zu Annie's Adresse. Über die müssen wir auch nicht diskutieren.

Dann ist da noch Liz Stride. Ich habe sie oben noch fälschlicherweise als Flower&Dean Street angegeben, was nicht stimmt. F&D war eine der beiden Adressen von Long Liz. Es war, die sie so gut wie nicht frequentierte, denn nach Aussage der dortigen Aufseherin, Elizabeth Tanner, hat Liz dort seit 1882 "immer mal wieder" gewohnt(3). Tanner kannte noch nicht einmal den Namen von Elizabeth Stride(4), was schließen läßt, daß sie nicht eben ein Dauergast war. Liz lebte indes, seit etwa 1885, mit Michael Kidney zusammen. Er selbst sagte im Inquest, er habe seit dieser Zeit mit Liz zusammengelebt ("nearly all the time") und gibt als Adresse ein Lodging House in Dorset Street #38 an.(5)

Und damit haben wir zunächst einmal 3 der Opfer, die monate- bzw. jahrelang in unmittelbarer Distanz von max. 30 m als Mitglieder einer Gruppe von ca. 100 Menschen lebten. Das ist Fakt.

Das Leben im East End spielte sich in dieser Zeit mehr auf der Straße ab, als in den üblen, dunklen und feuchten Unterkünften, die Straße war Warenumschlagplatz, Nachrichtenbörse und Unterhaltung (kein Fernsehen). Jack London berichtet uns in seiner Reportage People from the Abyss, wie abends Männer und Frauen vor den Häusern hockten und Bier tranken (6), die Erinnerungen von Walter Dew decken sich damit(7), und das wird auch von der Geschichts- und Sozialforschung bestätigt(8 ). Unvergessen Dews Anekdote, wie die hutlose Mary Jane Kelly mit zwei oder drei Freundinnen durch die Dorset Street zu paradieren pflegte...

Die Straße war der Lebensmittelpunkt dieser Menschen, und in so unmittelbarer Nähe werden sie sich gekannt haben.

Ein weiterer Mittelpunkt für viele - gerade auch, da das Wasser teilweise ungenießbar war - war der Pub. Von unseren drei Frauen wissen wir, daß sie Rum, Gin und Bier zu schätzen wußten. Sie tauchen auch in den Pubs wieder im Verbund auf. Populär war natürlich - wiederum in unmittelbarer Nachbarschaft - das "Brittana", auch als "Ringer's" bekannt, nach der Wirtin. Weitere Verbindungen haben wir im Ten Bells und im Queens Head(9). Mit einiger Sicherheit waren die Frauen dort Stammgäste allein aus dem Grund, daß se oft etwas zu trinken brauchten.

Wer das Ten Bells kennt, weiß, daß diese Pubs nicht sehr groß sind. Wir haben hier im Dorf (ca. 2500 Einwohner) auch eine Kneipe, die ist sogar etwas größer. Ich bin nicht oft dort (einmal alle drei bis vier Wochen), aber ich kenne die Stammkunden. Ein neues Gesicht fällt mir auf. Mit den "regulars" trinke ich auch mal einen, spiele Dart, Skat oder auch mal Schach etc. Man kennt sich, namentlich, man weiß, was der andere tut, kennt u.U. auch einige der familiären Sorgen, schwätzt auch mal kurz, wenn man sich auf der Straße sieht. Das alles ist etwas mehr als "sich vom Sehen kennen".

Alles in allem ist für mich klar, daß diese Frauen sich gekannt haben, Anni, Liz und Mary Jane waren vielleicht keine Busenfreundinnen, aber sie haben sich recht gut gekannt.

Aber vielleicht ist da sogar noch mehr. Liz Stride verschwand am Dienstag vor ihrer Ermordung wieder in die Flower-Dean Street, nicht zum ersten Mal, denn gelegentlich verließ sie Kidney für eine Sauftour, und so ging er davon aus, daß das auch diesmal der Grund war(10). Auch Anni Chapmann "verschwand" einige Tage vor ihrer Ermordung aus der Dorset Street und kehrte erst an ihrem letzten Tag zurück - niemand weiß, wo sie war. Es wird allgemein angenommen, sie sei in einem "Casual Ward" gewesen, aber das ist nirgends dokuemntiert(11). Mary Ann Kelly schließlich wurde in der Nacht ermordet, als sie zum ersten Mal seit Monaten ohne Barnett oder eine Bekannte in Miller's Court nächtigte(12).





Fußnoten

(1) "Metropolitan Board of Works", Daily Telegraph 13.10.1888
(2) Daily Telegraph 10.09.1888
(3) Daily Telegraph 03.10.1888, auch die entsprechenden Ausgaben der London Times
(4) ibid
(5) ibid, die Zeitleiste auf dem Casebook wird übrigens #35 angegeben - das würde Stride in dasselbe Haus mit Chapmann setzen. Ich habe da allerdings Zweifel. Als Quelle ist auf dem Casebook angegeben: Martin Fido et al "A-Z, p454"
(6) Jack London, People from the Abyss, 1903 (Online: http://sunsite.berkeley.edu/London/Writings/PeopleOfTheAbyss/ )
(7) Walter Dew, "The Hunt for Jack the Ripper" in I Caught Crippen, 1938. (Online: http://casebook.org/ripper_media/rps.walterdew.html ). Seine Fakten stimmen wahrlich nicht immer, aber die Eindrücke seines jahrelangen Lebens vor Ort dürften durchaus zutreffend erinnert sein.
(8 ) vgl. Asa Briggs, A Social History of England - New Edition, 1994, S. 264f
(9) vgl. A. M. Phypers, "The Houses Where Jack Swilled", http://www.casebook.org/dissertations/dst-pubsv.html Mr. Phypers, der leider so früh verstorben ist, war auf dem Casebook auch bekannt als "Viper" und hat sich insbesondere um das Pressearchiv verdient gemacht.
(10) vgl. die Aussagen von Tanner und Kidney, Daily Telegraph 03.10.1888
(11) http://www.casebook.org/victims/chapman.html
(12) vgl. die Aussagen von Barnett und Harvey, Daily Telegraph, 12.11.1888

Scharfnase

  • Gast
Kein stichhaltiger Anhaltspunkt
« Antwort #13 am: 30.10.2004 10:48 Uhr »
Hi Colin,

Du hast eindrucksvoll ausgeführt, warum die Frauen sich gekannt haben könnten. Die Betonung liegt dabei aber auf "könnten", denn einen Beweis hast auch Du nicht.  

Mir geht es vor allem darum, dass nirgends jemand eine Andeutung macht, dass die Frauen sich gekannt haben. Wenn irgendein Zeuge am Rande sagen würde, dass die doch immer zusammen gehockt seien, dann würde ich ja nichts sagen. Letztlich sind Deine umfangreichen Ausfrührungen also nichts weiter als eine Luftnummer (sorry), die beweisen soll, dass  Leute, die auf engem Raum zusammenleben, sich doch wohl bitte gekannt haben müssen. Es kann aber genausogut auch das Gegenteil der Fall sein. Es geht hier um den konkreten Fall und nicht die allgemeine Lebensweisheit.

Gott zum Gruße,
Scharfnase

Eastsidemags

  • Gast
Beweise für Freundschaft?
« Antwort #14 am: 30.10.2004 12:07 Uhr »
hi colin,

erstmal vielen Dank für deinen wie immer wohl präsentierten Ausführungen, wobei ich nicht ganz verstehe, warum du das versuchst zu copyrighten, da du keine neuen Informationen oder Gedankengänge darlegst (sorry für die Gnadenlosigkeit).

ich denke mal, dass du das ganze etwas zu verkrampft angehst.
Keiner hier will und kann ausschließen, dass die Opfer sich kannten.
Eine "kathegorische Verneinung", wie du sie oben nennst, legst du uns ja
in den Mund!

Letztlich geht es hier aber um die Rechnung mit WAHRSCHEINLICHKEITEN, und mit nichts anderem arbeitest du ja auch, wenn du das potenzielle Einzugsgebiet der Dorset-Street ansprichst. Ich schließe mich voll und ganz Thomas und Scharfnase in ihrer Argumetation an, dass wenn die Opfer befreundet gewesen wären, dies früher oder später bekannt geworden wäre. Ein wesentliches Argument von dir sind die Polizeiakten, die - wie du zurecht anmerkst - lückenhaft sind (so lückenhaft wie immer behauptet wird sind sie aber auch nicht). Aber ok, sagen wir mal die Polizei hat tatsächlich nicht gemerkt, dass es unter den Opfer eine Verbindung gab (nach dem ganzen Wirbel um die Morde halte ich das für UNWAHRSCHEINLICH), dann bleiben noch die Journalisten,
die du in deinen Ausführungen ganz vergessen hast. Gerade die Reporter haben in der Zeit der Morde in Whitechapel jeden Stein umgedreht. Dass Ihnen, die natürlich auch mit unzähligen Prostituierten gesprochen haben, eine Freundschaft zwischen den Opfern verborgen geblieben ist, halte ich für noch UNWAHRSCHEINLICHER.

Dessen ungeachtet ist deine Hochrechnung der Einwohnerzahl falsch, du machst es dir da etwas zu einfach, von Statistiken auf eine tatsächliche Menschenmenge in einem Kreis von 100m zu schließen.
Im Miller's Court alleine wohnten - wenn ich mich recht entsinne, um die 200 Personen! Das aber ohne Garantie, dass müßte ich nochmal nachschlagen...


Ich persönlich halte es für WAHRSCHEINLICH, dass die einige der Opfer sich vom sehen her gekannt haben. Vielleicht kannten sie sich auch per Namen.
Und mehr nicht!

...und das Schöne ist: etwas anderes behauptest du auch nicht! Denn sagen wir mal, es ist tatsächlich alles so, wie du es beschrieben hast. Na gut, dann sind sie sich öfters mal über den Weg gelaufen - ganz meine Meinung.
Dein Präludium (hehe) begann aber damit, uns darauf festzunageln, dass wir "felsenfest" davon ausgingen, dass die Frauen "nicht befreundet sind".
Jetzt frage ich dich: wo sind deine Beweise (oder von mir aus auch Hinweise), dass sie befreundet sind, oder dass sie sich - und hier schraubst du ja selbst deine Erwartung erheblich zurück - "recht gut gekannt" haben???