review: buchwurm.info vom 02.06.06
Wohl kaum ein Kriminalfall der Geschichte beschäftigt die Menschen auch heute noch so sehr wie die Morde von "Jack the Ripper". Im Spätsommer und Herbst 1888 versetzte ein unbekannter Täter die Menschen des Londoner East Ends in Angst und Schrecken. Innerhalb weniger Wochen ermordete er mindestens fünf Frauen, allesamt Prostituierte, die sich auf den Straßen von Whitechapel ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.
Über kaum einen Täter in der Kriminalgeschichte dürfte so sehr spekuliert worden sein wie über "Jack the Ripper". An Theorien zu den Morden mangelt es nicht – höchstens an stichhaltigen Theorien. Im Laufe der Geschichte machten diverse Verdächtige die Runde. Mal soll die Spur der Morde bis ins britische Königshaus hinaufreichen, mal will jemand angeblich die Tagebücher von "Jack the Ripper" gefunden haben, und mal macht sich eine renommierte Krimiautorin auf, im Namen der Aufklärung für viel Geld den Nachlass eines wichtigen Künstlers der damaligen Epoche unwiederbringbar zu zerstören. Gerade vor dem Hintergrund der Whitechapel-Morde von 1888 gibt es immer wieder skurrile Theorien und sonderbare Ereignisse, die zur Mythenbildung ihren Teil beisteuern.
Einen neuen Täter präsentieren auch Henrik P. und Thomas Schachner in ihrem im Militzke-Verlag erschienenen Buch "Jack the Ripper – Anatomie einer Legende" nicht. Auch ansonsten kommt ihr Buch eher unspektakulär daher. P. und Schachner haben sich aber auch ein gänzlich anderes Ziel auf die Fahnen geschrieben, eines, das gerade unter Ripperologen wohl eher selten ist: Ganz nüchtern widmen sie sich lediglich den Fakten. Sie rekonstruieren die Fälle anhand der damaligen Presse und der Polizeiakten. Sie skizzieren den Ablauf der Verbrechen neu, lassen die damaligen Zeugen zu Wort kommen und versuchen möglichst genau die letzten Schritte der Opfer nachzuvollziehen.
Die Verdächtigen, die nach den unterschiedlichen Ripper-Theorien für die Taten verantwortlich sein könnten, stellen sie jeweils kurz vor und erläutern in einer Pro-und-contra-Liste, was für und was gegen die Tätertheorie spricht. Nun sollte man meinen, eine solche objektive, lediglich auf Fakten basierende Betrachtungsweise wäre nichts Neues, in Sachen "Jack the Ripper" ist sie allerdings ein Novum.
Allein die Tatsache, dass P. und Schachner selbst keiner Tätertheorie anhängen, ist schon eher ungewöhnlich, war es doch unter Ripperologen sonst meist üblich, die Whitechapel-Morde so darzustellen, dass sie zur individuell gehegten Tätertheorie passen. Die beiden Autoren bleiben in ihrer Betrachtungsweise bis zum Schluss objektiv, und genau das macht dieses Buch nicht nur einmalig, sondern auch zu einem wichtigen Werk zum Thema "Jack the Ripper". P. und Schachner zeigen auf, was wirklich zu den Fällen bekannt ist, sie rekonstruieren die Fälle minutiös und prüfen bekannte Tätertheorien auf ihre Stichhaltigkeit.
Das, was dieses Buch so wertvoll macht, ist auch die Tatsache, dass man sich einen wunderbaren Überblick zu dem Thema verschaffen kann. Sind die meisten Ripper-Publikationen stets sehr subjektiv gefärbt, so erfährt man bei P. und Schachner, was man als gesichert ansehen kann und was nicht. Hinzu kommt, dass die beiden Autoren Material gesichtet haben, das bislang kaum Eingang in die Literatur zum Thema gefunden hat. Laut Verlagsangaben lagen den beiden die kompletten Polizeiakten vor, teilweise gar bislang ungesehenes Material. Ergänzt haben sie das mit den damaligen Meldungen der Presse, teils auch der deutschsprachigen.
P. und Schachner schildern den Fall aus der damaligen Sicht und skizzieren damit auch sehr plastisch die Verhältnisse und Lebensumstände der Menschen im Londoner East End nach. Die Fakten werden nachvollziehbar dargelegt und der Stil der beiden Autoren liest sich so locker und fesselnd, dass die Lektüre sich recht angenehm gestaltet. Allzu zart besaitete Gemüter werden das in Anbetracht der teils sehr unappetitlichen Bilder und Schilderungen von den Autopsien sicherlich anders sehen, aber das trifft wohl auf so ziemlich jedes Buch zum Thema "Jack the Ripper" zu. Die Morde an sich sind halt eine unappetitliche Angelegenheit, bei der es nichts zu beschönigen gibt.
Auch P. und Schachner können zur Aufklärung der Morde am Ende keine allzu neuen Erkenntnisse beitragen, die wesentlich größere Klarheit bringen. Was neu ist, ist die Entlarvung der Urheberschaft des so genannten "Dear Boss"-Briefes, der damals überhaupt erst den Namen "Jack the Ripper" ins Spiel gebracht hat. Laut P. und Schachner ist der Absender nicht der Mörder selbst, wie sonst immer gemutmaßt wurde, sondern ein findiger Journalist.
Zum Thema "Jack the Ripper" hat P.s und Schachners Werk eine unabstreitbare Eignung zur Basisliteratur: Objektiv in der Betrachtungsweise, fundiert in der Vielzahl an Quellen und stets kritisch in der Beurteilung gängiger Theorien. Die beiden Autoren beleuchten den Themenkomplex auf erfrischende und bei der Thematik durchaus ungewohnte Art und Weise, klammern sie sich schließlich nicht an die verkaufsfördernde Wirkung spektakulärer Tätertheorien. Ihre nüchterne und klare Herangehensweise hat einen geradezu wissenschaftlichen Charakter, der dem Buch eine Glaubwürdigkeit verleiht, die man sonst bei Büchern zum Thema "Jack the Ripper" oft mit der Lupe suchen muss.
Die beiden Autoren haben sich schon jahrelang mit dem Thema "Jack the Ripper" beschäftigt. Henrik P. hat schon viele Aufsätze zum Thema veröffentlicht. Thomas Schachner stellte das größte deutsche Webportal zum Thema "Jack the Ripper" auf die Beine und ist zusätzlich aktiv an der weltweit größten "Ripper"-Website
www.casebook.org beteiligt. Zudem hat er die "Jack the Ripper"-Konferenz in Baltimore 2003 mitorganisiert.
Fazit: Was P. und Schachner in "Jack the Ripper – Anatomie einer Legende" zusammengetragen haben, ist absolut lobenswert - sachlich, kritisch und glaubwürdig. Den Täter können auch sie nicht präsentieren, aber welcher seriöse Forscher mag heutzutage damit noch aufwarten? Was sie aber schaffen, ist ein objektiver Überblick, der gerade im Bereich der deutschsprachigen "Jack the Ripper"-Literatur stets gefehlt hat.
Und so kann man P. und Schachner auf jeden Fall schon mal attestieren, dass sie ein lesenswertes Grundlagenbuch zum Thema abgeliefert haben, das ungleich wertvoller ist als so manche abstruse oder spektakuläre Theorie, egal ob sie von Stephen Knight stammt oder von Patricia Cornwell. P. und Schachner geben der Thematik den nüchternen und sachlichen Blick auf die Tatsachen zurück, der in der versuchten Aufklärung der Verbrechen in den letzten Jahrzehnten viel zu oft gefehlt hat.
Das deutschsprachige Informationsportal zum Thema "Jack the Ripper":
www.jacktheripper.de.
http://www.militzke.de/Meike Schulte [02.06.2006]