Fortsetzung:
Der Batty Street-Zwischenfall
Nach dem Stride-Mord entdeckte in der Batty Street 22 die Vermieterin und Wäscherin Mrs. Kuer in einem Wäschestapel, der ihr von einem Kunden abgegeben worden war, ein blutiges Hemd. Das Haus war vom Tatort in der Berner Street unmittelbar über eine schmale Passage schräg gegenüber der Einfahrt zum Dutfields Yard durch die Hinterhöfe zu erreichen.
"The police then called on Mrs. Kuer and took possession of the shirt and set up surveillance on the house for when the man returned. The matter was considered of considerable importance by Inspector Reid, Inspector Abberline and other senior officers.
The man returned on Saturday, 13 October, and was promptly taken into custody where he was held for about 36 hours until the morning of the 15th. The blood was explained by a friend who got it on the shirt while cutting his corn. It obviously took quite a while to satisfy the police, but eventually they believed the incident had an innocent explanation."
http://forum.casebook.org/showthread.php?p=339051 Der Vorfall bleibt mysteriös: Die Polizei hielt ihn für verdächtig genug, um den Kunden immerhin 36 Stunden lang festzuhalten und zu verhören. Leider ist nicht bekannt, wer dieser Kunde war.
Es besteht die Möglichkeit, dass es ein Familienangehöriger Aarons war, der die Wäsche abgab, da die Familienangehörigen nur rund 100 Meter (Providence Street) bzw. 200 Meter (Greenfield Street) von Mrs. Kuer weg wohnten.
Polizei-Razzia im Oktober:
Die Polizei führte in den folgenden Wochen (3.-18. Oktober) in der Umgebung des Mitre Square und der Berner Street Haus-zu-Haus-Befragungen durch. Der stellvertretende Polizeipräsident Robert Anderson schrieb, dass man alle Männer des Viertels überprüft habe, die den Zeugenaussagen entsprachen und sich blutbefleckter Kleidung entledigen konnten.
Interessanterweise folgte nach dem Double Event die längste Pause zwischen den Ripper-Morden von fast sechs Wochen. Ursache dafür könnte der Ermittlungsdruck durch die Behörden gewesen sein, was für die Annahme spricht, dass die Polizei durch ihre Ermittlungen dem Ripper näher kam, so dass er vorerst pausieren musste, bis die polizeilichen Aktivitäten in seinem Umfeld wieder zurückgingen. Möglich ist auch, dass die Angehörigen von JTR zum ersten Mal Verdacht schöpften und nun begannen, ihn nicht mehr allein zu lassen.
Da Aarons Brüder Woolf und Isaac Schneider waren, gab es in der Familie wahrscheinlich immer genug Kleidungsstücke zum Wechseln. Und wenn Aaron sich in schlechten Phasen seiner zunehmenden psychischen Erkrankung sowieso öfter mal gehen ließ, dürfte er wohl auch regelmäßig frische Kleidung gebraucht und bekommen haben, so dass Aaron als Ripper anfangs nur wenig Probleme mit dem Ersetzen blutverschmierter Sachen gehabt haben dürfte, ohne dass es besonders auffiel - zumindest bis zum Batty Street-Zwischenfall mit dem Fund des blutigen Shirts bei Mrs. Kuer.
Freitag, 9. November 1888: Mord an Mary Jane Kelly im Miller's Court
In ihrer letzten Nacht verließ Mary Jane Kelly mehrmals ihr Zimmer im Miller's Court, Dorset Street 26, und kehrte mit verschiedenen Freiern wieder dorthin zurück, nachdem sie den frühen Abend mit ihrem Exfreund Joseph Barnett verbracht hatte.
Gegen 23.45 Uhr sah ihre Nachbarin Mary Ann Cox, wie Kelly mit einem Kunden auf ihr Zimmer ging. Zwischen 0.30 Uhr und 1 Uhr hörten Cox und Nachbarin Catherine Picket sie singen.
Ihre Nachbarin Elisabeth Prater kehrte gegen ein Uhr zurück, wartete erst 20 Minuten vor dem Eingang zum Court auf ihren Freund und ging, als er nicht kam, noch für zehn Minuten in McCarthys Laden nebenan. Gegen 1.30 Uhr stieg sie die Treppen zu ihrem Zimmer direkt über Kellys hinauf, ohne dort Licht zu sehen oder etwas zu hören, und ging zu Bett.
Der Zeuge George Hutchinson, ein Bewohner des Victoria Home in der Commercial Street, ging am 12. November zur Polizei und sagte aus, dass er seine Bekannte Mary Jane Kelly am 9. November gegen 2 Uhr in der Commercial Street getroffen habe.
Kurz darauf sei sie mit einem Kunden an ihm vorbei zurück auf ihr Zimmer gegangen. Weil der Mann sein Gesicht vor ihm habe verbergen wollen, sei er beiden gefolgt und habe rund eine dreiviertel Stunde den Hof beobachtet, jedoch ohne etwas Verdächtiges wahrzunehmen. Gegen 3 Uhr sei er schließlich gegangen.
Hutchinson beschrieb den Mann als etwa Mitte 30, knapp 1,70 Meter groß, blasser Teint, dunkle Augen und Haare, dünner gezwirbelter Schnurrbart, jüdisches Erscheinungsbild, mürrisches Aussehen, dunkler Mantel, dunkler Hut, kleines Päckchen in seiner Hand.
Sarah Lewis, die gegen 2.30 Uhr zu ihrer Bekannten Mrs. Keyler im Miller's Court ging, um dort zu übernachten, sah gegenüber dem Hofeingang einen Mann stehen - dabei handelte es sich vermutlich um Hutchinson.
Zwischen 3.15 Uhr und 3.45 Uhr hörten sowohl Lewis wie auch Elizabeth Prater einen leisen, unterdrückten Schrei vom Hof her: "Mord!"
Gegen 6 Uhr hörte Nachbarin Marie Ann Cox Schritte im Hof (schränkt jedoch ein, es könnte auch ein Streifenpolizist gewesen sein).
Gegen 7.30 Uhr klopfte Nachbarin Catherine Picket an Kellys Tür, um sich einen Schal zu leihen, aber nichts regte sich.
Gegen 10.45 Uhr wurde Kellys Leiche von Hausverwalter Thomas Bowyer entdeckt, der die Miete eintreiben sollte.
Theoretisch könnte Hutchinson der Täter gewesen sein, der nach dem Verschwinden des Kunden gegen 3 Uhr selbst zu Kelly ging - nur: warum hätte er dann bei der Polizei auftauchen und sich mit dem Geständnis seines "Stalkings" verdächtig machen sollen? Inspektor Abberline hielt ihn für glaubwürdig.
Plausibel wäre aber, dass der von Hutchinson beschriebene Kunde nach 3 Uhr ging - und dass erst der nächste Besucher Kellys der Ripper war. Dann wäre Hutchinsons Beschreibung unbrauchbar.
Bemerkenswert ist jedoch, dass Hutchinson aussagte, er glaube denselben Mann später noch einmal gesehen zu haben, und zwar am 11. November in der Petticoat Lane / Middlesex Street - wo es einen traditionellen Straßenmarkt für Bekleidung gab. Aarons Brüder waren Schneider, so dass es durchaus möglich ist, dass es Kosminski war, den er dort gesehen hat.
Auch die auffällig höherwertige Bekleidung des Kelly-Kunden, die Hutchinson beschrieb, ließe sich mit dem Schneiderhandwerk von Kosminskis Familie erklären.
Merkwürdig war nach den Coroner-Untersuchungen zum Double-Event auch die Anhörung im Fall Kelly: Sie wurde im Distrikt Shoreditch vom dort zuständigen Richter vorgenommen und nicht in Whitechapel, mit der seltsamen Begründung, zuständig sei der Ort der Aufbahrung, nicht der Tatort. Sie wurde bereits am 12. November eröffnet, mit sich nicht zuständig fühlenden Geschworenen, in hohem Tempo durchgepeitscht und schon am selben Tag wieder abgeschlossen. Richter Roderick Macdonald sagte: "Wenn die Geschworenen allein zu der Todesursache zu einem Ergebnis kommen, so ist das alles, was sie zu tun haben."
Zeugen oder Beweismittel zur Strafverfolgung sollten nicht weiter öffentlich thematisiert werden - wahrscheinlich aus ermittlungstaktischen Gründen, weil man einen Tatverdächtigen nicht warnen wollte, während er unter Beobachtung stand, um ihn auf frischer Tat stellen zu können.
In H. L. Adam's Serie "The People on Scotland Yard and its Secrets" von 1912 zitiert der Autor Assistant Commissioner Anderson: "Sir Robert Anderson has assured the writer that the assassin was well known to the police, but unfortunately, in the absence of sufficient legal evidence to justify an arrest, they were unable to take him. It was a case of moral versus legal proof. The only chance the police had, apparently, was to take the miscreant red-handed…"
"Butcher's Row Suspect"
Nach dem Kelly-Mord begann die City Police laut den Aussagen verschiedener Polizisten damit, mehrere Monate lang einen Tatverdächtigen in dem "Butcher's Row" genannten Abschnitt der Aldgate High Street zu observieren.
In Zeitungsinterviews sagte Robert Sagar von der City Police Jahre später, dass man nach dem Kelly-Mord einen Verdächtigen unter Beobachtung gestellt habe, der in der Butcher's Row arbeite und von dem man annehme, dass er der Ripper sei, und dass dieser Mann letztendlich von seinen Leuten in ein Irrenhaus eingeliefert worden sei.
Auch Detective Inspector Henry Cox von der City Police erzählte Jahre später in einem Zeitungsartikel (Thomson’s Weekly News, 1. December 1906) von Observationen, jedoch ohne einen Zeitraum zu nennen oder Ortsangaben zu machen.
Cox: "The man we suspected was about five feet six inches in height, with short, black, curly hair, and he had a habit of taking late walks abroad. He occupied several shops in the East End, but from time to time he became insane, and was forced to spend a portion of his time in an asylum in Surrey. (...) While the Whitechapel murders were being perpetrated his place of business was in a certain street, and after the last murder I was on duty in this street for nearly three months."
Dass der Verdächtige an verschiedenen Adressen zu finden war (es ist nicht ganz klar, ob Cox mit "occupy" nun "bewohnte" meinte oder ob er in den Shops "beschäftigt" war), passt zur Geschichte Kosminskis: Seine Familie hatte mehrere Adressen und Shops, und sie zogen in der Zeit der Ermittlungen auch um.
Mögliche Verbindung Aaron Kosminskis zur Butcher's Row: Sein Verwandter Jacob Cohen war ein erfolgreicher Metzger und Geschäftsmann aus Manchester, der für rund zwei Jahre in einer geschäftlichen Angelegenheit in London wohnte: Er gründete 1890 die Firma "Davies, Cohen & Company" in der Carter Lane 51, St. Pauls (City of London), wo er gemeinsam mit Thomas Coughtrey Davies und Aarons Bruder Woolf Abrahams Mäntel herstellte und verkaufte. Interessanterweise wurde die Firma im Juli 1891, wenige Monate nach Aarons dauerhafter Einweisung in Colney Hatch, wieder aufgelöst.
Interessant daran ist, was Detective Inspector Henry Cox über die Verschleierungstaktik der polizeilichen Überwachungsarbeit schrieb, die der jüdischen Gemeinde nicht verborgen blieb: "We told them we were factory inspectors looking for tailors and capmakers who employed boys and girls under age, and pointing out the evils accruing from the sweaters' system asked them to co-operate with us in destroying it."
Dies könnte zu Aaron als Ripper-Verdächtigen passen, dessen Brüder Schneider in der von zahlreichen Schneidern bewohnten Greenfield Street waren, und dessen Verwandter Jacob Cohen wahrscheinlich Verbindungen in die Butcher's Row hatte. Vielleicht hatte Jacob Cohen Mitverantwortung für Aaron übernommen und/oder ihm vielleicht eine einfache Tätigkeit in der Butcher's Row besorgt, so dass er dadurch unter Aufsicht stand.
Für diese Interpretation spricht auch der Zwischenfall mit dem Hund im Dezember 1889 und die Tatsache, dass es Cohen war, der Aaron schließlich 1891 ins Mile End Workhouse brachte, von wo es weiter in die Irrenanstalt ging (s.u.).
Über Kosminski ist leider nur bekannt, dass er in Colney Hatch eingeliefert wurde, es gibt bisher keine Hinweise auf eine vorübergehende Unterbringung in Surrey. Jedoch wäre es plausibel, dass sich zunächst seine Angehörigen um ihn kümmerten, bis sich sein Zustand so weit verschlechterte, dass er für sie nicht mehr zu bewältigen war (möglicherweise entzog er sich ihrer Aufsicht und tötete Alice McKenzie), worauf sie ihn unter falschem Namen in ein privates Sanatorium steckten, bevor er von der Polizei entdeckt und identifiziert wurde.
Auch eine Verwechslung der Kliniken oder mit einem anderen Ripper-Verdächtigen wäre möglich.
Mittwoch, 17. Juli 1889: Mord an Alice McKenzie in der Castle Alley
Police Constable Walter Andrews entdeckte gegen 0:50 Uhr in der Castle Alley den leblosen Körper von Alice McKenzie, etwa eine halbe Stunde, nachdem er das letzte Mal auf seiner Runde dort gewesen war. Zeugen der Tat gab es keine. Ihre linke Halsschlagader war durchtrennt, ihr Rock war hochgeschoben und der Unterleib mit einem Messer traktiert worden, allerdings waren die Verletzungen eher oberflächlich.
Die Polizisten und die untersuchenden Ärzte waren uneinig darüber, ob es sich um ein weiteres Ripper-Opfer handelte. Einiges passte ins Schema: McKenzie übernachtete in einem Armenhaus, war rund 40 Jahre alt, Prostituierte und Trinkerin - und wurde im Zentrum von JTRs Aktivitäten getötet. Allerdings wurde ein anderes Messer benutzt, und vermutlich war dieser Täter anders als JTR Linkshänder. Zudem wurde sie nicht gewürgt, es gab keinen vollständigen Kehlenschnitt, die Wunden waren nicht so tief und der Unterleib war nicht ausgeweidet.
Der Täter hätte wahrscheinlich durchaus genug Zeit für weiterreichende Verstümmelungen gehabt, denn er war wohl diesmal nicht gestört worden. Indiz dafür: Obwohl es kurz geregnet hatte, war der Gehweg unter McKenzies Körper trocken, was bedeutet, dass sie wohl schon vor dem Schauer getötet wurde und somit einige Zeit unentdeckt dagelegen hatte. Möglicherweise war es ein Nachahmungstäter, der dem Ripper diesen Mord in die Schuhe schieben wollte.
Falls es doch JTR war, deutet alles darauf hin, dass er nicht mehr auf der Höhe seiner physischen und/oder psychischen Kräfte war.
Auch der große zeitliche Abstand zu den übrigen Taten fällt auf: JTR hatte eine sehr kurze Abkühlphase, so dass längere Pausen wohl nur durch widrige Umstände wie Krankheit, Einweisung oder Überwachung durch Familie und/oder Polizei zu erklären sind.
Dezember 1889: Der Hunde-Zwischenfall
Im Dezember 1889 stand Aaron Kosminski vor einer behördlichen Anhörung. Er sollte ein Bußgeld bezahlen, weil er einen Hund ohne Maulkorb mit sich geführt hatte. Er sagte aus, dass er manchmal unter dem Namen seines Bruders "Abrahams" unterwegs sei, und dass der Hund einem "Jacobs" gehöre: "I goes by the name of Abrahams sometimes, because Kosminski is hard to spell… I cannot pay, the dog belongs to Jacobs, it is not mine…"
Mit Jacobs meinte er vermutlich seinen Verwandten Jacob Cohen oder vielleicht einen Nachbarn, den Butcher Aaron Jacobs, Greenfield Street 6. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach dem Mord an Frances Coles im Februar 1891 im East End ein Gerücht die Runde machte, der Mörder sei ein jüdischer Butcher namens "Jacobs".
Benjamin Leeson schrieb in "Lost London: The Memoirs of an East End Detective" (1934):
"... a story circulated that the Ripper was a butcher, who wore blue overalls and a leather apron, and an English Jew named Jacobs, a perfectly harmless man, somehow attracted suspicion to himself. Possibly because, working in a slaughter house, he always wore a leather apron. People would point Jacobs out in the street as a suspected man, and more than once he had to run for it. I myself was often obliged to take him to the police station for protection. The thing so preyed on the poor fellow's mind that it finally caused him to lose his reason."
Wenn Aaron öfter die Namen seiner Verwandten als Alias benutzte, könnte dies die Ermittlungen der Polizei behindert und zu manchen der bekannten Unstimmigkeiten geführt haben, weil dadurch einige Verbindungen nicht gleich aufgedeckt werden konnten.
12. Juli 1890: Vorübergehende Einweisung ins Krankenhaus
Aaron Kosminski wurde von seinem Schwager Woolf Abrahams aus der Providence Street zur Behandlung in das "Mile End Old Town Workhouse" Krankenhaus eingewiesen. Aus dem Aufnahmeregister geht hervor, dass er schon seit mindestens zwei Jahren als geisteskrank galt.
Als seine Wohnadresse wurde Sion Square 3 / Mulberry Street bei seinem Bruder Woolf, und sein Beruf als Haarschneider angegeben.
Schon drei Tage später wurde er wieder entlassen und in die Obhut seines Schwagers Morris Lubnowski, wohnhaft Greenfield Street 16, übergeben.
Interessant ist, dass eine zweijährige psychiatrische Vorgeschichte angegeben wird: Dies deutet darauf hin, dass Kosminski bereits 1888/1889 in einer Anstalt gewesen sein könnte.
Die Polizei soll jedenfalls laut einem Pressebericht schon Ende 1888 alle privaten Sanatorien auf der Suche nach dem Ripper überprüft haben:
"The Dublin Express London correspondent on Thursday gave as the latest police theory concerning the Whitechapel murderer, that he has fallen under the strong suspicion of his near relatives, who to avert a terribly family disgrace, may have placed him out of harm's way in safe keeping. As showing that there is a certain amount of credence attached to this story, detectives have recently visited all the registered private lunatic asylums, and made full inquiries as to the inmates recently admitted."
War Kosminski der Ripper, würde dies den Zeitraum bis zu seiner offiziellen Einweisung nach Colney Hatch 1891 erklären.
4. Februar 1891: Endgültige Einweisung in die Psychiatrie
Nach der Bedrohung seiner Schwester mit einem Messer wurde Kosminski von seinem Schwager Jacob Cohen in das "Mile End Old Town Workhouse" Krankenhaus eingewiesen, und von dort aus am 7. Februar weiter in die psychiatrische Anstalt "Colney Hatch Lunatic Asylum" verlegt (wobei leider aus den Akten nicht klar hervorgeht, ob damit Aarons oder Jacobs Schwester gemeint war).
Der Metzger Jacob Cohen gab folgende Beschreibung über Kosminski ab: "Er läuft durch die Straßen und hebt Brotkrümel aus dem Rinnstein auf um diese zu essen. Er trinkt Wasser aus der Tränke und weigert sich Essen aus den Händen von Leuten anzunehmen. Er hob ein Messer auf und bedrohte damit die Schwester umzubringen. Er ist sehr dreckig und weigert sich, zu waschen. Er versuchte in all den Jahren kein einziges Mal Arbeit zu finden."
Das Einweisungsformular weist ihn als bereits "seit sechs Jahren irrsinnig" aus. Weiterführende Notizen in seiner Akte: "Er behauptet, dass er von einer inneren Stimme gelenkt werde und die Aufenthaltsorte aller Menschen kenne."
In den medizinischen Unterlagen steht auch: "he is guided and his movements altogether controlled by an instinct that informs his mind" und "he refuses food because he is told to do so". Er hatte also akustische Halluzinationen und hörte befehlende Stimmen, die ihn zu seinen Taten zwangen - dies wird laut der forensischen Psychiatrie immer wieder von wahnkranken Mördern erzählt.
Während seines Aufenthalts in den psychiatrischen Einrichtungen wurde Aaron Kosminski zwar als harmlos angesehen. Laut Ripperologe Donald Rumbelow wurde er aber zweimal gewalttätig: Er soll einen Pfleger mit einem Stuhl beworfen und einmal gar eine Krankenschwester mit einem Messer bedroht haben.
Dass Aaron Frauen mit einem Messer bedrohte und behauptete, von einer inneren Stimme gelenkt zu werden, ist ein gutes Indiz für eine mögliche Täterschaft.
Der Journalist George Sims schrieb über den Ripper-Fall:
"He was a Polish Jew of curious habits and strange disposition, who was the sole occupant of certain premises in Whitechapel after night-fall. This man was in the district during the whole period of the Whitechapel Murders, and soon after they ceased certain facts came to light which showed it was quite possible that he might have been the Ripper. He had at one time been employed in a hospital in Poland. He was known to be a lunatic at the time of the murders, and some-time afterwards he betrayed such undoubted signs of homicidal mania that he was sent to a lunatic asylum."
Dies passt auf Kosminski. Sims schrieb auch:
"A curious story has got out here that if true explains the long rest which Jack the Ripper has been taking from his diabolical work in the Whitechapel district, London. A lady from this city visiting a distinguished official in London, states in a letter written to friends here that the Ripper has been under arrest in the London metropolis for some time. He is a medical student and was arrested on the strength of information given by his own sister.
The authorities, the letter states, have kept the matter a strict secret in order to work up the case against the prisoner, and they are said to have a very complete chain of evidence."
Auch diese Aussage würde gut auf Kosminski passen, der ja offenbar vor allem wegen des Angriffs auf seine Schwester eingeliefert wurde.
Freitag, 13. Februar 1891: Mord an Frances Coles in Swallow Gardens
Coles traf gegen 1:45 Uhr zufällig eine Bekannte, die Prostituierte Ellen Callagher, in der Commercial Street, die beiden liefen gemeinsam Richtung Minories und begegneten einen "brutalen Mann mit einer Baskenmütze", an den Callagher sich als einen früheren Kunden erinnerte. Sie will Coles gewarnt haben, dass der Mann ihr vor einiger Zeit ein blaues Auge geschlagen habe, und sie solle sich nicht mit ihm abgeben. Coles befolgte den Rat ihrer Freundin allerdings nicht und unterbreitete dem Mann ein Angebot, worauf die beiden ohne Callagher in Richtung Minories gingen.
Carmen Friday und die Brüder Knapton gingen kurz nach 2 Uhr morgens durch die Eisenbahn-Unterführung Swallow Gardens. Sie sahen eine Frau und einen Mann, die an der Ecke der Royal Mint Street standen. Gegen 2:15 Uhr entdeckte Police Constable Ernest Thompson auf seiner Runde unter der Eisenbahnbrücke die Prostituierte Frances Coles mit durchschnittener Kehle.
Verdächtigungen wie im Automn of Terror mit den Gerüchten um "Lether Apron" verbreiteten sich unter den Bewohnern des Eastends, diesmal sollte laut Mundpropaganda ein gewisser "Jacobs" (!) der Mörder gewesen sein (vgl. Timeline des Casebook). Die Justiz klagte später Coles gewalttätigen Freund Thomas Sadler an, der jedoch freigesprochen wurde, weil er ein Alibi hatte.
Coles war auch eine Prostituierte, der die Kehle aufgeschlitzt wurde, allerdings wurde sie nicht zuvor gewürgt, sondern einfach zu Boden gerissen, das Messer soll ebenfalls ein anderes gewesen sein - der obduzierende Dr. Phillips hielt jedenfalls JTR nicht für den Täter.
Interessant ist allerdings, dass in gewissen Teilen der Bevölkerung der Name "Jacobs" die Runde machte, was doch sehr nach "Jacob" klingt. Der Metzger Jacob Cohen war eben jener Verwandte von Aaron Kosminski, der Aaron in der Woche vor dem Mord in die Anstalt einlieferte.
Auch hatte Kosminski beim Hunde-Zwischenfall gesagt, dass das Tier einem "Jacobs" gehöre (s.o.). Könnte hier ein Verdacht an die Öffentlichkeit durchgesickert sein, der sich nach dem Stille-Post-Prinzip verselbständigt hat?
1892: Ermittlungs-Ende
Die Akte Jack the Ripper wird von der Polizei offiziell geschlossen.
Dies passt zeitlich gut zu Kosminskis Einlieferung: War Aaron der Ripper-Hauptverdächtige, so konnte der Fall ad acta gelegt werden, nachdem klar war, dass er die Psychiatrie nie mehr verlassen würde.
23. Februar 1894: Das Macnaghten-Memorandum
Chief Constable Sir Melville Macnaghten verfasst sein polizeiinternes Memorandum, indem Kosmiski als einer der drei Hauptverdächtigen genannt wird:
"Kosminiski war ein polnischer Jude und Einwohner in Whitechapel. Dieser Mann verfiel dem Wahnsinn, da er sich über viele Jahre hinweg dem Laster der Selbstbefriedigung hingegeben hatte. Er hatte einen großen Hass auf Frauen, besonders auf Prostituierte und hatte starke mörderische Neigungen. Er wurde etwa im März 1889 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Es gab viele Sachverhalte in Verbindung mit diesem Mann, die ihn zu einem überzeugenden Verdächtigen machten."
Dass ein Teenager durch Selbstbefriedigung irrsinnig würde, ist zwar überholter Aberglaube - jedoch weiß die forensische Psychiatrie, dass es manchmal umgekehrt ist: So gilt zwanghafte Masturbation als ein Symptom von mangelnder Impulskontrolle und sexueller Obsession bei einer psychischen Erkrankung.
Über eine (vorübergehende) Einweisung Aaron Kosminskis im März 1889 ist jedoch leider nichts bekannt, er kam erst im Februar 1891 nach Colney Hatch. Allerdings betonte Macnaghten, dass es "viele Sachverhalte" gäbe, die den Verdacht gegen Kosminski begründeten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Aaron Davis (David) Cohen am 7. Dezember 1888 per Gerichtsbeschluss erst ins Whitechapel-Arbeiterkrankenhaus eingewiesen wurde , und dann wegen seiner Unkontrollierbarkeit am 21. Dezember direkt weiter ins Irrenhaus Colney Hatch, wo er am 20. Oktober 1889 verstorben sein soll.
Hier könnte es in den Erinnerungen der Polizisten zu einer Verwechslung von Aaron und David Cohen gekommen sein. Beide hatten das gleiche Alter, Cohen war wie Kosminski ein Haircutter, beide sprachen Deutsch, beide waren jüdisch und beide offenbar aus Polen und litten an der gleichen Geisteskrankheit. Und um die Einlieferung von Aaron hatte sich Jacob Cohen gekümmert. Bei beiden Patienten war zudem ein Dr. Seward anwesend: als David Cohen im Oktober 1889 starb, bei Aaron Kozminskis Einweisung im April 1891 und auch bei dessen Transfer nach Leavesden 1894.
19. April 1894: Überführung nach Laevesden
Kosminski wurde aus der psychiatrischen Anstalt "Colney Hatch" nach Laevesden, einem Heim für "ältere Schwachsinnige", gebracht und wurde dort als "chronisch harmlos geisteskrank und als Idiot oder geistesschwach" in der Kartei geführt. In Aufzeichnungen wird über ihn berichtet: "Hat den Bezug zur Realität komplett verloren. Kann sich nicht mehr an sein Alter erinnern und wie lange er schon in dem Heim wohnt. Hat Halluzinationen, sieht Erscheinungen und hört Stimmen. Zeitweilig verhält er sich sehr stur. Er ist unordentlich, aber sauber. Er arbeitet nicht". In diesem Heim verbrachte er die nächsten 25 Jahre bis zu seinem Lebensende.
Interessant ist die zeitliche Nähe zu Macnaghtens Memorandum: Könnte die Verlegung von Kosminski von Colney Hatch nach Leavasden vielleicht eine Folge der Erwähnung in dem Memorandum im Februar gewesen sein, vielleicht aus Sorge um ein mögliches Durchsickern des Inhalts an die Öffentlichkeit?
24. März 1919: Kosminskis Tod
Ab Anfang 1919 verschlechterte sich Aaron Kosminskis Gesundheitszustand drastisch, bis er dann am 24. März in Laevesden starb.
Fazit
Die Theorie, dass JTR ein psychisch kranker jüdischer Haarschneider war, der im Irrenhaus endete, erklärt den ansonsten merkwürdigen Schluss im Ripper-Fall: Nach dem Ende der Mordserie laufen die Ermittlungen angeblich ergebnislos aus, die Akte wird geschlossen - aber Jahre später erklären hochrangige Polizisten in ihren Memoiren oder Zeitungsartikeln, der Ripper wäre eigentlich identifiziert worden.
Nach dem Mord an Mary Ann Nichols verdichteten sich im Eastend schnell Gerüchte, dass die Morde von einem Juden mit dem Spitznamen "Leather Apron" verübt worden sein sollten, was so auch in den Zeitungen verbreitet wurde und schon zu ersten antisemitischen Aufwallungen und Kundgebungen führte.
Superintendent Thomas Arnold ordnete daher nach dem Double Event mit Erlaubnis von Polizeichef Charles Warren an, das Goulston Street Graffiti auf der Stelle zu entfernen, explizit aus dem Grund, um mögliche Pogrome gegen Juden zu verhindern. In seinem Bericht vom 9. November 1888 schreibt Arnold: "Ich bitte darum berichten zu dürfen, dass am Morgen des 30. September, dem Letzten, meine Aufmerksamkeit auf eine Aufschrift an der Wand des Eingangs zu Behausungen in der Goulston Street 108, Whitechapel gerichtet wurde, welche aus folgenden Worten bestand: 'Die Juwes sind [nicht] die Menschen, die nicht grundlos beschuldigt werden'.
Ich wusste, dass aufgrund der Verdächtigung eines Juden namens John Pizer, genannt ‚Leather Apron‘, der beschuldigt wurde, den kürzlich in der Hanbury Street verübten Mord begangen zu haben, ein starkes Gefühl gegen die Juden im Allgemeinen aufkam. Da das Gebäude, auf dem sich die Aufschrift befand, mitten in der Lokalität liegt, die hauptsächlich von dieser Religions-gemeinschaft bewohnt wird, war ich besorgt darüber, dass wenn die Aufschrift verbleibt, diese für einen Aufstand verantwortlich sein könnte. Daher habe ich erwogen, dass es wünschenswert sei, sie aufgrund der Tatsache zu entfernen, dass sie sich an einer Stelle befand, die gut von den Menschen einsehbar war, die dort hinein- und hinausgehen."
Falls man den Ripper tatsächlich durch einen Zeugen als einen verrückt gewordenen jüdischen Haarschneider identifizierte, hätte die Bekanntgabe demnach zu schrecklichen Übergriffen bis hin zum Pogrom gegen die jüdische Gemeinde in Whitechapel im Allgemeinen und seine Familie im Besonderen führen können. Denn an die Eröffnung eines Prozesses wäre schon wegen des Gesundheitszustands des Tatverdächtigen nicht zu denken gewesen. Und selbst wenn: Ob die dünnen Beweismittel für eine Verurteilung ausreichend gewesen wären, darf bezweifelt werden - ein Freispruch aus Mangel an Beweisen wäre aber verheerend gewesen.
Wegen der sowieso schon explosiven sozialen Lage, einem weitverbreiteten Antisemitismus und der aufgestauten Wut durch den Ripper-Terror wäre wohl zu erwarten gewesen, dass viele Menschen dann ihre Aggressionen an Sündenböcken ausgelassen hätten.
Die Behörden könnten daher zu dem Schluss gekommen sein, es sei angesichts der explosiven Situation im Eastend sicherer, den todkranken Irren stillschweigend in einer Anstalt verrotten zu lassen und lieber weiter zähneknirschend vor der Öffentlichkeit wie Versager in diesem Fall dazustehen, als eine Katastrophe im Viertel zu riskieren.
Ende