Hallo Zilch!
Da hast Du sicher recht. Im Moment neige ich (noch) dazu, dass der Täter tatsächlich zumindest den "Dear Boss" und den "Saucy Jacky" Brief verfasst hat.
Die Polizei war der Ansicht, dass der Reporter Thomas Bulling die Briefe geschrieben hat. Weißt du etwas, dass die Polizisten, die Bulling kannten und die Schrift verglichen haben, nicht wussten?
Die Ankümdigung You will soon hear of me with my funny little games wird ja auch umgesetzt, das Abtrennen eines Ohrs hat aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt.
Die Vermutung, dass ein Serienmörder weitermachen wird, ist ja wohl nicht weit hergeholt. Und wenn jemand falsche Bekennerbriefe schreibt, um Angst zu verbreiten, ist eine solche Drohung ja wohl zu erwarten.
Was das Ohr betrifft: Dem Obduktionsbericht nach hat JTR nicht versucht, das Ohr von Eddowes abzuschneiden - vielmehr hat er beim Durchtrennen der Kehle das Ohrläppchen mit erwischt und fast ganz mit abgeschnitten. Offenbar hat da unser Witzbold, der den Brief geschrieben hat, etwas aus dem ärztlichen Vortrag beim Inquest nicht richtig verstanden.
Diese angeführten Gründe von Auswanderung über Krankheit bis Tod sind alle denkbar. Aber sie sind im Grunde erst einmal Hilfskonstrukte, weil die erste Annahme ausgeschlossen scheint. Ist sie das wirklich?
Das sind keine Hilfskonstrukte. Das sind alles Alternativen, die wesentlich wahrscheinlicher sind, als dass ein Triebtäter, der so schnell eskaliert wie JTR, sich plötzlich entscheidet aufzuhören, wenn er gerade am erfolgreichsten ist. Kannst du jeden Kriminalisten oder Profiler dazu fragen.
Und vor allem ist die Irrenanstalt eine Alternative, die deshalb wahrscheinlicher ist, weil zahlreiche am Fall beteiligte Polizisten aussagten, ihr Hauptverdächtiger wäre eben dort gelandet.
Oder weißt du etwas, das diese Polizisten nicht wussten? Etwas, das die Wahrscheinlichkeit deiner Interpretation über die der anderen Alternativen stellt?
Hm, eigentlich dachte ich, er wäre sogar sehr organisiert, zumindest auf die C5 fokussiert:
- Gebiet: Enges, fast abgegrenztes Revier ohne Ausschläge z.B. ins Herz der Londoner City
- Tatzeit: Immer an Wochenend- oder Feiertagen, immer zwischen Mitternacht und frühem Morgen
- Jagdmuster: Ausschließlich Prostituierte, die meisten davon Mitte 40
- Tatwaffe: Immer Messer, stets mitgebracht und wieder mitgenommen
- Tötung: Stets Kehle durchtrennt (C5)
Also ich sehe den Täter hier planvoll und organisiert.
Mit der Ansicht stehst du ziemlich allein auf weiter Flur: Mir ist kein Kriminalist oder Profiler bekannt, der JTR als "planvoll und organisiert" eingestuft hätte.
Gehen wir die Punkte mal durch:
- Gebiet: Kein Argument für Grad der Organisiertheit - sondern vielmehr eine ganz praktische Frage. Warum denn in die Ferne schweifen, wenn die präferierte Opfergruppe so nahe ist? Es gab im East End über 1200 Gelegenheitsprostituierte, die i.d.R. ohne Schutz durch Zuhälter allein auf der Straße unterwegs waren. Für einen Täter aus dem East End lag sein Jagdgebiet direkt vor seiner Haustür: Er konnte schnell zuschlagen und schnell wieder von der Straße verschwinden.
Darüber hinaus ist der Aktionsradius eines Täters auch von bestimmten Rahmenbedingungen abhängig, wie Wirtschaftskraft (kann ich mir längere Reisen leisten), Zeit (bis wann muss ich wieder wo sein) und notwendige Ortskenntnis.
- Tatzeit: Was hat das mit organisiert zu tun, wenn man nur zu bestimmten Zeiten Gelegenheit hat, auf die Jagd zu gehen? Wenn du z.B. sechs Tage die Woche arbeiten musst bis zum Umfallen und nur an Sonntag frei hast, um deinen Privatangelegenheiten nachzugehen - ist das deine eigene Organisation oder nicht doch eher eine Beschränkung durch äußere Bedingungen?
- Jagdmuster: Dass ein Täter einen bestimmten Opfertypus bevorzugt, ist kein Argument für Planung. Ein Täter folgt seinen Bedürfnissen, auch ein unorganisierter Täter hat seine Bedürfnisse, seinen bevorzugten Opfertypus, der ihn triggert - es sei denn er ist ein sog. "Allesfresser". Darüber hinaus sind ältere obdachlose alkoholisierte Prostituierte auch besonders leichte Opfer, das zu erkennen braucht man keine Planung, nur rudimentären Instinkt.
- Tatwaffe: Messer trug im East End fast jeder mit sich herum, sowohl als Allzweckwerkzeug wie auch zur Selbstverteidigung. In vielen Berufen, die ihm East End weit verbreitet waren, brauchte man scharfe Messer, vom Metzger über Fischfilettierer und Koch, vom Zigarrenmacher bis zum Schuster. Dass jemand im East End sein alltägliches Arbeitswerkzeug bei sich trug oder mitnahm, hat wenig mit "Organisiertheit und Planung" zu tun.
- Tötung: Auch unorganisierte Täter lernen bei ihren Taten, wie sie es am besten hinbekommen. Darüber hinaus: Wer schon mal ein Tier geschlachtet hat, kann dies auch als unorganisierter Täter auf Menschen anwenden. Ein Kehlschnitt war typisch fürs Schlachten von Tieren. Also: Auch kein Argument für Organisation und Planung.
Die Verstümmelungen nehmen an Umfang allerdings beständig zu, da braucht er offenbar immer eine noch höhere Dosis für den Kick.
Stimmt: Und genau diese schnelle Eskalation mit den extrem kurzen Abkühlphasen deutet nicht auf einen "planenden" Täter hin, sondern auf einen, der seinen Trieben nachgibt, wann immer er eine Gelegenheit dazu sieht.
Ein organisierter Täter hätte in dieser dicht bevölkerten Gegend z.B. nach einem Ort gesucht, wo er tatsächlich Ruhe vor Störung gehabt hätte. Er hätte z.B. vor den Taten einen ruhigen Lagerraum oder Keller gesucht, wo er die Opfer hinbringen konnte, statt auf gut Glück in der Öffentlichkeit zuzuschlagen.
Ein gutes Gegenbeispiel für organisierte Täter ist Henry Howard Holmes aka Herman Webster Mudgett. Mudgett wurde 1861 in den USA geboren, studierte Medizin und baute sich in Chicago ein Horror-Hotel voller Geheimgänge und einer Folterkammer mit Krematorium im Keller. Er hat dort Dutzende von Opfern in aller Ruhe ermordet und zerstückelt.
MfG, Arthur Dent