Autor Thema: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!  (Gelesen 76178 mal)

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #45 am: 23.10.2015 00:24 Uhr »
Hallo Lestrade,

ich muss mich offenbar erst noch etwas mehr mit Kosminski beschäftigen, denn du hast natürlich recht, wenn man die Angaben bei der Einlieferung durchliest, dann wird klar, dass Aaron schon ziemlich am Ende gewesen sein muss:
"Er läuft durch die Straßen und hebt Brotkrümel aus dem Rinnstein auf um diese zu essen. Er trinkt Wasser aus der Tränke und weigert sich Essen aus den Händen von Leuten anzunehmen. Er hob ein Messer auf und bedrohte damit seine Schwester sie umzubringen. Er ist sehr dreckig und weigert sich, sich zu waschen."

In so einem Zustand wäre er extrem aufgefallen und hätte sicher keine Prostituierte mit an ein stilles Örtchen bekommen, mal ganz davon abgesehen, dass er wohl auch kaum noch in der Lage gewesen wäre, erfolgreich eine Mordaktion durchzuziehen.

Schön - vergessen wir die Hypothese. Wäre aber ein schöner Ansatz für eine behördliche Vertuschung gewesen... Aluhut aufsetz... verschwörungstheoretisier... 
:wacko1:

MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #46 am: 23.10.2015 12:14 Uhr »
Wäre aber ein schöner Ansatz für eine behördliche Vertuschung gewesen... Aluhut aufsetz... verschwörungstheoretisier...

Vielleicht gab es davon einen Hauch, denn immerhin ist es möglich, dass ein paar Beamte gewusst haben könnten wer der Ripper wirklich war... und lange Zeit, mehr oder weniger, ihre Münder verschlossen hielten... aus welchen Gründen auch immer...
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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #47 am: 23.10.2015 16:39 Uhr »
Arthur, vielleicht interessant für dich!

Ich rate ja immer dazu, Kosminski mit Richard Trenton Chase zu vergleichen (Spar die aber die Tatortbilder, die sind immer Kellymäßig…), um sich so ein besseres Bild von der Psyche Jack the Rippers zu machen.

Zunächst ist das erst einmal eine Krankheit, ein schweres Schicksal mit dem es umzugehen gilt und das hat nichts mit Kriminalität zu tun. Hier einmal ein treffendes Beispiel:

http://www.vice.com/de/read/so-fuehlt-sich-akute-schizophrenie-an-227/?utm_source=vicefb

Entwickelt jemand damit jedoch Gewalt- und Tötungsfantasien dazu, werden die Taten ähnlich sein wie beim Ripper und Chase.

Richard Trenton Chase:

https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Trenton_Chase

„Das ganze Syndikat scheffelte Geld, indem es meiner Mutter den Auftrag gab, mich zu vergiften. Ich kenne sie alle, und sie landen bestimmt noch vor Gericht – ich muß nur noch alles auf eine Reihe kriegen.“

Während er älter wurde, entwickelte er eine Hypochondrie, die sich darin äußerte, dass er behauptete, sein Herz würde zeitweise aufhören zu schlagen, oder dass jemand seine Lungenarterie gestohlen hätte. Weiterhin fiel er dadurch auf, dass er Orangen an seinen Kopf hielt, in dem Glauben, das Vitamin C würde direkt durch sein Gehirn absorbiert.

Später wurde festgestellt, dass Chase eine Abneigung gegen konventionellen Geschlechtsverkehr hatte und nur durch Gewalt und Nekrophilie erregt werden und zum Orgasmus kommen konnte

1976 wurde Chase in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, nachdem er sich Kaninchenblut injiziert hatte und daraufhin an einer Blutvergiftung erkrankt war.[3] Dort redete er häufig mit dem Personal über seine Fantasien, Tiere zu töten. Einmal wurde er vom Klinikpersonal mit blutverschmiertem Mund aufgegriffen, nachdem er Vögel getötet und deren Blut getrunken hatte.

Am 21. Januar 1978 tötete er die im dritten Monat schwangere Teresa Wallin in ihrem Haus mit drei Schüssen. Danach verging er sich an der Leiche, verstümmelte sie und badete in ihrem Blut.

Am 27. Januar betrat Chase das Haus der 28-jährigen Evelyn Miroth... Wie bereits bei Teresa Wallin übte er an Miroths Leiche nekrophile Handlungen und Kannibalismus aus.

Chase kehrte nach der Tat in sein Haus zurück, wo er das Blut des getöteten Kleinkindes trank und Teile der inneren Organe verzehrte

„Jeder hat doch eine Seifenschale. Wenn man die Seife hochhebt und die Unterseite trocken ist, dann ist alles gut. Ist aber alles glitschig, dann heißt das, dass man eine Seifenschalenvergiftung hat.“

Auf die Frage, nach welchen Kriterien er seine Opfer gewählt hatte, antwortete er, dass Stimmen ihn dazu aufgefordert hätten, zu töten. Dann sei er durch die Straßen gelaufen und hätte an Türen gerüttelt, bis er eine gefunden hätte, die sich öffnen ließe. Auf Resslers Frage hin, warum er nicht eingebrochen sei, antwortete er, dass eine verschlossene Tür doch bedeute, dass man nicht willkommen sei

(Denk mal an den Millers Court)

Aaron Kozminski:

His belief that he was “ill, and his cure consists in refusing food,” and his belief that he was “under protection of of the Russian Consulate”… He also claimed that “he knows the movements of all mankind” and noted the presence of what he called “instinct” usw. (Rob House)

Karsten.
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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #48 am: 25.10.2015 15:51 Uhr »
Hallo Lestrade,

moderne Kenntnisse über die Psychopathologie von Serienkillern können durchaus eine Hilfe sein, ein Profil von JTR zu erstellen. Das habe ich ja auch für die Metzger-Hypothese genutzt.

Aber man muss mit vermeintlichen Parallelen natürlich auch aufpassen, denn die Psyche und ihre Entwicklung ist eine komplexe Angelegenheit. Während einige Serienkiller wie Richard Trenton Chase offenbar psychiatrisch gesehen eine Wahnerkrankung (Psychose) aufweisen, haben viele andere "lediglich" eine schwere antisoziale Persönlichkeitsstörung, sind also das, was man unter dem veralteten Begriff als "Psychopathen" bezeichnet. Ted Bundy z.B. war ein Psychopath, er war absolut klar im Kopf und hatte keine Wahnvorstellungen. Er war nur ein absolut empathieloser, rücksichtsloser Egoist, der seine sadistischen Neigungen auslebte - und im Gegensatz zu Psychopathen sind die meisten psychotischen Menschen eine größere Gefahr für sich selbst als für ihre Umwelt.
Angesichts der Verstümmelungen und dem plötzlichen Ende der Serie sowie der Aussagen der Polizei zur Einweisung gehe ich inzwischen zwar auch davon aus, dass JTR eher der psychotischen als der psychopathischen Sorte von Serienkillern zuzurechnen ist, jedoch wissen wir leider immer noch zuwenig über die Motive von JTR, da wir ja nur Verdächtige haben.

Was mir im Profil Kosminskis bisher noch fehlt, sind erstens frühere Anzeichen beginnender Delinquenz und zweitens der finale Stressauslöser, der die Initialzündung für die Morde gab.


Ich hätte da übrigens noch eine Frage:
Gibt es eigentlich Verbindungen von Kosminski und seiner Familie zu Zeugen, so wie im Falle Jacob Levy zu Joseph Hyam Levy?


MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #49 am: 25.10.2015 21:13 Uhr »
Hallo Arthur,

Das Stichwort sollte Komorbidität sein. Letzten Monat haben wir im JTRForums über Jack the Ripper´s Psyche diskutiert und dabei habe ich diesen Begriff eingeworfen. Auch ein Psychopath kann an einer Shizophrenie leiden und Jack the Ripper hätte ein Psychopath sein können, der an einer (paranoiden) Schizophrenie litt. Ted Bundy, ohne diese Zweiterkrankung im Hintergrund, ging organisierter vor. Das ist ja auch das wichtige an der Sache, dass wir an der Vorgehensweise eines Täters erkennen können, was ist da noch im Hintergrund liegt. Das ist wichtig bei der Tätersuche. Im Falle Jack the Ripper musst Du nicht nach einem "Ted Bundy" suchen. Du musst nach jemanden suchen, der sich Orangen an den Kopf hält oder dir was von Seifenschalen erzählt, nach einem, der denkt, er wird vom Russischen Konsulat beschützt, jemand der denkt, wenn er nicht isst, dass er dann gesund wird, nach jemanden der denkt, alle Bewegungen der Menschheit zu kennen. Solche Täter erscheinen uns unorganisierter. Bedenke aber, dass sie in ihrer Welt das eigene Vorgehen als gut durchdacht betrachten, so gut durchdacht, wie ihre Wahnvorstellungen über Seifenschalen sind. Vergessen dürfen wir dabei nicht, dass sie durchaus funktionieren können, leistungsfähig sind, gerade auch dann, wenn sie keinen akuten Schub haben. Der Mann von Detective Cox fällt in diese Kategorie. Er hatte seinen "eigenen" Shop aber während der Nacht besuchte er andere Shops und das passt wiederum zu Macnaghtens Aussage, dass Kosminski an mehreren Orten im East End, nach Einbruch der Dunkelheit, in verschiedenen Shops, zu finden war. Wenn solch eine Person kaum noch schläft, Schizophrenie bringt das mit sich, dann bricht er irgendwann zusammen. Im Falle Kosminskis könnte das dann um den März 1889 wieder einmal der Fall gewesen sein.   

Delinquenz/ finale Stressauslöser... ist eine gute Frage... da gab es sicherlich frühere Anzeichen von destruktiven Verhalten bei Kosminski, falls er der Ripper gewesen war... und zum finalen Stressauslöser... ganz schwierig... ich vermute, dass er einige Zeit vor der Mordserie darauf bestand, mehr Zeit für sich alleine zu haben... einen Ort, wo er in Ruhe seinen Fantasien nachgehen konnte... soweit wie ich das beurteilen kann, und das ist nur meine Meinung, hätte ihn seine Familie darin unterstützt... Isaac, als Bruder, war ein erfolgreicher Schneider, sein Schwager Morris ein Bootlaster und der andere Bruder, Woolf, versuchte sich wenigstens einmal als selbstständiger Geschäftsmann und Jacob Cohen war ein erfolgreicher Butcher in Manchester. Genug Raum für einen eigenen Shop, der von der Familie "gesponsert" wurde. Und sicherlich auch von der Familie kontrolliert wurde... Mit dieser Freiheit im Rücken, ist dies vielleicht gar kein Stress, denn er wurde ja nicht mehr (oder bedeutend weniger) "kontrolliert"... aber vielleicht war es eben eine gewisse Maßregelung, die ihn bis dahin in Schach hielt und nun aber die körperlichen Symptome überhand nehmen konnten... Woolf zog zurück in die Berner Street/ Providence Street und er war der Bruder, bei dem Aaron mutmaßlich am meisten lebte... der Dutfields Yard könnte der "Trigger" gewesen sein... Als der Mord dort geschah, gab es den ersten Hinweis, dass ein Familienmitglied einen Angehörigen beschuldigte (deshalb, zu diesem Zeitpunkt, schließe ich die Druitt Familie aus) und das könnte Aaron´s Schwester Matilda gewesen sein. Vielleicht hatte Sie im Laufe der Jahre bemerkt, dass Aaron zerstörerische Phantasien hegte, z.B. auf Zeichnungen in denen verstümmelte Frauenleichen im Dutfields Yard lagen... und nach diesem Mord, zog auch Woolf da wieder weg...

Joseph Hyam Levy unterstützte einen Martin Kozminski bei dessen Einbürgerung in 1877. Martin stammte aus der Region Kalisch in Polen woher auch Aaron´s Familie stammte. Keine Ahnung ob da eine Verbindung bestand, sicherlich dann weniger familiär. Ich halte es aber für möglich, dass es bei einem Vorfall am 22. November 1888, bei der eine Matilda eine Rolle gespielt haben könnte, etwas von ihr bezeugt worden sein könnte. Ich weiß es aber natürlich nicht.

Ich meine, Jack the Ripper, ob nun als Kosminski oder nicht, lief doch all die Zeit im Kreise durch ein relativ kleines Gebiet. Mein Heimatort hatte früher 6000 Einwohner. Wenn ich eine Stunde lang durch die Stadt ging, hätten bestimmt 30-40 Leute, so wie man sich kannte, das im Nachhinein bestätigen können. 10-20% davon waren auch irgendwie Verwandte. Jack the Ripper war sicherlich ein bekanntes und vertrautes Gesicht in der Gegend.

Bis dann.   
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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #50 am: 26.10.2015 15:56 Uhr »
Hallo Lestrade,

mir ist durchaus klar, dass Menschen verschiedene psychische Probleme gleichzeitig haben können, z.B. eine Persönlichkeitsstörung und eine sich herausbildende Wahnerkrankung.
Aber zu versuchen aus dem bisschen, was wir wissen, eine Ferndiagnose zu erstellen und Parallelen zu ziehen, ist m.E. angesichts der Komplexität des Geistes und seiner Pathologien ein Unterfangen, dass auf wackeligen Beinen steht - und dessen sollten wir uns immer klar sein.

Wir müssen m.E. vor allem aufpassen, drei Dinge auseinanderzuhalten:
1. Das rudimentäre Profil des noch unidentifizierten JTR, das sich aus den Informationen über seine Taten ergibt.
2. Das rudimentäre Profil des jeweiligen Verdächtigen, das sich aus den Informationen zur Person ergibt.
3. Dass die Profile gefasster Serienmörder, die wir zum Vergleich heranziehen, auch immer individuelle Ausprägungen von Psychopathologie aufweisen.

Der Vergleich beider rudimentären Profile miteinander und mit anderen Serienmördern kann einen Tatverdacht dann plausibler oder unwahrscheinlicher machen.

Betrachten wir die biographischen Daten zu den Verdächtigen Kosminski oder Levy, so können wir im Vergleich mit bekannten Serienmördern z.B. zwar vermuten, dass wg. ihrer psychiatrischen Geschichte (z.b. befehlende Stimmen) wohl auch eine psychotische Komponente vorlag, falls einer der beiden der Ripper war.

Aber zeigen sich auch bei den Infos über JTR Hinweise darauf?
Was wir wohl ausschließen können: Er war wahrscheinlich kein Sexualsadist wie der Psychopath Ted Bundy, der ja seine Opfer quälte und vergewaltigte, bevor er sie tötete (oft sogar sadistisch brutal erschlug). Bundy ging es um die Macht über seine Opfer, ihre Angst und Qual.
JTR tötete im Gegensatz zu Bundy schnell und effizient und nahm die Verstümmelungen post mortem vor - er war also psychiatrisch gesehen, so erschreckend die Ausweidungen waren, kein sadistischer Mörder. Die Ausweidungen lassen eher entweder auf eine nekrophile Störung schließen oder einfach nur auf extremen Hass auf Prostituierte, denen er z.B. die Schuld an einer Geschlechtskrankheit gab - jedoch nicht zwangsläufig auch auf eine Wahnerkrankung. Er könnte auch einfach ein nekrophiler Psychopath oder Rachemörder mit hohem Aggressionspotential gewesen sein.

Das heißt, wir können aus den uns vorliegenden Infos zwar schließen, dass z.B. Kosminski und Levy wahnhaft waren - aber nicht, ob JTR wahnhaft war.
Es wäre nur dann eine korrekte Schlussfolgerung, wenn es bei den Taten von JTR selbst deutliche Hinweise auf wahnhafte Aspekte gäbe (was m.E. bisher nicht der Fall ist) - oder wenn die Polizei und wir tatsächlich den Richtigen verdächtigt und ihn als Täter überführt hätten. 
Bis dahin gibt es aber auf der einen Seite das Profil von JTR und auf der anderen Seite die einzelnen Profile der Verdächtigen.


Zum Punkt mit der möglichen Verbindung zu Zeugen: Das Eastend war für damalige Zeiten schon eine eigene Stadt, was die Zahl seiner Bewohner und auch die Fluktuation angeht. Insofern war es dort nicht wie "aufm Dorf" - und eine Verbindung zu einem Zeugen wäre ein interessantes Indiz.


MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #51 am: 26.10.2015 17:03 Uhr »
Aber zeigen sich auch bei den Infos über JTR Hinweise darauf?
Was wir wohl ausschließen können: Er war wahrscheinlich kein Sexualsadist wie der Psychopath Ted Bundy, der ja seine Opfer quälte und vergewaltigte, bevor er sie tötete (oft sogar sadistisch brutal erschlug). Bundy ging es um die Macht über seine Opfer, ihre Angst und Qual.
JTR tötete im Gegensatz zu Bundy schnell und effizient und nahm die Verstümmelungen post mortem vor - er war also psychiatrisch gesehen, so erschreckend die Ausweidungen waren, kein sadistischer Mörder. Die Ausweidungen lassen eher entweder auf eine nekrophile Störung schließen oder einfach nur auf extremen Hass auf Prostituierte, denen er z.B. die Schuld an einer Geschlechtskrankheit gab - jedoch nicht zwangsläufig auch auf eine Wahnerkrankung. Er könnte auch einfach ein nekrophiler Psychopath oder Rachemörder mit hohem Aggressionspotential gewesen sein.

Das heißt, wir können aus den uns vorliegenden Infos zwar schließen, dass z.B. Kosminski und Levy wahnhaft waren - aber nicht, ob JTR wahnhaft war.
Es wäre nur dann eine korrekte Schlussfolgerung, wenn es bei den Taten von JTR selbst deutliche Hinweise auf wahnhafte Aspekte gäbe (was m.E. bisher nicht der Fall ist) - oder wenn die Polizei und wir tatsächlich den Richtigen verdächtigt und ihn als Täter überführt hätten. 
Bis dahin gibt es aber auf der einen Seite das Profil von JTR und auf der anderen Seite die einzelnen Profile der Verdächtigen.

Hi Arthur,

Roy Hazelwood:

As I mentioned earlier, John Douglas and I felt that Jack the Ripper was a paranoid schizophrenic...

Falls Du es noch nicht hast:

Jack the Ripper And The Case For Scotland Yards Prime Suspect- Robert House. Da findest Du ganz viel zum psychologischen Profil wie auch in anderer Literatur. 

Wir sollten davon ausgehen, dass Jack the Ripper wahnhaft gewesen war. Welche wahnhaften Aspekte würdest Du denn in Betracht ziehen? Die Taten in ihrer Gesamtheit wirken doch schon recht bizarr, dieser Begriff alleine sollte einen schon achtsam werden lassen. Der Tatort Millers Court sollte ein gutes Beispiel dafür sein. Dazu kommt sicherlich ein erkennbarer Größenwahn, schon allein durch das Risiko der "offenen Straße". Und mit Sicherheit war er ein Sadist. Seine Fantasie war voller Sadismus. Es ist richtig zu sagen, er quälte sein Opfer nicht auf sadistische Weise als sie noch am Leben waren aber er tat dies danach. Auch die Mitnahme von Organen und der Umgang mit ihnen danach kann sadistische Züge getragen haben und werden es sicherlich auch. Er war ein Lustmörder und sexuell motivierter Killer und seine Lust bestand aus Verstümmelungs- und Ausweidungsfantasien und wahrscheinlich aus Kannibalismus. 

Aber ich verstehe dich Arthur, das ist ein immens komplexes Thema aber ich habe da bereits meine Meinung gefunden und akzeptiere natürlich deine. Von meiner Seite kann ich dir nur sagen, dass ich mich intensiv damit beschäftigt habe und letztendlich zu dem gleichen Schluss komme, den viele Experten vertreten, nämlich das Jack the Ripper eine schwere Geisteskrankheit im Hintergrund hatte. Deshalb entschieden sich 1988 Douglas, Hazelwood, Ressler und Co. für "Kosminski". Hazelwood fand die Arbeit und die Informationen von Robert House später dann als bestätigend. Douglas schwenkte kurze Zeit danach (1888) auf David Cohen (Martin Fido´s Fund) um, was natürlich nicht automatisch bedeutete, dass "Kosminski" raus war, denn Aaron Kozminski musste nicht zwangsläufig "Kosminski" gewesen sein, um das dann wieder zu relativieren. Das öffentliche Jack the Ripper Profil dieser Profiler enthielt nicht den Hinweis; "paranoid Schizophren", weil dies auch in der wirklichen Praxis so nicht üblich war. Der mit diesem Profil arbeitende Beamte sollte nicht durch diese Anmerkung irritiert werden, weil es denn Blick auf Verdächtige unscharf machen würde. So habe ich das in Erinnerung. Dazu passen ja auch einige Anmerkungen (“Komplexität“) deines letzten Postings.

Beste Grüße,

Lestrade. 
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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #52 am: 26.10.2015 19:14 Uhr »
Hallo Lestrade!


Welche klaren Hinweise für einen Wahn gab es denn konkret bei den Taten von JTR selbst? Ich habe bisher keine gefunden.
Ich kann wahnhafte Symptome bisher nur bei den von uns beiden präferierten Verdächtigen Kosminski oder Levy finden, weil diese in den Anstaltsunterlagen festgehalten wurden - aber bei den Taten von JTR selbst nicht unbedingt.

Nur weil eine Handlung als "wahnsinnig" erscheint, heißt das ja nicht, dass der Täter auch an einer Wahnerkrankung leidet. Das Ausweiden selbst ist nicht unbedingt ein Hinweis auf einen Wahn, auch nicht die Mitnahme von Trophäen.
Ob jemand nun eine Psychose hat, eine schwere antisoziale Persönlichkeitsstörung, eine Paraphilie (pathologisches Sexualverhalten) oder irgendeine Kombination davon - jedes davon könnte m.E. angesichts der wenigen Fakten, die uns vorliegen, Ursache der Taten gewesen sein.
Wahn ist psychiatrisch gesehen eine Denk- und Wahrnehmungsstörung, an der der Betroffene trotz offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der nachprüfbaren Realität unbeirrt festhält.

Ein Nekrophiler z.B. hat eine schwerwiegende Störung seiner Sexualpräferenz, so wie ein Zoophiler oder Pädophiler - aber damit noch keine Wahnerkrankung. Den meisten von Paraphilien Betroffenen ist durchaus klar, dass ihre Sexualpräferenz irgendwie nicht "normal" in der Welt ist und sie haben auch sonst keine Wahnvorstellungen - es sei denn, es liegt eine Komorbidität vor.

Auch ob jemand sadistisch veranlagt ist, wird psychiatrisch etwas anders definiert als umgangssprachlich.
Ein Mensch mit antisozialer Persönlichkeitsstörung kann zum Beispiel äußerst brutal seinen Willen durchsetzen - aber er muss dennoch nicht sadistisch sein. Man nennt das "kalte Aggression", wenn die Brutalität lediglich der Durchsetzung eigener Interessen dient, ohne dass der Psychopath dabei an der Brutalität selbst Befriedigung empfindet. Die für uns "Normalos" erschreckende und sadistisch erscheinende Brutalität ist dabei für den Täter nur notwendiges Mittel zum Zweck, sein eigentliches Ziel zu erreichen. Sadismus setzt psychiatrisch gesehen dagegen voraus, dass die brutale Handlung und die Qual des Opfers dabei selbst das Ziel sind und die Befriedigung bringen, also Selbstzweck sind.
Dieser Definition zufolge war JTR psychiatrisch betrachtet nicht sadistisch, da nicht die Befriedigung am Quälen im Vordergrund stand, sondern er überraschend und schnell tötete und erst post mortem sein eigentliches Ziel, das Ausweiden, vornahm. Ob er möglicherweise eine sadistische Freude am Entsetzen beim Auffinden der Opfer hatte, können wir nur mutmaßen. Vielleicht war es ihm auch völlig egal, nachdem er mit ihnen fertig war - er konnte sie ja nicht einfach wegbeamen.

Was ich damit sagen will:
JTR könnte das Ermorden und Ausweiden von Frauen entweder aufgrund einer Wahnerkrankung begangen haben (z.B. weil Stimmen in seinem Kopf es ihm befohlen haben) - er könnte es aber z.B. auch ohne Wahnsymptome als ein nekrophiler Psychopath begangen haben, wobei die Vergewaltigung der Leiche vermutlich aufgrund einer sexuellen Funktionsstörung durch das Messer ersetzt wurde (ich glaube, das nennt man Picarismus). Und Merkmale von Sadismus im psychiatrischen Sinne sehe ich bisher nicht.

Daher meine Frage: Welche klaren Hinweise für einen Wahn gab es denn konkret bei den Taten?


Zwar tendiere ich wie bereits erwähnt durchaus dazu, dass es sich bei JTR wohl eher um einen psychotischen als einen psychopathischen Mörder gehandelt hat, aber letztendlich kann ich eine Alternative nicht mit guten Gründen und guten Gewissens ausschließen.

Ich denke, ich werde mir in jedem Fall mal dieses neuere Profil, von dem du geschrieben hast, ansehen. Bisher kannte ich nur das alte Profil aus William Eckerts "Ripper-Projekt" von 1988.


MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #53 am: 26.10.2015 20:25 Uhr »
Hey Arthur,

Vielleicht könntest Du vorher noch meine Frage beantworten, es war ja deine Idee mit der Wahnerkrankung und deren Sichtbarkeit bei den Taten:

Welche wahnhaften Aspekte würdest Du denn in Betracht ziehen?

Ich formuliere das einmal anders! Was sehe ich an einem Tatort, wenn Wahn eine Rolle spielt? Was erkennst Du bei den Tatorten von Chase an Wahn? Wo können wir da keinen Vergleich mit JtR suchen? Ich meine also rein die Tatorte ohne die weiteren Ermittlungen. Wie muss man Wahn erkennen? Oder ist es nicht besser, aufgrund der eher unorganisierten Art, einen Täter mit Wahnvorstellungen zu erwarten?

Mit dem Sadismus muss Du dich dann mit den Fachleuten auseinandersetzen. Wie ich bereits schrieb, ich habe darüber eine relativ feste Meinung, was das psychologische Profil des Rippers angeht. Ich halte ihn für einen Menschen mit einem Anteil an Sadismus, Du schließt das vielleicht eher aus. Das ist doch vollkommen in Ordnung.

In relativ kurzer Zeit eine bestimmte Anzahl von Frauen zu töten, dazu zwei in einer Nacht, deutet schon auf einen gewissen Wahn hin. Aber das sehen wir auch bei Ted Bundy, der in einer Nacht zwei Frauen tötete, eine dritte Frau überlebte in jener Nacht. Bundy wurde ja zum Ende hin auch immer unvorsichtiger. Er hatte aber offenbar keine Wahnerkrankung. Im Falle des Rippers fällt ein besonders hohes Risiko auf, kurze Intervalle, Organmitnahme und ein Tatort, wo Fleisch auf Stühlen und an Nägeln hing, wo der Täter ein Gesicht nachbaute...

Robert Ressler:

'It also seemed clear to me that the Ripper had been a "disorganized" killer'...'who was mentally deranged and becoming more so with each victim.'...'The escalation of violence, the dismemberment, and the general disorder of the crime scenes were evidence of this.'...'Sexual satisfaction for Jack the Ripper, derived from seeing the victim's blood spill.'...'there were even more overt signs that the crimes were sexual, since he cut out the uterus's of many of his victims, after opening the body cavity at the genitals with his knife.'...'With his last victim, Jack the Ripper not only removed the uterus, but cut off the victim's ears and nose and placed these on a severed breast in a mockery of a face.'...'If the killer was deranged and becoming progressively more so, it is likely that he might well have gone off the deep end entirely'...'so crazed that he could no longer even commit crimes, and have landed either in  a suicide's grave or in an institution for the insane.'...'Suicide or confinement until death would explain why he was never apprehended

Douglas und Hazelwood waren aber gegen einen möglichen Suizid. Da gehen Meinungen halt auch auseinander. Von Aaron Kozminski wissen wir, dass er sich nicht lange nach den Morden immer weiter aus dieser Welt verabschiedete und nie wieder zurückkehrte.

Lestrade.


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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #54 am: 27.10.2015 12:20 Uhr »
Hallo Lestrade,

ich verstehe deine Frage nicht: Inwiefern soll es meine Idee mit der Wahnerkrankung gewesen sein? Davon ist doch schon bei der zeitgenössischen Polizei die Rede gewesen, dies wird von vielen Ripperologen angenommen und du selbst gehst doch auch davon aus, dass JTR wahnhaft war.

Ich hingegen habe hier mal ketzerisch die Frage in den Raum geworfen, was denn nun an seinen Taten selbst für diese These spricht. Denn wenn man nur die Taten des bisher unbekannten JTR selbst betrachtet, und nicht zugleich auch unsere üblichen Verdächtigen, die eine psychiatrische Biographie haben, dann wird aus einer plausiblen Annahme m.E. nur noch eine Möglichkeit unter anderen.
Ein Beispiel dazu habe ich genannt: Ein nekrophiler Psychopath.

Wenn wir einfach sagen: Die Taten waren so bizarr und er war ein unorganisierter Täter, JTR muss daher wahnhaft gewesen sein, ist das m.E. ein eher schwaches Argument.
Ob ein Täter organisiert oder unorganisiert ist, kann schlicht und einfach von seinem Charakter und seiner Intelligenz abhängen. Und warum ein Täter bizarre Taten begeht, kann auch unterschiedliche Gründe haben.

Ein Beispiel:
In einem afrikanischen Bürgerkrieg (ich glaube, es war während des Völkermordes in Ruanda) haben Kämpfer an manchen Kontrollpunkten symbolische Straßensperren aus über den Weg gespannten menschlichen Därmen ihrer Opfer hingehängt. Das ist nicht nur bizarr, sondern von zutiefst verstörender Grausamkeit. Dennoch war der Grund dafür keine Wahnerkrankung der Mörder, sondern eiskaltes Kalkül, um gezielt Angst und Schrecken zu verbreiten, vermutlich noch vermischt mit sadistischer Freude.

Ein anderes Beispiel:
Darüber, ob Ed Gein bei seinen Taten zurechnungsfähig war oder die Taten aus einem Wahn heraus beging, gab es nach seiner Ergreifung keine Einigkeit. Zuerst kam er in die Psychiatrie, dann wurde er doch für zurechnungsfähig erklärt und ihm wurde der Prozess gemacht, später kam er wieder zurück in die Psychiatrie.
Ed Gein hatte durch seine erzreligiöse, ihn isolierende Mutter eine schwere Persönlichkeitsstörung und eine schwere Störung der sexuellen Entwicklung hin zur Nekrophilie, so dass er schließlich nach dem Tod seiner Mutter Leichen ausgrub und unaussprechliche Dinge mit den Leichenteilen anstellte, und als ihm die nicht mehr reichten, begann er selber zu töten, damit er frische Leichen hatte. Aber ob er wahnhaft handelte oder doch zurechnungsfähig war, wurde trotzdem gestritten, obwohl man ihn hatte.

Zurück zu JTR und deiner Frage:
Den Regeln der Logik zufolge muss doch derjenige, der in JTRs Morden Hinweise auf eine Wahnerkrankung sieht, aus den Taten überzeugende Argumente für eine solche Schlussfolgerung aufführen - und es es nicht die Aufgabe desjenigen, der anführt, dass es auch alternative Erklärungen geben könnte.
   
Wie bereits mehrfach erwähnt: Auch ich persönlich tendiere bei JTR eher zum wahnhaft getriebenen Mörder, es ist bei mir aber mehr ein Bauchgefühl als mit handfesten Argumenten aus den Taten bedingt - und natürlich aus der Kenntnis der Äußerungen der Polizei, dass ihr Hauptverdächtiger schließlich von seinen Angehörigen ins Irrenhaus eingeliefert wurde.
Ich will lediglich alternative Erklärungen nicht ausschließen, da wir nicht wissen, wer JTR tatsächlich war.

Was sind denn die handfesten Argumente der Profiler bzw. deine für eine Wahnerkrankung bei JTR?


MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #55 am: 27.10.2015 14:03 Uhr »
Hallo Lestrade!

Für unsere Diskussion dürfte der Fall Jeffrey Dahmer ein passendes Beispiel sein:
"Die wohl gefährlichste Form von Nekrophilie ist die Vorliebe für frische Leichen. Dies ergibt sich daraus, dass es hierbei im wahrsten Sinne des Wortes zu Beschaffungskriminalität kommt, sprich zu Morden an anderen, um an eine frische Leiche zu gelangen. Einer der berüchtigtsten nekrophilen Mörder des 20. Jahrhunderts, Jeffrey Dahmer, beschrieb mehrfach eine massive sexuelle Erregung durch die Wärme der Eingeweide seiner Opfer."
https://de.wikipedia.org/wiki/Paraphilie

MfG, Arthur Dent

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #56 am: 27.10.2015 14:36 Uhr »
Hi Arthur,

Ich griff nur deine Ausführungen auf. Sorry, falls das nicht deutlich wurde. Vielleicht habe ich einfach etwas falsch verstanden.

Das heißt, wir können aus den uns vorliegenden Infos zwar schließen, dass z.B. Kosminski und Levy wahnhaft waren - aber nicht, ob JTR wahnhaft war.
Es wäre nur dann eine korrekte Schlussfolgerung, wenn es bei den Taten von JTR selbst deutliche Hinweise auf wahnhafte Aspekte gäbe (was m.E. bisher nicht der Fall ist) - oder wenn die Polizei und wir tatsächlich den Richtigen verdächtigt und ihn als Täter überführt hätten. 
Bis dahin gibt es aber auf der einen Seite das Profil von JTR und auf der anderen Seite die einzelnen Profile der Verdächtigen.

Noch einmal konkreter meine Frage:

Im Falle von JTR, wenn er eine Wahnerkrankung hatte, wie wäre sie sichtbar geworden, deiner Meinung nach? Im andere Falle, Richard Chase, der nachweislich Geisteskrank war, welche wahnhaften Aspekte erkennst Du? Für die Profiler ist in vielen Fällen klar, in diesen Beispielen war ein geisteskranker Täter am Werk. Was sehen sie, um zu dieser Einschätzung zu kommen, was du nicht erkennen kannst? "Verhalten spiegelt Persönlichkeit" und aus dem Verhalten von diesen Tätern schlossen die Ermittler ihre Rückschlüsse.

Unterscheidung der Tätermerkmale beim organisierten und desorganisierten Tätertypus (Holmes & Holmes 1996, Hoffmann 2002):

Organisierter Täter
- sozial integriert und kompetent
- häufig berufstätig
- wenn isoliert lebend, dann bewusst & gewollt
- gut strukturierter Alltag
- beziehungserfahren
- lebt häufig in fester Beziehung

Desorganisierter Täter
- Verfügt kaum über soziale Fähigkeiten
- in der Regeln nicht berufstätig
- unbewusst und ungewollt isoliert lebend
- im Alltag unstrukturiert, chaotisch
- beziehungsunerfahren
- lebt allein oder bei den Eltern 

(sicherlich gibt es Mischformen)

Woran erkannten die Profiler nun, ob es sich bei JTR und bei Chase um einen desorganisierten Täter handelte?

Warum ordnen sie JTR und Chase Geisteskrankheiten zu?

Warum sind diese Profile recht zuverlässig?
 
Ein Beispiel:
In einem afrikanischen Bürgerkrieg (ich glaube, es war während des Völkermordes in Ruanda) haben Kämpfer an manchen Kontrollpunkten symbolische Straßensperren aus über den Weg gespannten menschlichen Därmen ihrer Opfer hingehängt. Das ist nicht nur bizarr, sondern von zutiefst verstörender Grausamkeit. Dennoch war der Grund dafür keine Wahnerkrankung der Mörder, sondern eiskaltes Kalkül, um gezielt Angst und Schrecken zu verbreiten, vermutlich noch vermischt mit sadistischer Freude.

Ein anderes Beispiel:
Darüber, ob Ed Gein bei seinen Taten zurechnungsfähig war oder die Taten aus einem Wahn heraus beging, gab es nach seiner Ergreifung keine Einigkeit. Zuerst kam er in die Psychiatrie, dann wurde er doch für zurechnungsfähig erklärt und ihm wurde der Prozess gemacht, später kam er wieder zurück in die Psychiatrie.
Ed Gein hatte durch seine erzreligiöse, ihn isolierende Mutter eine schwere Persönlichkeitsstörung und eine schwere Störung der sexuellen Entwicklung hin zur Nekrophilie, so dass er schließlich nach dem Tod seiner Mutter Leichen ausgrub und unaussprechliche Dinge mit den Leichenteilen anstellte, und als ihm die nicht mehr reichten, begann er selber zu töten, damit er frische Leichen hatte. Aber ob er wahnhaft handelte oder doch zurechnungsfähig war, wurde trotzdem gestritten, obwohl man ihn hatte.

Auch ich persönlich tendiere bei JTR eher zum wahnhaft getriebenen Mörder, es ist bei mir aber mehr ein Bauchgefühl als mit handfesten Argumenten aus den Taten bedingt

Ich weiß nicht, ob die Kämpfer in Ruanda unter Serienkiller laufen, die wir hier besprechen, da bin ich gerade überfragt. Bin mir auch nicht sicher, ob diese Menschen ohne Krieg zu Mördern geworden wären und ich weiß nicht, ob einige von ihnen nicht doch Geisteskrank waren. Wenn diese Menschen aus Rache töten, weil man ihre Lieben derart massakriert hatte, gelten vielleicht andere Gesetze. Da bin ich aber überfragt, müsste ich mich (auch erneut) hineinlesen.

Ed Gein war nicht geisteskrank?

Das ist es ja, dein Bauchgefühl und deine Ausführungen konnte ich nicht wirklich gut einschätzen, muss ich zugeben. Durch mein Nachfragen wollte ich wissen, wo Du gerade stehst, um mich besser hineinversetzen zu können. Vielleicht gehst Du deinem Bauchgefühl noch einmal nach. Also wäre es wirklich sehr höflich von dir, meine Fragen an dich zu beantworten und verzeihe bitte, falls ich da bisher nicht ganz folgen konnte, ich habe es wirklich versucht. Wir sind ja alles nur Menschen.

Ketzerisch Fragen in den Raum zu werfen ist doch vollkommen okay, tue ich ja auch gerade auf andere Weise. Profiler wie Ressler (weilt ja auch nicht mehr unter uns), Douglas, Hazelwood, Richards, Cancrini, Harbort und Canter sowie McCrary oder Müller, um einige zu nennen, sollten für uns Fachleute erster Klasse sein, auf deren Wissen und Erfahrung wir beruhigt bauen können. Das habe ich ja auch getan. Ich konnte selber nichts Neues hinzufügen wie auch, ich habe dazu nicht die Fähigkeiten. Meine, dass Canter neulich auf einer Konferenz von einem Psychopathen ausging aber das tun die anderen ja auch plus die Wahrscheinlichkeit, dass JTR eine Geisteskrankheit gehabt haben könnte.

Viele in ihrer Leidenschaft für JTR gehen gar von einem organisierten Verbrecher aus, halten ihn für einen genialen Verbrecher. Das kann ich nicht nachvollziehen, da ein Mensch von solcher Persönlichkeit kein so hohes Risiko eingegangen wäre, nicht solche einen kleinen Bereich gewählt hätte, er seine Opfer versteckt hätte und sich vielleicht auch andere Opfer gesucht hätte.

Der desorganisierter Täter spiegelt sein Inneres nach außen bei seinen Taten. So ein Mensch kann nicht organisiert vorgehen.

Hazelwood sagte (Prime Suspect, Rob House):

We thought that he fits the description of a disorganized-type serial killer because of the locations where he committed four of the five crimes. They were outdoors- they were on the streets or in a courtyard- a very high-risk crime. In other words, whoever this person was, was oblivious to take the risk. All the bodies were quickly discovered. So there´s not a lot of planning that went into these crimes.

I don´t see how anyone who knows anything at all about violent crime can say that was an organized crime. 

The disorganized offender also generally uses a "blitz style attack" and kills suddenly, often from behind, as the Ripper probably did. The study noted that a disorganized offender often "depersonalizes the victim. Specific area of the body may be targeted for extreme brutality. Overkill or excessive assault to the face is often an attempt to dehumanize the victim." In addition, with a disorganized killer, "Any sexually sadistic acts, often in the form of mutilation, are usually performed after death.


Laura Richards (Prime Suspect/ Rob House):

... the Ripper is "certainly no Einstein. We know that he´s a risk taker, he´s impulsive, irresponsible, but this is someone who hasn´t been detected, and you can say 80 percent of that´s probably due to chance and luck, and 20 percent may be down to his tactical planning around what he´s done. 

Ich denke, es ist eher der unorganisierte Tätertyp erkennbar und für Experten sicherlich klar zu erkennen.

Wo ist jedoch der Wahn einzuordnen?

FBI- Profil dazu -unorganisiert- (Pime Suspect/ Rob House):

"low intelligence or low birth-status in the family", who often has an instable work history and is unmarried, either living alone or with parental figures. He is "preoccupied with obsessional and/or primitive thoughts" and "may have developed a well-defined delusional system." He is fearful of people, is often sexually incompetent, and may have sexual aversions.

Ich denke, es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen unorganisiert und wahnhaft, dass ist offenbar ein Erfahrungswert.

Wir wissen ja, dass Aaron Kozminski das jüngste von sieben Kindern war. Bei seiner Einweisung in Colney Hatch soll er Jahre nicht gearbeitet haben. Zwischen einer Einweisung ca. März 1889 bis zum Februar 1891 sind das ja schon fast 2 Jahre. Er war nicht verheiratet und lebte wohl meist bei seinem Bruder Woolf und er litt unter Wahnvorstellungen.

Herzliche Grüße,

Lestrade.

P.S.: Jeffrey Dahmer behauptete, dass durch das Essen von Körperteilen, die Opfer in ihm wieder zum Leben erweckt werden würden. Meines Erachtens ist das schon eine recht wahnsinnige Vorstellung und wir wissen alle, dass dies nicht der Fall sein kann. Es mag Grenzfälle geben, erkennen die Experten aber wohl nicht im Falle von JTR, was nicht heißt, dass es vielleicht so ein Grenzfall war. Ich bleibe bei der allgemeinen Einschätzung der Leute, die es wissen sollten. 

Was ich auf jeden Fall glaube ist, dass Jack the Ripper seine schlimme Erkrankung recht gut verbergen konnte.
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Offline Lestrade

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #57 am: 27.10.2015 14:39 Uhr »
Sorry Arthur, Doppel- Posting...
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Offline Arthur Dent 2

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #58 am: 27.10.2015 18:38 Uhr »
Hallo Lestrade!

Sorry, dass wir uns derzeit im Kreis zu drehen scheinen.
Es war eine echte und keine rhetorische Frage von mir, woran die Profiler es denn festmachen, wenn sie bei JTR eine Wahnerkrankung vermuten - denn ich weiß es ehrlich nicht.

Ich habe nur hobbymäßig ein bisschen was über Psychologie, Psychiatrie und die Psychopathologie von Schwerverbrechern gelesen, und dabei zu meiner Verblüffung feststellen müssen, wie relativ selten diese tatsächlich als geisteskrank und unzurechnungsfähig diagnostiziert werden. Bei den meisten schwer delinquenten Wiederholungstätern sollen demnach lediglich schwere Persönlichkeitsstörungen Richtung Psychopathie bzw. malignem Narzissmus festgestellt worden sein.
Demnach sollen die meisten keine wahnhafte Weltwahrnehmung haben, sondern "lediglich" schwere Defizite im Bereich Empathie und Impulskontrolle, was zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer pervertierten egozentrischen Bedürfnisse führt (z.B. der Auslebung ihrer Paraphilie).
Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf die Untersuchungen von Dr. Robert D. Hare.


Vielleicht suchen wir erstmal die Punkte, in denen wir übereinstimmen, und kommen dann zum Knackpunkt:

Dass JTR ein desorganisierter Täter war, darüber sind wir uns schon einmal einig: Er streifte offenbar umher, bis er ein passendes Opfer und eine passende Gelegenheit fand, und beging seine Taten an unsicheren Plätzen mit hohem Entdeckungsrisiko.
Ein organisierter Täter hingegen würde z.B. versuchen, das Entdeckungsrisiko zu minimieren, seine Opfer und Tatorte möglichst gezielter aussuchen, um seine perversen Bedürfnisse möglichst optimal befriedigen zu können usw.

Dass nur bei einem desorganisierten Täter eine Wahnerkrankung plausibel ist, darin dürften wir auch übereinstimmen, denn die Krankheit würde ein organisiertes Leben und gut geplante Taten beeinträchtigen bis unmöglich machen. 

Weiterhin dürften wir mit den Profilern übereinstimmen, dass er wohl einer niedrigen sozialen Schicht angehörte und wahrscheinlich soziale und sexuelle Defizite hatte.

Aber im FBI-Profil, das du zitiert hast, heißt es auch einschränkend, dass er "vielleicht" ein wahnhaftes System entwickelt haben kann: "may have developed a well-defined delusional system." Kann - nicht muss.

Du schreibst ja selbst:
"Meine, dass Canter neulich auf einer Konferenz von einem Psychopathen ausging aber das tun die anderen ja auch plus die Wahrscheinlichkeit, dass JTR eine Geisteskrankheit gehabt haben könnte."

Wobei wir wieder bei meinem Beispiel vom nekrophilen Psychopathen wären, der vielleicht u.a. auch eine Geisteskrankheit haben kann - aber eben nicht muss.
Vielleicht kommen wir ja so zusammen, indem wir uns darauf einigen.
 :flag_of_truce:


Es gibt m.E. zwei Aspekte, die in Richtung Wahn weisen: Erstens das plötzliche Ende der Mordserie, das möglicherweise mit dem Fortschreiten seiner Erkrankung erklärt werden kann, und zweitens die Äußerungen der Polizisten, wonach ihr Hauptverdächtiger ins Irrenhaus eingeliefert worden sei.
Aus den Taten selbst lese ich noch keinen Wahn - deshalb meine ehrliche Frage, woran die Profiler dies konkret festmachen. Ich meine, hätte er z.B. am Tatort irgendwelche wirren Botschaften hinterlassen, dann wäre das was anderes.


MfG, Arthur Dent



P.S. Was deine Anmerkung zu Dahmer betrifft, sollte man nicht vergessen, dass der Versuch als verrückt diagnostiziert zu werden auch eine Strategie sein kann, dem Gefängnis zugunsten einer Psychiatrie zu entgehen. Falls das bei Dahmer so gewesen sein sollte, hat es jedenfalls nicht funktioniert: Er wurde als zurechnungsfähig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Offline Lestrade

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Re: Aaron Kozminski- Neubetrachtung der Quellen!
« Antwort #59 am: 27.10.2015 19:41 Uhr »
Jawohl Arthur, soweit lagen wir ja auch gar nicht auseinander, somit haben wir uns nun geeinigt, denke ich.

Meine Einschätzung ist die, dass ein desorganisierter Täter auch innerlich desorganisiert ist. Das passiert ja nicht, weil er Lust darauf hat, sondern weil er ernsthafte psychische Probleme hat, eine ernsthafte Störung, eine Geisteskrankheit. An den Tatorten schafft er ein Abbild davon, von sich und seinem Innenleben (gilt auch für den organisierten Typ, jedoch sieht das anders aus). Und ich denke, wir sehen diesen Typ an den Tatorten der Ripper Fälle.

Es gibt m.E. zwei Aspekte, die in Richtung Wahn weisen: Erstens das plötzliche Ende der Mordserie, das möglicherweise mit dem Fortschreiten seiner Erkrankung erklärt werden kann, und zweitens die Äußerungen der Polizisten, wonach ihr Hauptverdächtiger ins Irrenhaus eingeliefert worden sei.
Aus den Taten selbst lese ich noch keinen Wahn - deshalb meine ehrliche Frage, woran die Profiler dies konkret festmachen. Ich meine, hätte er z.B. am Tatort irgendwelche wirren Botschaften hinterlassen, dann wäre das was anderes.

Das ist doch schon einiges und ich sehe es genauso. Dazu diese Steigerung, die sehr schnell zugefügten Verstümmelungen bei Eddowes (extreme Brutalität) und die Zerstörung einer kompletten Frau im Falle Kelly. Botschaften gab es vielleicht, das GSG oder der From Hell Brief mit der Niere im Päckchen.

P.S. Was deine Anmerkung zu Dahmer betrifft, sollte man nicht vergessen, dass der Versuch als verrückt diagnostiziert zu werden auch eine Strategie sein kann, dem Gefängnis zugunsten einer Psychiatrie zu entgehen. Falls das bei Dahmer so gewesen sein sollte, hat es jedenfalls nicht funktioniert: Er wurde als zurechnungsfähig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Bei Berkowitz und Sutcliffe war das offenbar der Fall. Manchmal sind die Profiler mit der finalen Einschätzung vor Gericht nicht einverstanden. Douglas/ Chase wäre ein Fall. Die Meinung von Douglas zu Chase war jene, dass dieser zu geisteskrank war, um wirklich verantwortlich gemacht werden zu können. Ich denke das auch über Jack the Ripper. Ich glaube, er lebte in einer Parallelwelt und obwohl er schon wusste, dass er Unrecht tut, war er nicht in der Lage sich dagegen zu wehren.

Mit Canter weiß ich nicht genau aber die Grundannahme ist wohl bei allen sehr ähnlich. Für diese Äußerung von ihm, kann ich nicht die Hand ins Feuer legen. Er ist, soweit ich mich entsinne, da auch eher vorsichtiger. Es mag sicherlich Alternativen geben, solche, wie auch du vorschlägst. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit war Jack the Ripper ein desorganisierter Täter MIT einer schizophrenen Störung (paranoide/ hebephrene oder Mischformen) und den Ripper als Gesamtprozess betrachtend, sind viele Experten sich darüber auch einig (btw.: Täter auf Drogen sind vielleicht auch bizarr). Und klar, wie Du schreibst, diese Art von Täter ist nicht zu häufig. Aber wenn sie auftauchen, muss man eben eine Wahnerkrankung mit einkalkulieren und erfahrungsgemäß dies auch sehr hoch.

Grüße. 
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...