Autor Thema: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle  (Gelesen 41928 mal)

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Andromeda1933

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Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« am: 03.05.2013 14:01 Uhr »
Armut und viktorianische Kinderkriminelle
Von Charlotte Fingal

Die Viktorianer liebten Schlagzeilen. Je monströser und abwegiger ein Verbrechen, umso erfreuter waren sie, kauften Zeitungen und Penny Dreadfuls, in denen die abartigsten Verbrechen geschildert wurden. Kaltherzige Mörder und Diebe, glamouröse Verbrecher und düstere Geschehnisse lockten besonders die Leser aus der Mittelklasse an.

Bei einer öffentlichen Lesung von Charles Dickens, als er die Stelle aus Oliver Twist las, an der Nancy ermordet wird, sollen einige Damen sogar in Ohnmacht gefallen sein. Deshalb möchte ich mich hier ab jetzt auch ein wenig mit dieser Sensationslust der Viktorianer beschäftigen und dem, auf dem sie aufbaut: Armut, Kriminalität und Verbrechen im viktorianischen Zeitalter.

Vor so genannten "social novels" wie Oliver Twist, in denen Elend und Armut in London zum ersten Mal für die gehobenen Leser breitgetreten wurden, scherten sich Bourgeoisie und Adel nämlich keinen Deut um die Probleme der Armen. Armut galt als selbstverschuldet und wer arm war, sollte doch in die dafür vorgesehenen Arbeitshäuser gehen.

Dass die Insassen dort für wenig Essen hart arbeiteten und eigentlich wie Gefangene gehalten wurden, interessierte niemanden. Erst nach den social novels und Sozialreporten wie denen von Henry Mayhew dämmerte es den Leuten: In Armut wurde man meist hineingeboren und es war sehr schwer sie hinter sich zu lassen.

Trotzdem hielt sich eine Vorstellung hartnäckig in den Köpfen der Menschen: Ein in die Armut hineingeborenes Kind war von seinem Umfeld so geprägt, dass es bloß kriminell werden konnte. Zwar wurde es nun zum Volkssport, sogenannte Charities abzuhalten und Anteil am Leid der Armen zu nehmen, doch leider reichte das den meisten gutbürgerlichen Londonern bereits um ihr Gewissen zu beruhigen und den Armen half es auch nichts. Erst zum Ende des Jahrhunderts hin, gab es die ersten richtigen Versicherung, die zum Beispiel Arbeitsunfähige davor bewahrten in die Armut abzurutschen, doch der Weg zum gerechten Sozialwesen war lang, beschwerlich und ist bis heute noch nicht richtig vorbei.

Das Leben in den Slums war menschenunwürdig: Man hauste mit viel zu vielen Personen in einem kleinen Verschlag oder sogar auf der Straße, Bildung war natürlich Mangelware und, wenn man Arbeit hatte, dann schuftete man für viel zu wenig Geld den ganzen Tag unter gesundheitsschädigenden Umständen in Fabriken, Wäschereien oder Nähereien, um die große Familie durchzubringen.

Kinder arbeiteten genau wie die Erwachsenen, erst 1847 wurde ein Gesetz erlassen, das Kinder "nur" zehn Stunden am Tag arbeiteten durften und erst 1874 wurde es Kindern unter zehn Jahren verboten, in Fabriken zu arbeiten. Davor kamen unzählige Kinder in Fabriken zu Tode, aber auch in Kohlminen und bei der Arbeit als Schornsteinfeger, bei der sie, weil sie dafür klein genug waren, in die Kaminschächte klettern mussten.
Nun stellen wir uns also vor, ein Kind wird in einen solchen Londoner Slum hereingeboren, lernt von Kleinauf, dass das Leben grausam sein kann und verliert vielleicht sogar noch seine Eltern an Krankheit, Unfälle oder durch andere damals oft gegebene Umstände.

Hier kommen dann die Kriminellen ins Spiel. Oft köderten sie die Kinder mit hübschen, netten Mädchen, die den Kindern ein neues Zuhause, Arbeit und Essen versprachen oder mit anderen Kindern, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und bald wurden die Kinder in ganzen, dafür eigens ausgebildeten Banden auf Diebeszüge geschickt. Besonders beliebt war der Leinendiebstahl. Man kletterte entweder über die Mauern von reichen Häusern und stahl dort teure Wäsche von der Leine oder man luchste reichen Herren und Damen die guten Taschentücher ab.

Das war leichter als gedacht, denn die Londoner Slums lagen nicht selten dicht an den Wohngebieten der reicheren Londoner. Die Kinder trennten die Initialen aus der Wäsche und verkauften sie dann an Pfandleiher, die wohl nicht selten ahnten, woher die Ware kam, aber natürlich auch überleben wollten und sie deshalb dankend aufkauften. In Gegenden wie Saffron Hill, wo auch Fagin aus Oliver Twist sein Lager hat, soll es Unmengen von solchen Pfandleiergeschäften gegeben haben und der Ort wurde bald dafür bekannt, dass angeblich aus jedem Fenster ein gestohlenes Taschentuch flaterte.

Natürlich stahl man aber auch Geldbörsen und Taschenuhren, bloß war das viel riskanter und man wurde das Diebesgut schwerer los. Warum ließen die Verbrecher überhaupt Kinder für sich stehlen?, mögen sich einige nun fragen. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Sie sind kleiner und können in großen Menschenmassen viel leichter untertauchen und verschwinden.

Zudem gibt es einen gewissen Niedlichkeitsfaktor, wenn ein erwischtes Kind zu weinen beginnt und beteuert, nur gestohlen zu haben, weil es nichts zu Essen hat und keinen anderen Ausweg sah. Ein berührter Gentleman könnte von einer Anzeige absehen und dem Kind vielleicht sogar ein bisschen Geld geben, was einem erwachsenen Taschendieb wohl nicht passieren würde. Und natürlich schlossen sich die meisten Kinder den Banden auch tatsächlich bloß aus Verzweiflung an. Wenn man die Wahl hat zwischen einem langsamen Verhungen und Diebstahl, was wählt man dann?

Obwohl die viktorianische Oberschicht die Problematik rasch erkannte und man in den 1830ern Kinderkriminelle auch nicht mehr gleich an den Galgen brachte, wie in den Jahrzehnten davor, trafen die Kinder trotzdem sehr harte Strafen, wenn es zur Anzeige kam. Denn obwohl man nun nach außen hin zeigte, wie Leid einem doch die armen Kinder taten, wollte man sich trotzdem nicht von ihnen die Butter vom Brot nehmen lassen und viele reiche Viktorianer hingen nach wie vor an ihrem Standpunkt, das Armut selbstverschuldet sei.

Das dumme Kind hätte halt einfach eine Arbeit suchen sollen, dann hätte es nicht stehlen müssen, nicht wahr? Dass es so einfach nicht war, ahnten die reichen Herren, die für ihr Geld oft keinen Finger rühren mussten, nicht oder es interessierte sie nicht. Und so sperrte man selbst Kinder ins Gefängnis oder deportierte sie zur harten Arbeit in die Sträflingskolonien von Australien, Hauptsache weg mit ihnen, weg von der guten Londoner Gesellschaft.

Die "Artful Dodgers" des viktorianischen Zeitalters waren also meist keine pompösen jungen Gentlemen die mit Witz und Gewieftheit ihrem Handwerk nachgingen, sondern arme, verzweifelte, heruntergekommene Kinder, die von Verbrechern angestiftet stahlen, um nicht zu verhungern. Das interessierte jedoch die Bourgeoisie kaum: Sie heuchelten zwar Mitgefühl, warfen sich jedoch bloß auf die wirklich interessanten, schockierenden Fälle, die in Zeitungen geschildert wurden und bildeten sich an diesen Maßstäben ihre Meinung zu viktorianischen Kinderdieben.

Wie Benjamin Disraeli so richtig erkannt hat, lebten die Menschen des viktorianischen Londons wie zwei verschiedene Nationen völlig aneinander vorbei, ohne Berührungspunkte und eine Ahnung davon, wie es der anderen Nation eigentlich wirklich erging. Social Novels, politische Zeitschriften und Enthüllungsberichte sollten helfen, diesen Umstand zu ändern, doch der Weg war beschwerlich und vor allem sehr, sehr lang.

Stordfield

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #1 am: 03.05.2013 16:56 Uhr »
Danke Andromeda!!!!!!!

Betrachtet man dieses Elend, dann "wundert man sich, dass es nur diesen einen Ripper gegeben hat".

Gruß Stordfield

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #2 am: 03.05.2013 17:08 Uhr »
Danke Stordfield!
Ja, es verschlägt mir auch jedes Mal wieder die Sprache, was es – vor nicht mal allzu langer Zeit – für ein Elend gab. Nicht irgendwo im Riesengebirge oder in Neapel, sondern mitten im Herzen des britischen Empires. London war 100/150 Jahren doch „DIE“ Metropole der Welt.
Apropos, wenn ich mir das Foto "Kohlen sortieren" ansehe, frage ich mich, ob die Kinder mit 20 noch gelebt haben.

Offline Lestrade

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #3 am: 03.05.2013 18:03 Uhr »
Danke für den Faden und den Bericht.

Es ist schon unglaublich, was sich der Mensch zumuten musste, nur um zu überleben. Ehrlich gesagt, geht es etwas über meine Vorstellungskraft hinaus. Die andere Seite musste sich ja weitaus weniger Gedanken machen. Ich erlebe dies auch heute noch bei gutsituierten Leuten, ihr kennt es sicherlich auch, wo jegliches Verständnis für ärmere Menschen abhanden gekommen ist. Warum hat der kein Auto? Kein Geld? Keine schönen Sachen? Kein Haus? Viele glauben immer noch, man wird einfach da hineingeboren. Nun ja, ist ja vielleicht auch so.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #4 am: 04.05.2013 16:11 Uhr »
Fotos wie diese sollen den armen Menschen Ehrung sein, wie sie ihr Leben ertrugen.

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #5 am: 04.05.2013 16:12 Uhr »
Fotos wie diese sollen den armen Menschen Ehrung sein, wie sie ihr Leben ertrugen.

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #6 am: 04.05.2013 16:26 Uhr »
Fotos wie diese sollen den armen Menschen Ehrung sein, wie sie ihr Leben ertrugen.

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #7 am: 30.05.2013 21:13 Uhr »
Mir ist erst jetzt etwas auf dem Foto „Straßenszene“ aufgefallen. Zwei der Jungs scheinen Brotscheiben zu essen. Rechts unten sieht man etwas aufgestapelt. Könnte das altes Brot gewesen sein?

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #8 am: 26.01.2014 19:59 Uhr »
Das Foto mit den 3 Jungen fand ich vor einiger Zeit in einer Foto-Sammlung über das Londoner East-End. Inzwischen weiß ich, dass es ein Foto aus den New Yorker Slums um 1900 ist.
Sorry Leute!
Wie ich herausfand, waren die Lebensumstände der Einwanderer in New York um 1900 herum keinen Deut besser, als die der Einwanderer des East Ends. Die wenigen Fotos hier zeigen das sehr deutlich, finde ich.

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #9 am: 26.01.2014 20:00 Uhr »
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« Letzte Änderung: 26.01.2014 20:52 Uhr von Andromeda1933 »

Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #10 am: 26.01.2014 20:01 Uhr »
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Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #11 am: 26.01.2014 21:16 Uhr »
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Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #12 am: 26.01.2014 21:17 Uhr »
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Andromeda1933

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #13 am: 17.02.2015 13:30 Uhr »
Ein wirkliche schreckliche Tatsache ist, dass viele Kinder, die damals in Fabriken und sonst wo für schäbige Pennies schuften mussten (um ihre Familien zu unterstützen), die ersten Menschen waren, die man als Opfer arbeitsbedingter Krankheiten bezeichnen kann.
Beispielsweise erkranken viele Mädchen, die in der Streichholzindustrie mit hochgiftigen Schwefel arbeiteten, am sogenannte „phossy jaw“, einer Vergiftung, die Kiefer und Mundhöhle zerstört und manchmal sogar in Amputationen endete. Der Mann auf dem Foto ist ein beinahe harmlos aussehendes Opfer dieser Erkrankung, die das Gesicht eines Menschen völlig entstellen kann.
Schornsteine mussten innen vom hartnäckigen Ruß gereinigt werden. Dafür wurden kleine Jungen benutzt, die in den Kaminen hinab gelassen wurden und dort von Hand die Rückstände abklopften. Ich wählte bewusst das Wort „benutzt“. Die Kleinen wurden armen Familien für einige Jahre „abgekauft“ und lebten dann mit und beim Schornsteinfeger (dem „Master- Sweep“), wobei sie meistens im Lagerraum und auf den Aschesäcken schlafen mussten. Die Kinder wurden dafür nicht einmal bezahlt, sie waren faktisch Sklaven. Waren sie irgendwann für diese Drecksarbeit zu groß, wurden sie einfach durch ein anderes Kind ersetzt. Zum Glück mangelt es mir hier an Fantasie mir vorzustellen, in was für eine Hölle so ein Junge durch die Armut seiner Eltern geriet. Unbezahlte schwere Arbeit, keine vernünftige Unterkunft (jedenfalls in den meisten Fällen), immer wieder in der Dunkelheit der Kamine hängend und diesen giftigen Ruß einatmend. Dazu erkrankten sehr viele dieser Jungen später an Hodenkrebs, womöglich sogar die erste offiziell anerkannte arbeitsbedingte Erkrankung der industriellen Epoche. Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Jungs mit 12 Jahren bereits gesundheitlich schwer angeschlagen waren.

Offline Lestrade

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Re: Über Armut und viktorianische Kinderkriminelle
« Antwort #14 am: 18.02.2015 15:31 Uhr »
Wenn man bedenkt, dass es vor noch nicht allzu langer Zeit gar keine Jugendzeit für den Menschen gab und dies heute ja auch noch nicht gänzlich der Fall ist, dann finde ich das alles noch viel erschreckender als es ohnehin schon der Fall ist…
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...