Armut und viktorianische Kinderkriminelle
Von Charlotte Fingal
Die Viktorianer liebten Schlagzeilen. Je monströser und abwegiger ein Verbrechen, umso erfreuter waren sie, kauften Zeitungen und Penny Dreadfuls, in denen die abartigsten Verbrechen geschildert wurden. Kaltherzige Mörder und Diebe, glamouröse Verbrecher und düstere Geschehnisse lockten besonders die Leser aus der Mittelklasse an.
Bei einer öffentlichen Lesung von Charles Dickens, als er die Stelle aus Oliver Twist las, an der Nancy ermordet wird, sollen einige Damen sogar in Ohnmacht gefallen sein. Deshalb möchte ich mich hier ab jetzt auch ein wenig mit dieser Sensationslust der Viktorianer beschäftigen und dem, auf dem sie aufbaut: Armut, Kriminalität und Verbrechen im viktorianischen Zeitalter.
Vor so genannten "social novels" wie Oliver Twist, in denen Elend und Armut in London zum ersten Mal für die gehobenen Leser breitgetreten wurden, scherten sich Bourgeoisie und Adel nämlich keinen Deut um die Probleme der Armen. Armut galt als selbstverschuldet und wer arm war, sollte doch in die dafür vorgesehenen Arbeitshäuser gehen.
Dass die Insassen dort für wenig Essen hart arbeiteten und eigentlich wie Gefangene gehalten wurden, interessierte niemanden. Erst nach den social novels und Sozialreporten wie denen von Henry Mayhew dämmerte es den Leuten: In Armut wurde man meist hineingeboren und es war sehr schwer sie hinter sich zu lassen.
Trotzdem hielt sich eine Vorstellung hartnäckig in den Köpfen der Menschen: Ein in die Armut hineingeborenes Kind war von seinem Umfeld so geprägt, dass es bloß kriminell werden konnte. Zwar wurde es nun zum Volkssport, sogenannte Charities abzuhalten und Anteil am Leid der Armen zu nehmen, doch leider reichte das den meisten gutbürgerlichen Londonern bereits um ihr Gewissen zu beruhigen und den Armen half es auch nichts. Erst zum Ende des Jahrhunderts hin, gab es die ersten richtigen Versicherung, die zum Beispiel Arbeitsunfähige davor bewahrten in die Armut abzurutschen, doch der Weg zum gerechten Sozialwesen war lang, beschwerlich und ist bis heute noch nicht richtig vorbei.
Das Leben in den Slums war menschenunwürdig: Man hauste mit viel zu vielen Personen in einem kleinen Verschlag oder sogar auf der Straße, Bildung war natürlich Mangelware und, wenn man Arbeit hatte, dann schuftete man für viel zu wenig Geld den ganzen Tag unter gesundheitsschädigenden Umständen in Fabriken, Wäschereien oder Nähereien, um die große Familie durchzubringen.
Kinder arbeiteten genau wie die Erwachsenen, erst 1847 wurde ein Gesetz erlassen, das Kinder "nur" zehn Stunden am Tag arbeiteten durften und erst 1874 wurde es Kindern unter zehn Jahren verboten, in Fabriken zu arbeiten. Davor kamen unzählige Kinder in Fabriken zu Tode, aber auch in Kohlminen und bei der Arbeit als Schornsteinfeger, bei der sie, weil sie dafür klein genug waren, in die Kaminschächte klettern mussten.
Nun stellen wir uns also vor, ein Kind wird in einen solchen Londoner Slum hereingeboren, lernt von Kleinauf, dass das Leben grausam sein kann und verliert vielleicht sogar noch seine Eltern an Krankheit, Unfälle oder durch andere damals oft gegebene Umstände.
Hier kommen dann die Kriminellen ins Spiel. Oft köderten sie die Kinder mit hübschen, netten Mädchen, die den Kindern ein neues Zuhause, Arbeit und Essen versprachen oder mit anderen Kindern, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und bald wurden die Kinder in ganzen, dafür eigens ausgebildeten Banden auf Diebeszüge geschickt. Besonders beliebt war der Leinendiebstahl. Man kletterte entweder über die Mauern von reichen Häusern und stahl dort teure Wäsche von der Leine oder man luchste reichen Herren und Damen die guten Taschentücher ab.
Das war leichter als gedacht, denn die Londoner Slums lagen nicht selten dicht an den Wohngebieten der reicheren Londoner. Die Kinder trennten die Initialen aus der Wäsche und verkauften sie dann an Pfandleiher, die wohl nicht selten ahnten, woher die Ware kam, aber natürlich auch überleben wollten und sie deshalb dankend aufkauften. In Gegenden wie Saffron Hill, wo auch Fagin aus Oliver Twist sein Lager hat, soll es Unmengen von solchen Pfandleiergeschäften gegeben haben und der Ort wurde bald dafür bekannt, dass angeblich aus jedem Fenster ein gestohlenes Taschentuch flaterte.
Natürlich stahl man aber auch Geldbörsen und Taschenuhren, bloß war das viel riskanter und man wurde das Diebesgut schwerer los. Warum ließen die Verbrecher überhaupt Kinder für sich stehlen?, mögen sich einige nun fragen. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Sie sind kleiner und können in großen Menschenmassen viel leichter untertauchen und verschwinden.
Zudem gibt es einen gewissen Niedlichkeitsfaktor, wenn ein erwischtes Kind zu weinen beginnt und beteuert, nur gestohlen zu haben, weil es nichts zu Essen hat und keinen anderen Ausweg sah. Ein berührter Gentleman könnte von einer Anzeige absehen und dem Kind vielleicht sogar ein bisschen Geld geben, was einem erwachsenen Taschendieb wohl nicht passieren würde. Und natürlich schlossen sich die meisten Kinder den Banden auch tatsächlich bloß aus Verzweiflung an. Wenn man die Wahl hat zwischen einem langsamen Verhungen und Diebstahl, was wählt man dann?
Obwohl die viktorianische Oberschicht die Problematik rasch erkannte und man in den 1830ern Kinderkriminelle auch nicht mehr gleich an den Galgen brachte, wie in den Jahrzehnten davor, trafen die Kinder trotzdem sehr harte Strafen, wenn es zur Anzeige kam. Denn obwohl man nun nach außen hin zeigte, wie Leid einem doch die armen Kinder taten, wollte man sich trotzdem nicht von ihnen die Butter vom Brot nehmen lassen und viele reiche Viktorianer hingen nach wie vor an ihrem Standpunkt, das Armut selbstverschuldet sei.
Das dumme Kind hätte halt einfach eine Arbeit suchen sollen, dann hätte es nicht stehlen müssen, nicht wahr? Dass es so einfach nicht war, ahnten die reichen Herren, die für ihr Geld oft keinen Finger rühren mussten, nicht oder es interessierte sie nicht. Und so sperrte man selbst Kinder ins Gefängnis oder deportierte sie zur harten Arbeit in die Sträflingskolonien von Australien, Hauptsache weg mit ihnen, weg von der guten Londoner Gesellschaft.
Die "Artful Dodgers" des viktorianischen Zeitalters waren also meist keine pompösen jungen Gentlemen die mit Witz und Gewieftheit ihrem Handwerk nachgingen, sondern arme, verzweifelte, heruntergekommene Kinder, die von Verbrechern angestiftet stahlen, um nicht zu verhungern. Das interessierte jedoch die Bourgeoisie kaum: Sie heuchelten zwar Mitgefühl, warfen sich jedoch bloß auf die wirklich interessanten, schockierenden Fälle, die in Zeitungen geschildert wurden und bildeten sich an diesen Maßstäben ihre Meinung zu viktorianischen Kinderdieben.
Wie Benjamin Disraeli so richtig erkannt hat, lebten die Menschen des viktorianischen Londons wie zwei verschiedene Nationen völlig aneinander vorbei, ohne Berührungspunkte und eine Ahnung davon, wie es der anderen Nation eigentlich wirklich erging. Social Novels, politische Zeitschriften und Enthüllungsberichte sollten helfen, diesen Umstand zu ändern, doch der Weg war beschwerlich und vor allem sehr, sehr lang.