Hallo Stordfield,
Ich lasse einmal einige Fakten die, für das Leben und die Geschichte der Juden im Allgemeinen und im Speziellen für das Leben und die Lebensumstände der Juden in London (genauer noch für das EastEnd) zwischen, sagen wir 1850 und 1920, hinlänglich bekannt sein dürften, außen vor. Damit meine ich u.a. auch die Vertreibung der Juden weltweit und eben auch aus Polen/Russland bzw. Osteuropa. Also die Rolle russischer Zaren, Antisemitismus, Verfolgung und Ermordung. Unglaubliche Schuldzuweisungen für alles Mögliche und die Erfindung des Juden als Unmenschen usw. Eben die ganze Palette, die sich in einem solchen Prozess ausbreitet. Das alles kann man nachlesen, sich anschauen oder recherchieren. Robert House z.B., schilderte in kurzen Kapiteln wichtige Fakten über das jüdische Leben im Zarenreich oder auch im EastEnd in seinem Buch “Jack the Ripper And The Case for Scotland Yard´s Prime Suspect“. Nicht zu vergessen, all die vielen Einflüsse des jüdischen Lebens auf dieser Welt.
Wohin auch immer die Kozminski Familie auswanderte, sei es England mit London oder Manchester, sei es Südafrika, die USA oder Australien, egal wann und aus welchen summierten Gründen auch immer, es ging darum, zu überleben, sich etwas aufzubauen, eine Heimat zu finden, Familien zu gründen, zu essen und zu trinken, ein Dach über den Kopf zu haben und nicht zu frieren. Wie die einzelnen Entscheidungen dazu aussahen zu gehen (oder auch vorerst zu bleiben) und woanders sein Glück zu versuchen, ob diese Entscheidungen politisch abhängig waren, aus Abenteuer- Lust, aus Angst oder einfach nur auf der Hoffnung beruhten ein besseres Leben zu finden oder eine Mischung aus allem waren, muss wohl ganz persönlich betrachten werden und hing im hohen Maße von den aktuell vorhandenen Bedingung zur jeweiligen Zeit ab.
Das EastEnd, Teile von London, sollten zum “neuen Warschau“ für Juden werden, egal ob aus Polen, Russland oder Ungarn usw. stammend. Das galt es mit allen Aspekten des Lebens aufzubauen. Mit allen Aspekten, die für den Menschen wichtig sind, egal welcher Religion sie angehören. Juden lebten schon vor den Kozminskis in England und London und dem EastEnd. Sie zogen teilweise eben dorthin oder in bzw. zu ähnlichen Orten auf der Welt. Und da LEBTEN sie!!!
Wer sich vom Kozminski- Clan wann irgendwo hinbewegte, kannst du in den verschiedensten Fäden nachlesen. Ich erwähne hier nur einmal, dass sich Matilda Lubnowski und Isaac Abrahams deutlich früher in London wiederfanden als es Woolf Abrahams und Aaron Kozminski mit der Mutter Golda Kozminski/Abrahams… taten. Warum auch immer das so gewesen war, wir können gerne spekulieren. Um aber in diesem engen Radius zu bleiben, die enge Verwandtschaft untereinander, schien Gang und Gebe gewesen zu sein. Ich könnte darauf näher eingehen aber ich denke, wir nehmen es als Fakt erst einmal so hin.
Nun mag es von der Persönlichkeitsstruktur und einigen anderen Dingen abhängig gewesen sein, wer sich wie durchsetzte, seine Rolle in der Gesellschaft fand oder sie gar mitprägen konnte usw. Auch das würde Seiten füllen. Nehmen wir einfach an, dass Isaac Abrahams der Erfolg gelang, er ein angesehener Geschäftsmann wurde, gehen wir davon aus, dass Matilda Lubnowski ein gutes Mittelstandsleben führte und Woolf Abrahams kein Bein auf die Erde bekam, zumindest lange Zeit nicht. Und wir wissen, dass Aaron Kozminski sehr, sehr schwer krank gewesen war. Und, dass Mutter Golda ein bibliches Alter erreichen konnte. Nun ja, dass gibt es alles auch in meiner Familie und in unzähligen anderen auch, egal welcher Erdteil, welches Land, welche Hautfarbe und welche Religion. David Lubin (Lubnowski) schaffte es gar zu einem gewissen “Ruhm“. Dies, und die Tatsache dass Aaron Kozminski möglicherweise Jack the Ripper gewesen war, lagen sehr dicht beieinander. Die Normalität birgt manchmal den größten Horror.
Wie funktionierte nun diese Familie? Zumindest dieser enge Teil? Wir können nur mutmaßen, zumindest für die größten Teile.
Muss die ganze Familie darüber informiert gewesen sein, dass Aaron Kozminski der Ripper war (wenn er es denn war)? Nein!
Die Abrahams/Lubnowski/ Kozminski lebten lange Zeit nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt oder sogar schlicht und einfach gegenüber (Matilda und Isaac). Wer gehörte nun noch alles zur Familie, welche Freunde und Kollegen oder weiter Verwandte nahmen an ihrem Leben teil? Welche weiteren Gesellschaftsteile waren in das Familienleben involviert? Wir wissen es nicht genau, es sollte aber in einem gewissen Maße alles stattgefunden haben.
Haben Isaac Abrahams, Matilda Lubnowski sowie Woolf Abrahams (alle samt Ehegatten) und Mutter Golda, möglicherweise auch Jacob Cohen, gewusst, dass ihr Bruder, Sohn und Cousin Aaron Kozminski, Jack the Ripper gewesen war? Ja! Sie sollten es gewusst haben, die Frage wäre nur die, wann hat wer etwas erfahren?
Wie weit wäre so etwas außerhalb dieses kleinen Kreises gedrungen? Schwer zu sagen, denn wir wissen nicht, wer alles zu dieser Familie gehörte (von außerhalb), welche Funktionen und Einflüsse diese hatten und ob auch alle dichthielten. Wie verhielt man sich zu führenden Männern des jüdischen Glaubens oder reichen Geschäftsleuten mit Einfluss?
Wie arbeiteten sie mit der Polizei? Wie war der Umgang dieser Familie mit den Beamten? Da sollte eine Interaktion stattgefunden haben, die bestimmte Informationen ergab, so meine Vermutung.
Ich denke, letztendlich war dies eine ganz familiäre Angelegenheit, einer ganz gewöhnlichen Familie, die sich den kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen anpasste und sie auf diese Art und Weise auch mitformte. Die ihren Geschäften nachgingen, ihren Glauben lebten, aus welcher Strömung er auch immer kam. Sie waren Menschen, die zueinanderhielten, eine Familien- und Freundebande pflegten, sich um sich und Ihresgleichen kümmerten aber auch in Kontakt kamen mit den anderen Teilen der Bevölkerung. Die Opfer Stride und Eddowes fanden ja auch Arbeit in jüdischen Familien.
Wie hätten sie reagieren sollen, als sie bemerkten, dass Aaron Kozminski, der kranke, verrückte Bruder, Sohn und Cousin sowie passionierter Prostituiertenhasser, etwas mit den Morden zu tun hatte? Als sie bemerkten, dass er zu den Tatzeiten nicht daheim war oder er zumindest allein gelassen wurde? Als sie blutige Kleidung oder Gegenstände bemerkten, die nicht ihm gehörten? Als sie bemerkten, dass ein Opfer (Stride) quasi vor der eigenen Haustür lag bzw. direkt an einem ehemaligen Wohnsitz dieser Familie? Wie hätten sie reagieren sollen, als ER verdächtigt wurde?
Dazu muss man sich folgende Fragen stellen:
Was wäre noch zu retten gewesen?
Und wie weit glaubten das alles die Angehörigen selber? Wie weit konnten sie ausblenden oder es sich nicht zugestehen?
Offenbar war da kein wirklicher Zeuge auszumachen, kein Beweisnetz für die Polizei strickbar, so hätte man mit einem “Alibi“ (Aaron Kozminski war daheim), einiges an Wind aus den Segeln nehmen können. Einem “Alibi“ aus der eigenen Familie.
Das alles fand in einem Prozess statt, wir wissen nicht wann er anfing, wie er sich veränderte und mit welchen Tempo er sich entwickelte. Wer glaubte was ab wann und warum?
Die entscheidenden Worte dürften aber sicherlich “Verzweiflung“ und “Angst“ gewesen sein. Diese Familie, mit ihrer Geschichte und dem Ort an dem sie gerade lebten, mit dem was damals vorherrschte, hätten vieles gebrauchen oder nicht gebrauchen können. Was sie überhaupt nicht gebrauchen konnten, war einen rasenden Serienkiller in ihrer eigenen Familie, der seine Opfer quasi um die Ecke töte, verstümmelte und liegenließ.
Sie konnten, wenn es so war, nur retten, was man retten konnte und dies scheint ihnen dann gelungen zu sein. Ehrlich gesagt, habe ich für diese Familie sogar Verständnis.
Hätte ich mich viel anders verhalten? Ich glaube nicht.
Ich hoffe, hiermit einen kleinen Beitrag zur “Übersicht“ beigetragen zu haben. Diese Familie war auf dem ersten Blick eine ganz normale Familie, mit einem ganz normalen Leben. Natürlich im Zusammenhang mit ihren gänzlichen Lebensumständen betrachtet. War da mehr (Jack the Ripper), dann war da etwas sehr schicksalhaftes und tragisches in ihrem Leben vorgefallen.
Reicht dies erst einmal als schnelle Reaktion?
Beste Grüße, Lestrade.
P.S.: Was hätte Jacob Cohen davon abhalten sollen, außerhalb von Manchester, in London- Aldgate, seine Aktivitäten als Butcher auszuweiten und Geschäftsverbinungen mit der Butcher´s Row zu unterhalten und somit Aaron Kozminski einen Job zu verschaffen (als was auch immer, Delikates- Wurst durfte er bestimmt nicht herstellen)? Vielleicht war er mit einem anderen Butcher befreundet oder er half ihm bei Finanzierungen und als Gegengefallen...