Hallo!
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf meine Idee mit meinem mutmaßlichen Zeugen aus der Dorset Street zurückkommen, welcher eben auch jener im Seaside Home gewesen sein könnte. Diese ist selbstverständlich nur eine Hypothese, eine Theorie. Wie wahrscheinlich sie ist, kann ich nicht beziffern, wohlmöglich ist es gar eine bedeutungslose Überlegung aber wer weiß.
Mit den Jahren überzeugte mich die Idee mit Lawende oder Schwartz für die Seaside Home ID nicht mehr vollständig. Das heißt nicht, dass sie nicht wirklich wichtige Zeugen waren, im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass sie jenen Kosminski auch zu Gesicht bekamen. Es gäbe natürlich noch weitere Alternativen, wie Joseph Hyam Levy oder Harry Harris, vielleicht sogar Pipeman. George Hutchinson war aber offensichtlich nicht jüdisch. Wir wissen es nicht genau aber es scheint mir, falls jener Kosminski Aaron Kozminski war, dann sollte die Seaside Home ID ab der zweiten Jahreshälfte 1890 stattgefunden haben. Lawende und Schwartz waren aber sofort während der Mordserie verfügbar, warum sollten sie dann im Falle Kosminski erst so spät zum Zuge kommen? Dafür gäbe es aber sicherlich auch Erklärungen.
Wenn wir bei den K5 bleiben, dann müssen wir davon ausgehen, oder könnten es, dass der Ripper mehrmals gezwungen war, vom Tatort zu flüchten. Dies würde für die Tatorte bei Nichols, Stride und Eddowes gelten. Wohlmöglich hörte er in der Bucks Row sich nähernde Schritte, Störungen bei Stride in der Berner Street/ Dutfields Yard scheinen offensichtlich, Schritte könnten auch im Mitre Square eine Rolle gespielt haben. Im Falle Chapman, Hanbury Street, muss man nicht zwangsläufig davon ausgehen. Aber was ist mit dem Millers Court in der Dorset Street? Hätten Aktivitäten im Millers Court, dem Ripper zur Flucht veranlasst?
Anhand eines Beispiels, möchte ich euch schildern, wie ein möglicher Zeuge im Millers Court/ Dorset Street in meiner Vorstellung ausgesehen haben könnte. Für dieses Beispiel nehme ich Frank Ruffell.
Frank Ruffell ist als Zeuge der Attacke auf Annie Farmer bekannt. Er lieferte wohl Koks (Kohlen) zu Lodging Houses in der George Street an und konnte einen Blick auf den Farmer Angreifer erhaschen.
Hier einmal als Beispiele zwei Links über Frank Ruffell:
http://www.casebook.org/press_reports/trenton_times/890723.htmlhttp://www.casebook.org/forum/messages/4926/8279.htmlOffenbar war Frank Ruffell bereits Jahre vorher einmal polizeilich aufgefallen (falls identisch, Ruffell war 1889 ca. 25 Jahre alt, hier offenbar ein Mann Anfang 20):
Seine Mutter, die für ihn aussagte gab folgendes an:
https://www.oldbaileyonline.org/browse.jsp?id=t18851019-996&div=t18851019-996&terms=Dorset|Street#highlight
“AMELIA RUFFELL . I am a Dutch Jewess and Ruffell's mother—I am a widow—I live at 10, Wine Court, Whitechapel—on 24th September Ruffell had been selling grapes at the corner of Baker's Row—I brought him his dinner at 4 o'clock.”Obwohl Frank Ruffel nicht jüdisch klingt, war seine Mutter eine holländische, jüdische Witwe (wie lange danach, kann ich nicht sagen). Ihr Geburtsname hätte einer der gewöhnlichen jüdischen Namen gewesen sein können: Annie Abrahams, Cohen, Levy, Lewis, Solomon, Goldstein usw. Wir sind nicht gezwungen, permanent nach einem jüdischen Namen zu suchen, wenn wir nach dem Zeugen im Seaside Home fahnden. Desweiteren sehe ich auch ein gutes Motiv für jemanden, aus religiösen Gründen nicht auszusagen, wenn die eigene Mutter Jüdin ist und verwitwet mitten in Whitechapel lebt. Es bleibt natürlich offen, wie jüdisch Frank Ruffell lebte. Der Vine Court lag hinter der südlichen Whitechapel Road, quasi zwischen der Bucks Row und der Greenfield Street, um sich einmal geographisch an zwei bekannte Straßen zu orientieren. Interessant ist auch, dass die Lieferadresse bzw. der Tatort George Street nur wenige Meter vom Millers Court/ Dorset Street entfernt lag. Ruffell belieferte in der George Street das Lodging Houses mit Kohle und das gleiche könnte er hin- und wieder nur wenige Meter entfernt in der Dorset Street getan haben. Der Kelly Tatort lag gegenüber eines der Lodging Houses dort. In der Dorset Street gab es auch einen Kohlenhändler und ich weiß nicht, für wen Frank Ruffell gearbeitet hatte. Doch dazu später mehr. Ruffell könnte auch am Morgen der Kelly Ermordung, vor dem Lodging House gegenüber des Miller Courts gearbeitet haben. Das ist aber auch nur eine Spekulation. Den Berichten zur Folge, blieb Frank Ruffell ein wichtiger Zeuge für die Polizei. Der Farmer Angreifer konnte nicht gestellt und somit auch nicht ihm oder Annie Farmer gegenübergestellt werden. Aber hätten beide Personen nicht auch Kosminski zu Gesicht bekommen?
Ich würde nicht behaupten, dass Frank Ruffell der Seaside Home Zeuge war aber ich kann mir jemanden vorstellen, der genau wie er, eine wichtige Beobachtung gemacht hatte und das vielleicht unter ähnlichen persönlichen und beruflichen Umständen. Vielleicht sogar einen Kollegen von ihm. Allerdings lasse ich mir offen, wie wahrscheinlich die Polizei Annie Farmer als Ripper Attacke ansah und ob ihre Beschreibungen als auch die von Ruffell, der Beschreibung Kosminskis entsprachen und zwar zu jener Zeit der Mordserie. Irgendetwas hätten Frank Ruffell darauf hingewiesen haben können, dass ihm eine etwas frühere Beobachtung plötzlich bedeutungsvoller erschien. Vorab ist es wichtig zu bemerken, dass wohl nicht jeder in der Gegend, sich vollends bewusst war, wie die Morde eigentlich abliefen. Im Millers Court wurde die Leiche recht spät gefunden und eine Beobachtung zu frühere Stunde, hätte nicht jeden Zeugen zunächst aufgeschreckt. Jemand wie Ruffell hätte davon ausgehen können, dass Kelly kurz vor ihrem Auffinden ermordet worden sein könnte und nicht um 5.30 Uhr morgens. Die Frage ist, besteht die Möglichkeit, dass Frank Ruffell jemanden nach langer Zeit wiedertraf und ihm plötzlich seine frühere Beobachtung bedeutsamer erschien oder aber, sah er denjenigen am Tatort Millers Court später erneut wieder und erinnertes sich dann an eine einstige Begegnung dort? Wir wissen, dass Täter oft an frühere Tatorte zurückkehren und dies wird der Ripper auch getan haben. Es ist zunächst reine Fantasie aber könnten sich beide Männer, Ruffell als auch Kosminski, im Sommer 1890 erneut am Kelly Tatort begegnet sein, so wie das unmittelbar schon nach dem Kelly Mord der Fall war? Ich gehe stark davon aus, dass Aaron Kozminski kurz nach seinem Aufenthalt auf der Krankenhausstation des Arbeitshauses Mitte Juli 1890 erneut in eine Anstalt kam. Wenn nun Frank Ruffell mit seinen Beobachtungen zu jener Zeit zur Polizei ging und vielleicht anhand eines Fotos Kosminski erkannte, könnte seine Beobachtung am Morgen des Kelly Mordes enorm Gewicht erlangt haben. Kosminski wurde, wenn er auf freiem Fuß war, überwacht und zwar von der City Police, die dann mit Sicherheit die gleiche Beobachtung gemacht hätte wie Ruffell, dessen aktuelle Geschichte man ohne Zweifel auch bestätigt hätte. Diese erneute Begegnung, hätte Kosminski stark beunruhigt haben können, was sich auf seine Psyche drastisch ausgewirkt haben könnte und eben auch zur Einweisung in das Krankenhaus führte. Entsprechend wäre dann auch die Reaktion im Seaside Home ausgefallen. Es mag ungewöhnlich sein, dass jemand zweimal an einem vermeintlichen Tatort (Kelly und Farmer), innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne, Beobachtungen gemacht hätte aber beide Tatorte lagen nur 100 Meter voneinander entfernt und Ruffell war Lieferant von Kohle und ähnlichem und belieferte auch eben bestimmte Unterkünfte. Wenn er mitbekam, dass Kosminski Jude war, dann hätte er aus religiösen Gründen zurückgezogen haben können, weil er selbst Jude war, was vielleicht auch für die Beamten auch nicht gleich zu erkennen war. Gerade die Sache mit seiner Mutter, die möglicherweise eine “echte“ Jüdin war, könnte zu seiner Motivation nicht auszusagen, eine erhebliche Rolle gespielt haben.
Mary Berkin:
“…but couldn't bring him to justice without the co- operation of one who might have had knowledge of the suspect's movements”Ich finde die Konstellation mit Frank Ruffel spannend und sie könnte sich mit großer Ähnlichkeit auch mit jemand anderen so abgespielt haben.
Sicherlich kennt ihr alle die wenigen Bilder und Zeichnungen von der Dorset Street. Was dabei auffällt, ist, dass dort immer wieder eine Kutsche zu sehen ist. Stets auf der Seite des Miller Courts, mal weiter vorne mal etwas weiter hinten, einmal direkt vor dem Millers Court (Seite 401-403):
http://forum.casebook.org/showthread.php?t=61&page=401Ich habe keine Ahnung, wem die Kutsche gehörte aber ich glaube es war die Zeugin Elizabeth Prater, die aussagte, dass Kutschenfahrer in der Dorset Street ihre Pferde sattelten. Miss Jane Brooks war eine Kohlenhändlerin aus der Dorset Street Nummer 39 (gemietet von McCarthy), die lag am nordwestlichen Ende der Dorset Street. Um den Bereich des Millers Court lagen Stallungen. Vielleicht stand die Kutsche von Mrs. Brooks an den Stallungen unweit des Millers Court, da auch da die Pferde untergebracht waren. Frank Ruffell könnte für Mrs. Brooks gearbeitet haben und belieferte eben jene Lodging Houses in der George Street als auch der Dorset Street. Es gab eine Wasserstelle im Millers Court und vielleicht nutze diese eben auch Frank Ruffell um die Pferde zu versorgen. Beim Gang in oder aus dem Court, hätte er Kosminski getroffen haben können, nachdem dieser mit Kelly fertig war. Vielleicht eilte Kosminski aber auch noch einmal zum Tatort zurück, aus welchen Gründen auch immer und wurde von Ruffell (oder jemanden wie ihn) dabei beobachtet.
Ich bin mal durch mir bekannte Angaben zur Dorset Street gegangen und möchte sie kurz darlegen.
Zunächst erst einmal die Fire Map von 1890 (zum Vergrößern anklicken):
http://www.bl.uk/onlinegallery/onlineex/firemaps/england/london/xi/zoomify150907.htmlDa gab es:
“…in Dorset Street, Mr. A. Bull, who has a paper warehouse in Dorset Street, and employes a good many hands…”
http://www.casebook.org/victorian_london/the-worst-street-in-london.html“…there are three stables (at 25, 29 & 31), so perhaps that's where they stopped to change horses?”
http://forum.casebook.org/showthread.php?t=61&page=403Weitere Angaben:
http://www.casebook.org/dissertations/dst-viperdossier.htmlIm Folgenden Link ist nicht zu erkennen, ob die Kohlenhändlerin Brooks Stallungen direkt nutzte:
http://www.casebook.org/forum/messages/4920/9211.htmlFakt scheint zu sein, dass in der Dorset Street Kutschen mit Pferden arbeitsmäßig gestellt wurden. Es ist ein Fakt, dass Frank Ruffell eine Kutsche fuhr, mit der er auch Kohlen auslieferte, eben auch an Lodging Houses wie in der George Street um die Ecke. Es gab einen Kohlehändler in der Dorset Street und jemand nutzte dort die Straße, um eine Kutsche abzustellen und wahrscheinlich die Pferde dort in einen der Ställe unterzubringen (ähnlich wie Diemschütz in der Berner Street/ Dutfields Yard). Keine Ahnung, ob da ein Zusammenhang zwischen Frank Ruffell und dem Kohlenhändler oder der Kutsche bzw. den Stallungen bestand. Fakt scheint zu sein, dass Frank Ruffell (logischerweise im Zusammenhang mit Annie Farmer) für die Polizei ein wichtiger Zeuge war, dessen jüdische Abstammung nicht gleich per Namen zu erkennen war, seine Mutter war jedoch eine Jüdin. Theoretisch kann man annehmen, dass Frank Ruffell nicht nur am Morgen des 21. November 1888 in der George Street seinen Dienst tat, sondern auch einige Tage zuvor am Morgen des 9. November 1888 in der Dorset Street, sei es nur, um Pferde vor den Karren zu spannen. Im Falle von Farmer, war er sich unmittelbar bewusst, Zeuge eines Vorfalls zu sein, im Falle von Kelly, hätte ihm das nicht so und gleich bewusst gewesen sein können.
Ich habe bereits öfters einen möglichen Zeugen aus der Dorset Street/Millers Court hier und auch woanders angesprochen und wollte euch das heute einmal etwas näherbringen. Ich sehe in ihm einen Mann wie Frank Ruffell, jüdische Abstammung und nicht gleich namentlich diesbezüglich zu erkennen aber mit einem guten Grund, nicht vor Gericht gegen Kosminski auszusagen (Mutter Jüdin und verwitwet er selbst mit diesem Glauben lebend). Dazu war er in gewisser Weise schon ein wichtiger Zeuge, wenn auch in einem anderen Fall.
Bitte beachtet, dass die wahrlich nur eine Überlegung ist.
Beste Grüße,
Lestrade.