Hallo Sherlock!
Diese Doku über Charles Cross habe ich auch schon gesehen, die war recht gut gemacht – jedoch hat sie mich nicht wirklich überzeugt.
Für die Cross-These sprechen zunächst mal folgende Indizien:
1) Die Tatsache, dass Cross als erster und allein am Nichols-Tatort war, bis Paul kurz darauf dazustieß, lässt Cross als möglichen Täter erscheinen.
2) Auch die überlieferten Zeitangaben waren verwirrend, wenn sie denn stimmen sollten: Er gehe gewöhnlich zwischen 3.20 und 3.30 Uhr von zuhause los, soll Cross ausgesagt haben. Von seiner Adresse in der Doveton Street, Bethnal Green, bis zum Tatort brauchte man allerdings gerade mal knapp 10 Minuten - es bleiben bis 3.45 Uhr also ein paar Minuten, die für den Mord reichen würden, wenn die Zeitangaben stimmen sollten.
3) Zudem lagen alle Tatorte JTRs auf den Wegen zwischen der Wohnung von Cross, seiner Arbeit als Fleisch-Auslieferer bei Pickfords in der Broad Street und dem Wohnort seiner Mutter in der Cable Street.
4) Auch hätte er als Fleischauslieferer eine Erklärung für Messer und Blut an der Arbeitskleidung gehabt.
Dies sind zwar bessere Verdachtsmomente, als gegen viele andere beliebte Kandidaten vorliegen.
Was hingegen die These, dass er JTR gewesen sein könnte, relativiert:
1) Cross hätte, als er die Schritte von Paul hörte, einfach nach Westen verschwinden können, ohne erkannt zu werden, statt auf einen Zeugen zu warten: Es war noch dunkel, und es sind gut 100 Meter vom östlichen Ende der Buck's Row bis zum Tatort, bis zu den Querstraßen im Westen als Fluchtwege sind es nur wenige Meter. Stattdessen wartete er, wies Paul sogar erst auf den Körper am Straßenrand hin, und ging mit ihm schließlich einen Polizisten suchen. Da es zur Tatzeit in der Straße absolut still war, hätte Cross die Schritte von Paul kaum überhören können, da Arbeiter damals Schuhe mit harten Sohlen trugen, die auf dem Pflaster deutliche Geräusche gaben.
2) Möglicherweise sind einfach die Zeitangaben missverständlich oder ungenau. Denn auch andere überlieferte Zeitangaben stimmen nicht überein: Paul z.B. sagte, wenn ich mich recht erinnere, er habe sein Heim gegen 3.45 Uhr verlassen - zu diesem Zeitpunkt will aber PC Neill bereits die Leiche entdeckt haben.
Der Fall leidet ganz allgemein darunter, dass es zu der damaligen Zeit noch keine synchronisierten Funkuhren gab: Die mechanischen Uhren hatten große Gang-Ungenauigkeiten, und es hing davon ab, wie oft sie mit welcher Referenzuhr - Bahnhof, Rathaus, Kirche - verglichen und nachgestellt wurden. Und wer keine eigene Taschenuhr hatte, schaute auf eine in der Wohnung oder auf eine öffentliche und schätzte dazwischen bis zum nächstmöglichen Blick auf eine Uhr oder zum nächsten Glockenschlag einer Turmuhr einfach die Zeit. Unter solchen Rahmenbedingungen eine korrekte Zeitleiste zu erstellen, ist nicht leicht – und so kann das Zeitfenster, das Cross tatsächlich zur Verfügung gestanden hätte, nur schwer eingeschätzt werden.
3) Da Cross erst auf dem Weg zur Arbeit war, hätte er für frisches Blut an Kleidung und Messer keine plausible Erklärung gehabt, aber weder Paul noch PC Mizen fiel an Cross irgend etwas Verdächtiges auf.
4) Eine Änderung des Namens, wie im Falle Lechmere, der den seines Stiefvaters Cross benutzte, kam in der damaligen Zeit leider häufig vor und ist somit nicht per se verdächtig. Die Praxis der Namensänderungen machte nur leider die Ermittlungen damals und die Recherche der Ripperologen heutzutage nicht gerade einfacher. Jedenfalls hätte es Lechmere/Cross überhaupt nichts genutzt, nur beim Nachnamen zu lügen, aber bei Vornamen, Adresse und Arbeitsplatz die Wahrheit zu sagen. Wahrscheinlich wollte er ganz einfach nur so wenig wie möglich mit der Geschichte zu tun haben und hat den Namen seines Polizisten-Stiefvaters benutzt, um seine Glaubwürdigkeit und Unbescholtenheit zu betonen. (Das machen bei mir in der Gegend auch viele Leute: „Ich bin der Verwandte von XY, dem Polizisten/Bürgermeister/Rechtsanwalt...“).
5) Cross kam brav zu seiner Zeugenaussage und wurde von der Polizei offensichtlich als unverdächtig und glaubwürdig empfunden. Jedenfalls gibt es m.W. in keinen erhaltenen Dokumenten irgendeinen Hinweis darauf auf, dass er damals zu den Verdächtigen gezählt worden wäre oder er noch einmal in Zusammenhang mit einem Mord aufgetaucht wäre.
6) Dass PC Mizen behauptete, Cross hätte gesagt, bei der Frau wäre bereits ein Polizist, ergibt keinen Sinn: Schließlich stand Paul neben ihm und hätte diese offensichtliche Lüge bemerkt. Wahrscheinlicher ist, dass Cross sagte, da liege eine Frau und das sollte sich ein Polizist ansehen o.ä. Mizen könnte sich später in der Befragung geirrt haben, weil er ja tatsächlich PC Neill bereits am Tatort antraf – oder er hat gelogen, um seine peinliche Trödelei zu vertuschen, denn er nahm die Sache ja offensichtlich nicht ernst genug und machte zunächst noch mit seiner Tätigkeit als Weckdienst weiter, bevor er dorthin ging.
7) Es dürfte wohl tausende Arbeiter gegeben haben, die täglich auf den Hauptverkehrsachsen von Ost nach West zu ihren Arbeitsplätzen pendelten und damit in der Nähe der Tatorte vorbeikamen.
8 ) Der Mord an Annie Chapman in der Hanbury Street fand erst gegen 5.30 Uhr statt – der Arbeitsbeginn von Cross bei Pickfords war aber bereits um 4 Uhr.
9) Außerdem lebte er nach dem Ende der Morde noch mehr als drei Jahrzehnte als unbescholtener und gesunder Bürger weiter - was für einen Serienkiller mit so einem ausgeprägten Jagd- und Tötungsdrang und einer so kurzen Abkühlphase wie JTR eher unwahrscheinlich ist. So schnell wie JTR eskalierte, war er höchstwahrscheinlich psychisch krank. Auch das Entfernen von Organen (und vermutlich sogar Kannibalismus) deuten darauf hin. Cross war aber offensichtlich psychisch gesund.
Daher halte ich Cross eher nicht für JTR.
MfG Arthur Dent