Autor Thema: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur  (Gelesen 72675 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Andromeda1933

  • Gast
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #75 am: 27.09.2013 22:22 Uhr »
Semiindoor? Ich bin semimuede und haue mich gleich in die Semi unseres Bettes!

Natürlich, im Grunde hast Du da recht. Indoor würde auch für mich einen „geschützten“ Tatort bedeuten. Aber nur, was das Auftauchen anderer Personen bedeutet oder auch als Schutz vor dem beobachtet werden?
Ist nicht das gleiche, aber bis zu einem gewissen Punkt schon, finde ich. Ich glaube, als Jack seine Drecksarbeit in der Hanbury Street begann, war es noch dunkel. Außerdem, wer hat normalerweise um diese Zeit etwas in einem Hinterhof zu suchen, auch wenn dort das Klo war?
Gut, nebenan war einer krank und ging oft in den Hof in dieser Nacht. Aber das war Zufall.
Jack hatte im Dunkel des Hofes eine gewisse Sicherheit. Warum dies bei Nichols keine Rolle spielte? Bei Nichols hatte ich seit jeher das Gefühl, die Unglückliche war einfach im falschen Moment am falschen Ort. Er, bis unter die Haarwurzeln voll mit Mordgedanken, traf auf sie in dieser fürchterlich dunklen engen Straße. Zufall, glaube ich. Irgendwie glaube ich nicht daran, dass sie mit ihrem Freier bis an den Tatort ging (weil sie ihn vielleicht als dunkel und „geeignet“ kannte). Sie hatte ganz einfach Pech – das Unglück, nicht 10 Minuten früher oder später dort unterwegs gewesen zu sein.
Danke an Isdrasil – hier wird wohl noch diskutiert werden!

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #76 am: 27.09.2013 22:36 Uhr »
Vielleicht haben manche Täter dazu gar kein Gefühl...

Schlaf schön. :empathy:
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Offline Isdrasil

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2037
  • Karma: +2/-0
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #77 am: 28.09.2013 13:22 Uhr »
Hi

Oh Mann, oh mann...ihr schreitet mir wieder zu schnell voran!
Deswegen antworte ich mal auf die Schnelle, obwohl ich Dir, Lestrade, endlich mal eine ausführlichere Antwort geben wollte. Aber besser das hier als nix, denk ich mir...
 :blum1:

Ich sehe den Unterschied zwischen „Indoor“ und „Outdoor“ ebenso banal wie Andromeda, wobei „Outdoor“ für mich eher „unter freiem Himmel“ bedeutet. Somit waren Bucks Row, Hanbury, Berner Street und Mitre Square klassische Outdoor-Tatorte, wenn es natürlich auch hier verschiedene Abstufungen und Besonderheiten zu beachten gibt. George Yard Buildings und Millers Court waren ohne Zweifel „Indoor“.
Einen ergänzenden Unterschied sehe ich auch noch: Bei den Indoor-Tatorten gab es jeweils nur einen Weg zur Flucht. Prinzipiell gelten in meinen Augen ein Hausflur und eine Wohnung wie Kellys Wohnung im Millers Court als Sackgasse. Sollten die George Yard Buildings zwei Zugänge haben, nehme ich gerne von dieser Meinung Abstand (wäre interessant zu wissen).
Hanbury kann man ebenso als Sackgasse betrachten, jedoch lassen wir dabei eines außer Acht: Zum einen die Outdoor-Situation (nach meiner Definition), zum anderen die Tatsache, dass man den Hof bei entsprechender körperlicher Konstitution auch über den Zaun hätte verlassen können.

Damit kommen wir zum nächsten Punkt:
Wir können uns lange darüber unterhalten, bei welchem Tatort wie viele Fenster in der Nähe waren, wer etwas hätte hören können oder inwiefern sich der Tatort an objektiv unsicheren Umgebungen befand, am Ende zählt nur eines: Die subjektive Empfindung des Täters. Diese Empfindung ist ausschlaggebend, wollen wir sein Gemüt während der Tat bewerten. Und da wir nicht in der Haut des Täters stecken, gibt es nur wenig, was uns darüber Aufschluss geben könnte. Eines davon sind die Verletzungen der Opfer.
Ich weiß nicht, wie es euch geht. Womöglich stehe ich mit dieser Meinung alleine da, und vieles davon ist zugegeben auch meinem Bauchgefühl geschuldet. Ich sehe jedoch immer noch bei Tabram und Kelly einen nervösen Täter. Ich kann mir nicht helfen. So oft ich mir auch die Postmortem Berichte durchlese, und so wenig Anhaltspunkte ich hierfür auch finde, es sind am Ende kleine Worte wie „slashes“, die mir das Gefühl geben, hier war der Täter nicht so souverän wie gewohnt.
Das der Mord an Chapman wiederum so souverän wirkt, sagt mir, dass sich der Täter hier sicher fühlte, was mir im Umkehrschluss sagt, dass er sich zugetraut hätte, über den Zaun fliehen zu können. Das ist einer der Schlüsse, die ich aus meinen Überlegungen ziehe.

John Evans hat mir an dieser Stelle mal vorgeworfen, ich würde den Karren vor das Pferd spannen. Mag sein. Doch manchmal ist das notwendig. Das machen wir am Ende alle. Wenn ich mir die Taten durchdenke, habe ich natürlich mein bevorzugtes Täterbild vor Augen, und natürlich beziehe ich die von mir präferierten Taten mit ein. Oder denkt jemand von euch an Gull, wenn ihr euch die Taten vorstellt? Na also – wir alle spannen den Karren vor das Pferd.

Zusammengefasst: Ich glaube fest daran, dass der Täter fit genug war, um sich bei Hanbury sicher zu fühlen. Diese Sicherheit empfand er nicht in den George Yard Buildings, geschweige denn im Millers Court. Der Ripper war ein „Freilufttäter“.

Man kann sich gerne mal überlegen, wo man sich selbst bei einer Schandtat am sichersten fühlen würde: Draußen, wo man zwar auch gesehen werden kann, jedoch mindestens zwei Möglichkeiten der Flucht besitzt. Oder in einer Räumlichkeit, die am Ende nur einen Ausweg bietet, und von der man sich zudem ebenso nicht sicher sein kann, nicht beobachtet zu werden (kennt jemand das Gefühl, wenn man in einem beleuchteten Raum sitzt und draußen ist es finster?). Dabei bedenke man, dass man draußen in der Dunkelheit zusätzlich noch unwahrscheinlicher erkannt werden würde, als es wohl bei einem möglichen Tumult in einem Hausflur oder gar einem Raum wäre.

Grüße

Offline Isdrasil

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2037
  • Karma: +2/-0
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #78 am: 28.09.2013 13:32 Uhr »
...Millers Court zum Beispiel ist alles andere als ein sicherer Tatort, um das noch zu ergänzen. Indoor bedeutet nicht immer sicher. Ein Mord in einem zumindest etwas, wenn nicht gar hell erleuchtetem Zimmer, während es draußen vergleichsweise dunkel ist? Der Täter muss ständig das Gefühl im Nacken gehabt haben, vielleicht doch von außen beobachtet zu werden.

Indoor wäre nur mit sicher gleichzusetzen, wenn ein Beobachten von außen (sehr wichtig Nachts) nicht möglich wäre. Sicher haben wir da noch die Vorhänge. Wir haben aber auch das Loch im Fenster. Der Täter, sofern er Kelly nicht gekannt hat, hätte sich in dieser Situation niemals sicher gefühlt.

George Yard ebenso. Sich sicher fühlen, wenn man in einem Wohnblock im Hausflur einen Mord begeht? Niemals. Aus dieser Situation möchte man schnellstmöglich raus.

Sicherheit heißt eine dunkle Ecke oder wenig benutzte Strasse/Seitengasse und mehrere Wege zur Flucht. Das ist das Maximum an Sicherheit, welches man in einem Viertel wie dem East End erwarten kann (außer, man würde sich tatsächlich in einer abgeschlossenen Wohnung im zweiten Stockwerk befinden). Zusammen mit meiner Annahme, dass die Auffindsituation in der Fantasie des Rippers ebenso eine Rolle gespielt haben dürfte, war er wohl von Bucks Row und Mitre Square rein aus Tatortsicht am meisten angetan.

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #79 am: 28.09.2013 15:38 Uhr »
Hallo Isdrasil!

Laut Dr. Timothy Killeen fand Martha Tabram den Tod zwischen 02.30 und 02.45 Uhr. Um 01.50 Uhr sah Zeugin Elizabeth Mahoney noch nichts auf dem Flur. Zeuge Alfred Crow sah dann eine “schalfende“ Person um 03.30 Uhr dort. Um 04.45 Uhr fand John Reeves dann die Leiche von Tabram. Martha Tabram muss zwischen 02.30/02.45 Uhr und 03.30 Uhr ums Leben gekommen sein. Der Täter hätte 45 Minuten bis maximal 1 Stunde Zeit gehabt, diese Frau zu töten und bei ihr zu verweilen. Selbst ein langsamer Täter, hätte mit 6-7 Stichen die Minute, ca. 5-6 Minuten für diese Verletzungen gebraucht. Du siehst da einen nervösen Täter. Und der hätte sicherlich schneller zugestochen. Ich denke auch, dass er hier schnell agiert hatte. Dieser Hausflur war unsicher.

Aber warum soll er bei Kelly nervös gewesen sein? Er verbrachte wahrscheinlich ca. 2 Stunden in dem Raum. Er machte Feuer (was angeblich gar nicht so hell gebrannt haben soll). Die Wahrscheinlichkeit, dass in diesem Privatraum ein Zeuge zu dieser Zeit auftauchte, würde ich definitiv weitaus weniger einschätzen als im Hausflur des George Yard Building. Er verteilte Kelly auf dem Tisch und auf Haken an den Wänden. Unruhe und Stress? Seine Motivation und seine Handschrift waren Verstümmelungen und die hat er hier ausgekostet. Macht man das unter Unruhe und Stress? Du schreibst: Trotzdem erneut die Verstümmelungen. Was hätte er sonst gewollt? Das war ja sein Ziel.

Ich weiß nicht, ob ein Vergleich Tabram- Kelly wirklich das standhalten kann, was Du zu vermitteln versuchst.

Tabram: Öffentlicher Raum, Zeugenwahrscheinlichkeit hoch, viel weniger Zeit am Tatort verbracht als Täter, unverschlossen
Kelly: Privatraum, Zeugenwahrscheinlichkeit geringer, viel mehr Zeit am Tatort verbracht als Täter, abgeschlossen

Das sind sehr unterschiedliche Bedingungen am Tatort und die Belastung des Täters mit Stress sicherlich sehr ungleich. Zu allem muss man natürlich sagen, wie wir ja bereits festgestellt haben, dass solch ein Täter solche Räume (innen, außen) ganz anders empfindet als wir es tun.

Du schreibst:

Kelly fügt sich bei Betrachtung der zeitlichen und örtlichen Umstände der Situationen und Tätersignaturen nahtlos in das Bild ein.

Zeitlich und Örtlich?

Wirklich? Von den K6 wurden die ersten 5 “Outdoor“ bzw. in einem Hausflur (Indoor, kein Privatraum) ermordet und zwar stets innerhalb weniger Minuten der Täterverweilung am Ort.

Kelly starb “Indoor“ (Privatraum) und der Täter verbrachte eine erhebliche Zeit bei ihr.

Bei Kelly schreibst Du dazu, der Killer wurde unsicher. Opfer 1-5 hört sich unsicher an und Opfer 6 scheint sich da deutlich abzugrenzen.

Ein nahtloses Einfügen von Kelly kann ich dabei einfach nicht erkennen.

Weiter zu Kelly:

daher lassen sich erneut die gleichen Verletzungsmuster und Ausführungen wie bei Tabram ausmachen,

Welche und wie meinst Du das?

Dann noch das:

Geschlossene Tatortsituation (Tabram, Kelly):

geprägt von unruhigem,
unkontrolliertem Ausüben der Gewalt


Bei Kelly sieht das nicht so aus. Die hat er lange und wie oft in der Fantasie durchgespielt, auseinandergenommen. Tabram glaube ich dir gerne.

Offene Tatortsituation (Nichols, Chapman, Stride, Eddowes):

geprägt von ruhigem,
kontrolliertem Ausüben der Gewalt


Bei Stride könnte das nicht einmal annähernd so gewesen sein. Da wirkt nichts ruhig oder kontrolliert, wenn der Angreifer von Stride auch ihr Mörder war. Er nahm sich bei den anderen doch einfach weniger Zeit, weil er nur wenig Zeit hatte um nicht entdeckt zu werden. Negativer Stress würde ich sagen.

Ich denke, dies mit den Tatortsituationen ist genau umgekehrt.

Zu Eddowes schreibst Du von experimentellen Verletzungen. Was soll das bedeuten?

Ich denke, alle Opfer wurden experimentell “behandelt“, weil der Täter neugierig war, was sich dort jeweils befand.

Ich finde, man sollte Jack the Ripper als opportunistischen Killer betrachten, einen Gelegenheitskiller. Inwieweit da Indoor als auch Outdoor überhaupt eine Rolle spielen, sei dahingestellt. Wie der Name ja sagt, Gelegenheit… Ein Teil der Fantasie kann das natürlich sein aber der Killer hat uns dann Opfer Outdoor (Chapman, Eddowes) als auch Opfer Indoor (Kelly), auf grausame Weise dargestellt und auffinden lassen. 

Egal wie die Begriffe Outdoor und Indoor zu definieren sind, es bestehen für mich deutliche Unterschiede zwischen Tabram und Kelly und die sollten unter Umständen beim Täter, sehr verschieden gewirkt haben.

Natürlich gehört die Viktimologie als auch die Tatort analysiert und ich finde es wirklich toll, sich darüber Gedanken zu machen. Aber vielleicht war für den Ripper, die klassische Kelly- Indoor Tat so etwas wie die finale End- Fantasie. Stress war sicherlich immer da aber vielleicht war das bei Kelly etwas, was wir positiven Stress nennen würden und dieser Stress hätte sich dann deutlich von dem am Tabram- Tatort unterschieden.

Jody Weis (New Yorker Polizei?) sieht wohl Indoor-Verbrechen als Orte mit reiner Privatsphäre an. Orte, mit wenig Tatortgröße und so etwas hätten wir bei Kelly. Outdoor gehört zu Kategorie mit viel Tatortgröße und ohne Privatsphäre. Dazu kommt, das man Indoor- Taten ohne Zeugenchance betrachtet und die Outdoor- Taten mit Zeugenpotential. Vielleicht kann man Tabram so mittig einordnen aber wir wissen ja nicht einmal, wo sie attackiert wurde. Auf dem Gehweg oder am Eingang des George Yard? Im Keller oder auf dem Dachboden oder im 3. Stock oder auf dem Hinterhof? Es könnte Jagd oder Flucht gegeben haben, bis es zum endgültigen und späteren Fundort kam.

Verstehe mich nicht falsch, deinen Ansatz finde ich wirklich gut aber es erscheint mir nicht wirklich tief und breit. Was soll uns diese Signatur überhaupt sagen?

Dass der Täter einen Bogen von Tabram zu Kelly gespannt hat, um erneut Indoor morden zu können? Aber warum soll er sich nach der Erfahrung des unruhigen und unkontrollierten Tatortes Tabram nach einem ebenso unruhigen und unkontrollierten Kelly Tatort sehnen? Ich denke, ein geschlossener Raum war sein insgeheimer Wunsch aber dem bot ihm keines der Opfer, auch nicht Tabram, vor dem Mord an Kelly. Ob er Outdoor auch nach Kelly weitergemacht hätte? Ja! Und wenn es nur dazu gereicht hätte, Organe mit nach Hause zu nehmen.

Beste Grüße an Dich,

Lestrade.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Andromeda1933

  • Gast
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #80 am: 29.09.2013 18:17 Uhr »
In meinen Augen verbindet sich mit unserer Diskussion dieser Tread auch mit dem, der möglichen „Reaktion aufs Erwischtwerden“.

An Isdrasil:
Ein Sprung/Klettern über den Bretterzaun liegt Nahe, aber wäre der Kerl aus dem Nachbarhaus heraus gekommen? Manche Häuser waren abgeschlossen. Ein Gewaltausbruch (um seine Haut zu retten) und Messerstecherei liegt näher, finde ich. Lestrade ließ schon was anklingen. Wer kann schon sagen, wie ein verwirrter Geist arbeitet. Auch nicht undenkbar, dass er sich über alles keine Gedanken machte. Deshalb eventuell auch bei anderer Gelegenheit sein Morden auf offener Straße. Vielleicht dachte der Kerl keine einzige Sekunde voraus? Alle Ermittler, Autoren und auch wir versuchen uns darin, sein Handeln zu interpretieren. Ein Mord hat normalerweise ein Motiv, der Täter entspricht einem Typus usw., aber was, wenn in einem so abartig verlinkten Hirn gar kein Platz für Muster war?
Miller's Court – erhelltes Zimmer usw. Weeste, ick bin als Berliner auf Hinterhöfen groß geworden. Wahrscheinlich bin ich tausende Male an Fenster vorbei gegangen, tags, nachts.
Schaust Du in Fenster hinein? Schiebst Du einen Vorhang beiseite, um dies zu können? Nein, ganz bestimmt nicht! Man tut so etwas einfach nicht, von daher sehe ich den Tatort Miller's Court als einen eher „sicheren“ Ort für ihn an. Das grössere Problem hätten für ihn die nahezu papierdünnen Wände sein können (der Raum war von McCarthys Lagerraum abgetrennt worden). Die späteren Zeugenaussagen (der angebliche Schrei, die Schritte) könnten das untermauern. Die Leute sollten dort ihr Husten gehört haben. Ich tue mich mit dem Miller's Court immer schwer, weil ich davon überzeugt bin, es war die Tat Barnetts (an Kelly oder einer anderen Frau). Doch wenn es der Ripper war, dann war er hier vielleicht sogar übererregt. Er konnte sich endlich austoben, ohne sich ständig umdrehen zu müssen (falls es ihm überhaupt wichtig erschien, für seine Sicherheit zu sorgen). Vielleicht war der Mord „indoors“ in der Hanbury Street ein erster Versuch, an seinem Opfer „mehr zu arbeiten“, weil er dort ungestörter (seiner Meinung nach) war.
Was indoor/outdoor heißt, wissen wir ja. Auf einen Tatort übertragen würde ich es (persönlich) nicht wörtlich nehmen, sondern nur darauf konzentriert wissen wollen, die Tat konnte nicht ohne weiteres beobachtet werden. Profiler sehen das sicher anders.
Womöglich muss ich hinsichtlich des Mordes in der Hanbury Street mein „Weltbild“ überdenken. Für mich war es bisher ausgemachte Sache, dass Annie ihren Mörder in den Hof führte (wusste, wohin man gehen konnte). Nun, möglich, dass ER es wusste und diese Umgebung anstrebte.
Ob sich Paare dort, am Mitre Square oder sonstwo vorher schamhaft umsahen, ob sie gesehen werden konnten?
« Letzte Änderung: 29.09.2013 22:56 Uhr von Andromeda1933 »

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #81 am: 29.09.2013 21:50 Uhr »
In meinen Augen verbindet sich mit unserer Diskussion dieser Tread auch mit dem, der möglichen „Reaktion aufs Erwischtwerden“.

Guter Tipp, Danke.

Nichtsdestotrotz, Isdrasil´s ortsgebundene Signatur (die wohl die Handschrift des Täters beeinflussen soll) und der dabei auftretende, angesprochene Stressfaktor, ist eine spannende Überlegung, auch wenn jeder von uns, mehr oder weniger, unterschiedliche Ansichten oder Einteilungen dazu hat. Wie immer halt. Spannt man den Bogen von Tabram zu Kelly, so sieht man ja einen durchaus unterschiedlich agierenden Täter (auf den groben Blick) und muss zwangsläufig an die Örtlichkeiten denken. Was hat jeder Tatort mit dem Täter gemacht? Er brachte seine Opfer ja nicht immer an den gleichen Ort. Sich an jeden Ort in den Täter hineinzuversetzen, könnte lohnenswert sein aber dabei lässt man sich natürlich auch auf seine persönliche Tätervorstellung ein. Vielleicht sollte man das zunächst wertungsfreier angehen. Im Prinzip könnten wir das, für jede der sechs Opfer, individuell durchspielen. Isdrasil´s Übersicht ist nun fünf ein halb Jahre her. In der Zeit lernt man eine Menge hinzu.   
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #82 am: 01.10.2013 08:28 Uhr »
Was mir noch auffiel, als ich die Opfer miteinander verglich:

Tabram:
Trophäen/Souvenirs- Keine bekannt
39 Stichwunden, Brust u.a. 5 Stichwunden in der Leber dazu Bauch und Leiste (Unterleibsbereich).
(siehe auch Eddowes).

Nichols:
Trophäen/Souvenirs- Keine bekannt
Kehlschnitte, schwere Unterleibsverstümmelungen

Chapman:
Trophäen/Souvenirs- 3 Ringe,Gebärmutter mit Teilen der Vagina und Blase
Gewürgt, tiefer Kehlschnitt, schwerste Unterleibsverstümmelungen

Stride (Täter wohlmöglich gestört worden):
Trophäen/Souvenirs- Keine bekannt
Tiefer Kehlschnitt, keine Verstümmelungen

Eddowes:
Trophäen/Souvenirs- eine Niere und Teile der Gebärmutter, dazu ein Schürzenteil, das aber später vom Täter in der Goulston Street “entsorgt“ wurde
Tiefer Kehlschnitt, je eine Stichwunde in der Leber und Leiste (siehe Tabram), schwerste Unterleibsverstümmelungen. Schwere Gesichtsverstümmelungen ob nun bewusst oder als Abwehrverletzungen oder als Kombination beider Möglichkeiten.

Kelly:
Trophäen/Souvenirs- Herz fehlte offensichtlich
Tiefer Kehlschnitt (oder Schnitte), allerschwerste Verstümmelungen am ganzen Körper (Unterleib, Brustbereich) einschließlich des Gesichts.

Diesen Stichwunden zufolge, sollte man eher einen Vergleich Tabram- Eddowes anstreben und weniger Tabram- Kelly, um auf die ähnlichen Verletzungsmuster zurückzukommen. Das könnte auch implizieren, dass Tabram tatsächlich ein erstes Opfer von Jack the Ripper war, zumindest das erste, was an Ort und Stelle getötet wurde.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Andromeda1933

  • Gast
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #83 am: 02.10.2013 14:13 Uhr »
An Lestrade:

Weißt Du, ich habe mich noch nie so richtig detailliert mit den Verletzungen beschäftigt. Mir war das bisher relativ „Wurscht“, ob das arme Opfer 20, 30 oder wie viele Stiche auch sonst abbekommen hat. Schon möglich, dass ich hier sehr oberflächlich bin. Ich frage mich, ob man in der Verletzungen tatsächlich (eine Art von) Muster erkennen kann. Zum Beispiel die „gemeinsamen“ Verletzungen bei Tabram – Eddowes. Kann (könnte) man davon ausgehen, dass er die Stiche in die Leiste und Leber vorsätzlich durchführte, oder ist es einfach im Laufe seiner Massaker-Arbeit dazu gekommen? Er stich, schnitt und hackte in wenigen Minuten an einer Leiche in der Dunkelheit herum. Auch das teilweise Herausziehen von Darm oder anderen Organen – für mich eher zufällig im Rahmen seiner Zerstörungswut entstanden. Aber natürlich, vielleicht war das auch seine „Sprache“, die Botschaft eines kranken Hirns.
Ich glaube, ich komme Dir gedanklich ein wenig näher. Vielleicht war das alles gar kein „zur Schau stellen“ seiner Opfer, wie es so oft geschrieben wurde. Er war ganz einfach „fertig“ mit allem, mit seiner Wut, seiner „Arbeit“ und ging dann ganz einfach weg, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Opfer zu verstecken.

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #84 am: 02.10.2013 14:39 Uhr »
Hallo Andromeda,

Dein Posting kann ich absolut nachvollziehen. Ja.

Natürlich kann man die Verletzungen bei Martha Tabram auch als schwere Verstümmelungen ansehen. Ich tue das sogar. Nur könnten dafür ganz andere Gründe herhalten als bei Kelly. Bei Tabram könnten die Stichwunden ein Zeichen dafür sein, dass der Täter sicher gehen wollte, sein Opfer zu töten. Ohne das Tool des Kehlschnittes. Diese Raserei bei dieser Abstecherei könnte dabei jedoch schon ein Zeichen dafür gewesen sein, dass der Täter mehr vorhatte als nur zu töten. Bei Kelly war er bestimmt sicher, dass sein Opfer nach dem Kehlschnitt nicht mehr lebte und konnte sich so einer anderen Form (und zwar in Reinkultur) des Verstümmelns widmen, nämlich einem Teil seiner sexuellen Fantasie.

Für mich sieht es so aus, dass Eddowes sich noch wehren konnte, wehren vor dem Kehlschnitt. Deshalb auch die Gesichtsverletzungen. Ich weiß nicht, in exakt welcher Reihenfolge die Verletzungen bei Eddowes entstanden sind. Aber wenn er bei ihr auf ein sehr wehrhaftes Opfer traf (Kate wurde ja gerade aus der Ausnüchterungszelle entlassen), hätte er hier vorsichtshalber auf ein Stechen wie bei Tabram zurückgekommen sein können. Vielleicht nur für eine Sekunde, die ausreichte, um zu realisieren, dass der Kehlschnitt seine Wirkung getan haben sollte. Bei Kelly werden die Verletzungen des Gesichts in der Tat “echte“ Verstümmelungen gewesen sein. Aber bei Kelly verbrachte er viel Zeit, viel Zeit um ihr in´s Gesicht zu schauen. Da wird er sie ganz einfach entpersonalisiert haben. Bei Eddowes war es dafür zu dunkel. Sie “schaute“ ihn ja nicht an. Ich bin der Meinung, der Ripper tötete immer und immer wieder seine Mutter oder ein mütterähnliche Figur. Seine Opfer selber, als Personen, wollte er vielleicht gar nicht im wahren Sinne töten.

Einen Teil des MO könnte man so beschreiben, dass er auf der Suche nach Prostituierten war, die er, wenn die Gelegenheit für ihn stimmte, attackieren und ermorden konnte. Anscheinend bevorzugte er weder Indoor noch Outdoor im klassischen Sinne primär (vorausgesetzt dieser K6), sondern eben die “Sicherheit“, der sich eher zufällig auftuenden Örtlichkeit, egal welcher Art. Dies wirkt eher unorganisiert. Hauptsache Orte, an denen er, zunächst, für eine kurze Zeit ungestört agieren konnte. Solches Täterverhalten ist sehr riskant und ging bei Jack The Ripper auch einmal ordentlich schief (Stride). Auch wirkt dieser Risikofaktor eher unorganisiert. Da Verhalten die Persönlichkeit spiegelt, sollte Jack the Ripper auch im “normalen“ Leben nicht sonderlich organisiert gewesen sein. Andere Teile des MO waren die späten Nacht- bzw. frühen Morgenstunden, sowie Aktivität an Wochenend- und Feiertagen. Dass sich ein MO verfeinern und verändern kann, sieht man eindeutig an diesen Verbrechen. Wichtig wäre für ihn sicherlich gewesen, einen Ort zu finden, der zumindest temporär ruhig und somit sicher war.

Die Handschrift sehe ich im Kehlschnitt, an den Verstümmelungen und der Organmitnahme.
Würgen, bzw. Druckausübung durch Körpergewicht bzw. Druck durch Kraft und Gewicht eines kompletten Armes, bleibt wohl nur hypothetisch.

Ich würde gerne noch einmal auf den Stress an sich beim Ripper zurückkommen. Das könnte sich lohnen.

Gruß.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Andromeda1933

  • Gast
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #85 am: 03.10.2013 16:25 Uhr »
Einige Leute meinen, die Gesichtsverletzung von Eddowes waeren eine Art „Bestrafung“ gewesen. Die abgeschnittene Nasenspitze soll als Indiz für Syphilis gelten, womit Prostituierte stets in Verbindung gebracht werden (spielt auch eine Rolle in meiner
Donovan – Rache – Konstruktion). Einen „Buchstaben“ sehe ich in ihrer Gesichtsverletzung ebenfalls nicht, im „Tagebuch“ kam das wohl vor.
Mein erster Gedanke ist, sie müsste bei einem Messerschnitt/stich ins Gesicht ganz schön aufgeschrien haben, bevor ihr die Kehle durchtrennt wurde. Doch Morris, unser Kumpel vom Mitre Square will (trotz offener Tür) nichts gehört haben.

So wie ich „Stress“ interpretiere, ob positiver oder negativer Art, ist er doch ein wissentlich empfundenes Gefuehl. In weitestem Sinne jedenfalls.
In welchem Ausmaß, falls überhaupt, kann ein geistig verwirrter Triebtäter Stress bewusst empfinden? Empfindet er Angst oder Scham während seiner Tat? Reduziert sich bei ihm nicht alles auf das unterbewusste „nicht erwischt werden“?

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #86 am: 03.10.2013 19:19 Uhr »
Auch hier wieder, ich kann dein Post absolut nachempfinden. Bei Eddowes gibt es eben zwei Lager. Diejenigen, die ihre Gesichtsverletzungen als vorsätzlich ansehen und die (wie ich), welche darin Abwehrverletzungen sehen. Wenn er Eddowes von hinten attackierte (davon sollte man ausgehen), dann kann beim “abrutschen“ während der Kehlschnittattacke, auch die Nasenspitze verloren gehen. Der Ripper hatte ein Messer dabei, das sicherlich nicht hätte schärfer sein können. Beide Meinungen haben in meinen Augen ihre Berechtigung.

Wenn ich mir alle hier genannten Opfer anschaue. Dann denke ich unwillkürlich daran, dass Stress für den Täter ein großes Problem darstellte. Das die Opfer seinen Stressabbau widerspiegeln. Für mich geriet dieser Täter schon dann in Stress, wenn sich beim normalen Menschen noch gar nichts diesbezüglich regte. So ein Mensch sollte nicht in der Lage sein, sinnvoll zu planen. Solch ein Mensch kann nur impulsiv reagieren und er würde sich auch eher nur Zufallsopfer suchen. Ein unkontrollierter und unberechenbarer Mensch.

Kombiniert man die Stressfaktoren mit seiner wachsenden Erfahrung, so könnte man davon ausgehen, dass Tabram ein Opfer für ihn war, dem er zunächst mit positiven Stress (Erregung), von außerhalb mitgebracht, entgegentrat. Unerfahrenheit, mit der unsicheren Konstellation am Tatort, da jederzeit jemand in diesem Flur erscheinen konnte, hätte sich mit der ursprüngliche Erregung mischen können und damit auch in einer sinnlosen Abstecherei mit 39 Wunden. Klingt, als wenn jemand sicher gehen wollte, dass sein Opfer nun wirklich tot sei. Aber das kostete einiges an Zeit und auch unnötig Kraft. Wenn der Ripper auch Tabram tötete, dann musste er sich für die nächste Tat eine bessere Möglichkeit ausdenken, sein Opfer schneller und weniger kraftaufwendig zu töten, um schneller an sein eigenes Ziel zu kommen, den Verstümmelungen. Er hatte Outdoor nur wenig Zeit, und die sollte eigentlich den Verstümmelungen gewidmet werden. Also was tun? Eine Lösung zu finden, bedeutet auch weniger dieses Stresses erleben zu müssen, bei dem man auch noch die gewollte Kontrolle verlieren kann. Der schnelle Kehlschnitt könnte die Lösung gewesen sein (in Kombination mit Würgen oder Druckausübung auf die Hals oder Oberkörpergegend)

Achso:
Vielleicht war das alles gar kein „zur Schau stellen“ seiner Opfer, wie es so oft geschrieben wurde. Er war ganz einfach „fertig“ mit allem, mit seiner Wut, seiner „Arbeit“ und ging dann ganz einfach weg, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Opfer zu verstecken.

Vielleicht einfach weniger bewusst, eher unbewusst. Also nicht vorsätzlich. Aber eine nicht eingerechnete Komponente, die ihm erst im Nachhinein (auch hier eher unbewusster) gefreut haben könnte. Das ist manchmal einfacher, manchmal ganz schwer zu beurteilen.  
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Offline Anirahtak

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 243
  • Karma: +0/-0
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #87 am: 05.10.2013 09:14 Uhr »
Hallo,

...

Ich weiß nicht, wie es euch geht. Womöglich stehe ich mit dieser Meinung alleine da, und vieles davon ist zugegeben auch meinem Bauchgefühl geschuldet. Ich sehe jedoch immer noch bei Tabram und Kelly einen nervösen Täter. Ich kann mir nicht helfen. So oft ich mir auch die Postmortem Berichte durchlese, und so wenig Anhaltspunkte ich hierfür auch finde, es sind am Ende kleine Worte wie „slashes“, die mir das Gefühl geben, hier war der Täter nicht so souverän wie gewohnt.
Das der Mord an Chapman wiederum so souverän wirkt, sagt mir, dass sich der Täter hier sicher fühlte, was mir im Umkehrschluss sagt, dass er sich zugetraut hätte, über den Zaun fliehen zu können. Das ist einer der Schlüsse, die ich aus meinen Überlegungen ziehe.
Andererseits, wenn er sich bei Kelly so unsicher gefühlt hätte, warum sollte er sich dann die Zeit nehmen, sie so zu zerstückeln und zu "platzieren", anstatt den Ort zu verlassen? Dass er nicht anders konnte und unter Zwang stand, trotz Unsicherheit weiterzumachen, wäre mir nicht einleuchtend, weil er bei den Straßentaten offenbar immer die notwendige Selbstdisziplin aufbrachte, rechtzeitig zu verschwinden. (Falls er Kellys Tür selbst von außen abgeschlossen hat, kommt mir das auch eher selbstsicher vor als nervös.) Was mein Bauchgefühl angeht, sehe ich bei Kelly einen Täter, der aus seiner Sicht endlich einen Tatort gefunden hatte, wo er deutlich mehr Zeit hatte, seinem Drang nachzugehen.


Zitat
...

Man kann sich gerne mal überlegen, wo man sich selbst bei einer Schandtat am sichersten fühlen würde: Draußen, wo man zwar auch gesehen werden kann, jedoch mindestens zwei Möglichkeiten der Flucht besitzt. Oder in einer Räumlichkeit, die am Ende nur einen Ausweg bietet, und von der man sich zudem ebenso nicht sicher sein kann, nicht beobachtet zu werden (kennt jemand das Gefühl, wenn man in einem beleuchteten Raum sitzt und draußen ist es finster?). Dabei bedenke man, dass man draußen in der Dunkelheit zusätzlich noch unwahrscheinlicher erkannt werden würde, als es wohl bei einem möglichen Tumult in einem Hausflur oder gar einem Raum wäre.
Diese Überlegung konzentriert sich auf die Fluchtmöglichkeiten sofern jemand dazukommt, was natürlich nicht falsch ist. Wenn ich mir aber überlege, eine Schandtat begehen zu wollen, bei der ich überhaupt die Gefahr des Eintreffens von Zeugen minimieren will, erscheint mir eine nächtliche Räumlichkeit einer alleinstehenden Person zielführender als die Straße. Vor allem, wenn man bereits einige Straßentaten begangen hat und unzufrieden mit dem kurzen, fremdbestimmten Zeitfenster ist, das dort zur Verfügung steht. Da Kelly eine alleinstehende Prostituierte war und bspw. Hutchinson wohl gerade in dieser Nacht am Ort herumlungerte, hat diese Überlegung auch ihre Schwachstellen, aber ich würde sie aus Ripper-Sicht trotzdem nicht ausschließen. Er könnte überlegt haben, auf der Straße jeden Passanten fürchten zu müssen, was zutrifft, in Kellys Raum aber nur gezielte Besucher und dies zu dieser Tatzeit als unwahrscheinlich genug eingeordnet haben, um es zu wagen.

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #88 am: 08.10.2013 12:41 Uhr »
Ich bin überzeugt, dass der Ripper ein Mensch gewesen war, der permanent in einer Stresssituation lebte. Und ich denke, wir sollten uns diesen Stress, ihm Verhältnis zu uns selber, ganz anders vorstellen.

Die Frage ist auch, wie er damit umgehen konnte bzw. inwieweit ihm das überhaupt möglich war, dies zu tun.

Meiner Meinung nach gab es Stress, den er in die Taten mit hineinbrachte, es gab Stress, der während der Tat entstand. Dies kann man sicherlich noch in “positiv“ und “negativ“ unterscheiden. Ich meine das so, dass er seine Position als Jäger mochte (positiv) aber die Wahl des endgültigen Tatortes vielleicht unangenehmer empfand (negativ). So können “Prostituierten- Hetze“ in Pubs ebenfalls positiv auf ihn gewirkt haben aber “Religions- Hetze“ negativ. Er war sicherlich ein Mensch, der die dabei entstehenden Impulse schlecht kontrollieren konnte. Mit Sicherheit gab es einen ganz tief emotionalen Stress, der seine Wut und seinen Hass bestimmte und mit seinen Fantasien (Mord, Verstümmelung, Kannibalismus) Hand in Hand ging. Ich denke, diesen Stress sehen wir an (fast) allen Opfern. Aber der wird weniger, mit dem anderen vorhandenen bzw. entstehenden Stress zu tun gehabt haben.

Dies ist vielleicht der Stress (der tief verwurzelte), den Isdrasil meinte und damit läge er auch bei Tabram und Kelly meiner Meinung nach richtig. Aber ich denke, dass es da eine Beziehung zwischen dem emotionalen Stress und dem restlichen Stress gab. Der emotionale Stress kam dann am besten zum Ausdruck, wenn der restliche Stress niedriger gehalten werden konnte. Da könnte natürlich auch die Tatortsituation entscheidend gewesen sein und das war sie auch. Aber da die Tatortsituation als auch noch andere Faktoren (ob nun gewollt oder nicht) von ganz anderem Stressverhalten beeinflusst wurden, sollte man eben den gesamten Stress differenzierter sehen und “unterteilen“. Sich dabei auch zugestehen, dass zwischen ihnen jedoch (natürlich) ganz direkte Zusammenhänge existieren.

Dass der Täter Stress, und zwar ganz tief emotionalen, an die Opfer auslassen konnte, ist deutlich an Tabram und Kelly zu sehen. Nun, die anderen Opfer zeigen das ebenfalls, wenn auch nicht so krass aber immer noch ausreichend genug, um zu erkennen, was dahintersteckt. Das konnte er tun, wenn er ausreichend Zeit und Sicherheit hatte. Der Indoor- Bereich bei Tabram und der Raum von Kelly boten das. Hier sollte jedoch anderer Stress weniger gewesen sein (weniger würde ich aus der Sichtweise des Täters betrachten) und sich nicht so ungünstig ausgewirkt haben, wie bei Nichols, Chapman, Stride und Eddowes.

Der Tatstress drumherum (primär), war sicherlich bei Tabram und Kelly weniger. Bei Nichols, Chapman, Stride und Eddowes in meinen Augen definitiv erhöht. Der gestörte, tief verwurzelte Stress in seinen Fantasien (sekundär), kam jedoch bei Tabram und Kelly am deutlichsten zum Vorschein. Dann, wenn der Tatort sicherer war und “Indoor“ lag. Der primäre und sekundäre Stress bedingen sich dabei einander. Inwieweit der Täter dies bewusst selbst wählen und bestimmen bzw. beeinflussen konnte, kann ich nicht sagen, tendiere aber dazu, es dem “Zufall“ zuzuschreiben. Dazu müssen wir natürlich anmerken, dass wir nicht wissen, ob Tabram tatsächlich ein Ripper- Opfer war.

Bei Tabram wissen wir es nicht genau, bei Nichols, Chapman, Stride und Eddowes ist es aber so, dass sie sehr schnell, quasi unmittelbar nach der Ermordung, aufgefunden werden konnten. Bei Kelly war das nicht der Fall. Der Zeuge George Hutchinson traf Kelly um ca. 2 Uhr und verweilte gegenüber dem Eingang des Miller´s Court noch bis fast 3 Uhr. Die Mordschreie wurden erst um ca. 4 Uhr vernommen. Viele sind sich nicht sicher, ob es tatsächlich die Mordnacht war, die Hutchinson beschrieb. Ich persönliche denke es. Der Mann, welchen er mit Kelly sah, muss nicht zwangsläufig ihr Mörder gewesen sein. Natürlich kann dieser Mann Kelly lautlos um jene Zeit getötet haben, ohne das Hutchinson es bemerkte. Der Täter muss ja Hutchinson dann gar nicht so wahrgenommen haben, wie wir meinen würden. In der Berner Street nahm der Ripper offensichtlich Schwartz und Pipeman auch nicht gleich wahr. Aber da waren eben die Mordschreie um 4 Uhr und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Art von Täter so viel Zeit mit einem noch lebenden Opfer verbringen kann. Was aber möglich sein kann ist, dass dieser Mann wiederkehrte. Was ich sagen will, ist das:

Hutchinson kann Kelly mit ihrem Mörder gesehen haben aber er kann auch überhaupt nichts gesehen haben, was mit der Tat zu tun hatte. Allgemein geht man davon aus, dass Kelly ihrem Mörder zwischen 4 Uhr- 6 Uhr ausgesetzt war. Da war Hutchinson gar nicht mehr vor Ort. Sie kann aber auch um 2.15 Uhr oder um 7.30 Uhr ermordet worden sein. Wir wissen es nicht. 

Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Offline Isdrasil

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2037
  • Karma: +2/-0
Re: Die Theorie der ortsgebundenen Signatur
« Antwort #89 am: 08.10.2013 19:55 Uhr »
Hallo Ihr,

oh mann...ich würde liebend gerne mehr bei den Diskussionen teilnehmen. Gerade jetzt im Moment fällt es mir sehr schwer. Ich hoffe, ihr verzeiht mir das und hoffe ebenso auf bessere Zeiten.
  ;)

Viele Fragen bleiben leider unbeantwortet, aber ich wiederhole mich hier...stattdessen tippe ich schnell mal ein paar Gedanken nieder und leiste so wenigstens nen kleinen Beitrag.

Also. Fangen wir mal an. Stress. Was ist Stress? Lestrade hat hier schon einige gute Gedanken geäußert. Eigentlich jeder hier.
Prinzipiell denke ich, in den Hinterköpfen vieler (auch von mir) schwebt "Stress" in seiner neumodischen Bedeutung, im Sinne von "manche Dinge nicht in einer angemessenen Zeit erledigen zu können", von "zuviel um die Ohren haben", herum. Doch ich meine den Stress in einer anderen Form. Ich meine den Stress in der Art, wie ihn jemand erfährt, der sich tagelang auf eine Fragesituation vorbereitet, in dann doch völlig neuen Fragestellungen entgegentritt. Einer unvorhergesehenen Prüfung, oder einer vorher erdachten Situation und einem plötzlichen, unerwarteten Zwischenruf. Man denke an Referatsituationen, in denen man alle möglichen Parameter vorher durchdenkt, durch eine flapsige Bemerkung eines der Zuhörer jedoch völlig aus der Bahn geworfen wird. Kurzum - der Stress, der entsteht, wenn Unerwartetes geschieht. Das hat wenig mit Zeitdruck zu tun. Vielmehr hat es etwas mit der Persönlichkeit desjenigen zu tun, dem der Stress widerfährt. Manch einer geht souverän mit dieser Situation um, ein Anderer fängt das Stottern an.

Der Ripper war in meinen Augen eine labile, zwanghafte Person. Womöglich hat er noch einige andere Macken und Ticks im Alltag gehabt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er eine der Personen war, die beim außer Haus gehen nochmal schauen, ob auch wirklich der Herd aus ist (um ein flapsiges Beispiel aus dem heutigen Alltag zu nennen). Oder dessen Einrichtungsgegenstände in einer bestimmten Reihenfolge im Zimmer platziert sein müssen. Jedenfalls zwanghaft.
Das heißt, jegliche Abweichung von seinem Plan, ob nun im Großen oder im Kleinen, zeigen sich in seinem Verhalten, ob nun im Großen oder im Kleinen.

Dann gibt es den Trieb. Den Tötungstrieb. Den Drang zu morden, den er ebenso tagtäglich in Gedanken durchspielt, und bei Folgetaten an den vorherigen Taten misst, diese als Maßstab für weitere Taten nimmt. Der Widerspruch, der zwischen diesen beiden Parametern entsteht, diesen Widerspruch meine ich mit "Stress". Es ist der innere Konflikt zwischen Erdachtem und dem, was geschieht, der in einer zwanghaften Person Stress verursacht. Es geht dabei nicht darum, ob eine Tat geradlinig verläuft. Es kommt darauf an, wie sie im Vorfeld vom Täter erdacht wurde.

Oftmals äußert sich dieser Widerspruch in Wut. Nehmen wir den labilen Handwerker, der sich ein Projekt erdenkt. Er fängt an zu werkeln. Plötzlich passt etwas nicht. Verflixter Nagel! Dann wieder...dieser verfluchte Millimeter! Er fängt an, fuchtig zu werden, wird ungenau, ungeduldig. Es geht irgendwann nicht mehr um sein Werk, darum, dass er einfach eine Pause machen könnte. Nein, eine bestimmte Personengruppe wird wie bekloppt auf den Nagel einhämmern, und selbst wenn dieser krumm wie sonstwas wird. Es geht in diesem Falle nur noch um die nicht anders erlernte Stressbewältigung dieser Person, um das Unvermögen, diesen Konflikt zwischen Erdachtem und Realität zu bewältigen. Das Projekt tritt in den Hintergrund, und eine eher Impuls geleitete Handlungsweise kommt zum Vorschein.
Das muss natürlich nicht auf jeden Handwerker zutreffen.
 ;)

Was macht also der Ripper? Ist er eine dieser Personen, die ein "Projekt" (sorry für die Ausdrucksweise) auch zu Ende bringen wollen, wenn es nicht 100% passt, und dadurch ihren Faden verlieren? Nicholls, Chapman, Eddowes - bei diesen Morden war er fertig, hörte auf. Bei Kelly liess er sich mehr Zeit. Doch liegt das wirklich daran, dass er mehr Zeit hatte, oder lag es an anderen Gründen? Das ist es, was meiner Überlegung zugrunde liegt: Vielleicht verliess er bei Kelly den Pfad seines Projektes, trat dieses in den Hintergrund und machte der Wut Platz, die aufgrund des angesprochenen Widerspruches entstand? Scheint uns daher der Mord an Kelly so ausladend?
Eventuell trat bei Kelly eine unterbewusster geleitete Handlungsweise des Rippers in den Vordergrund. Ich bin der (beinahe) festen Überzeugung, dass bei dem Mord an Kelly die tiefe Seele des Rippers am ehesten zu Tage kommt, und zwar genau aus dem Grund, da es meiner Meinung nach der Mord war, der ihm am Wenigsten behagte. Man erkennt die Menschen erst in Situationen, in denen sie sich beweisen müssen. Erst wenn jemand ins kalte Wasser geschmissen wird, erkennt man seine Souveränität, sein Selbstbewusstsein, sein Vermögen, ungewollte Situationen zu meistern. Beim Mord an Kelly erkenne ich den Widerspruch, die Wut, den Stress, den Zwang und die Labilität dieser Persönlichkeit.

Ich möchte noch ergänzen, dass ich wesentlich andere Ansprüche an einen "sicheren" Tatort habe als anscheinend die Mehrzahl hier. Sicher bedeutet für mich immer subjektiv, und man fühlt sich dann subjektiv am sichersten, wenn die Umgebung und die Umstände exakt den vorher erdachten Umständen entsprechen. Gerade bei labilen, zwanghaften Persönlichkeiten. Da kann es sein, dass sie sich sicherer fühlen, die Schlucht auf einem dünnen Seil zu überqueren, anstatt die Hängebrücke zu nehmen: Weil das Seil in ihren Gedanken standhielt, die Brücke aber immer einbrach. Sicher bedeutet nicht sicher nach unserem Maßstab. Sicher bedeutet soviel wie "meinen Vorstellungen entsprechend". Diesen Satz lasse ich unbedingt bei Tätern der Kategorie des Rippers gelten.
Und da kann ein scheinbar sicheres Zimmer schnell zur beengenden Falle werden. Wir können ewig weiter diskutieren, wie hell es wo war, wo man am Besten fliehen konnte etc. Am Ende zählt für mich, dass ein Täter erst einmal in eine Situation kommt, die er nicht hundertprozentig kontrollieren kann. Es gibt viel zu viele Parameter, vom Opferverhalten ganz zu schweigen. Einige Parameter können auch während der Tat entstehen, ein Hund der bellt, eine Tür die knallt. Stress entsteht dann, wenn diese Parameter genügen, um subjektives Unbehagen zu spüren. Zudem bei zwanghaften Personen, die denken, sie würden die Situation kontrollieren.

Man kann darüber diskutieren, ob nach dem Double-Event ein Mord in einem Raum nicht genau das war, was sich der Täter wünschen würde. Aber daran glaube ich nicht. Ich glaube nicht daran, dass der Täter die Innenraumsituation in seine Gedanken einbezog. Sie war einer der nicht kontrollierbaren Parameter. Meiner Meinung nach.

Grüße, Isdrasil

...ich möchte noch anmerken, dass ich diese Diskussion sehr erfrischend finde und jeder einzelne Beitrag hier sehr nachdenkenswert ist  :good:
« Letzte Änderung: 08.10.2013 20:30 Uhr von Isdrasil »