Autor Thema: Jack London: People of the Abyss / Menschen der Tiefe  (Gelesen 31473 mal)

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Offline thomas schachner

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hallo alle zusammen,

in den folgenden tagen, vielleicht auch wochen, werde ich hier alle kapitel von jack londons "people of the abyss" (1903) in einer deutschen übersetzung veröffentlichen. da diese aus dem jahre 1928 stammt, sollte man sich nicht über die leicht verschrobene sprache wundern...

--> dieses buch gilt bis heute als eines der wichtigsten und authentischsten werke zeitgenössischer literatur.

ich hoffe ihr habt spass daran!!!

gruss
thomas.
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cover
« Antwort #1 am: 12.09.2006 18:41 Uhr »
...der vollständigkeit halber fange ich schon einmal mit den covern meiner beiden ausgaben an.

« Letzte Änderung: 13.09.2006 23:07 Uhr von thomas schachner »
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00 - Vorwort
« Antwort #2 am: 12.09.2006 18:43 Uhr »
00 - Vorwort

Die in diesem Buche niedergelegten Erfahrungen machte ich im Sommer 1902. Mit einem Gefühl, das am ehesten dem verglichen werden kann, welches einen Entdeckungsreisenden beseelt, stieg ich in die Unterwelt Londons hinab. Ich wollte lieber mit eigenen Augen sehen, als mich von Leuten belehren lassen, die nichts gesehen, oder von solchen, die vor mir schon alles gesehen und erlebt hatten. Außerdem hatte ich gewisse einfache Voraussetzungen, nach denen ich das Leben in dieser Unterwelt zu beurteilen gedachte: Was Leben, körperliche und geistige Gesundheit fördert, ist gut; was dem Leben entgegenarbeitet, es vernichtet, verkrüppelt, verfälscht, ist schlecht. Ich gestehe dem Leser, daß ich vieles sah, was von Übel war, und doch darf man nicht vergessen, daß die von mir geschilderten Zeiten in England als „gute Zeiten" galten; Hungersnot und Obdachlosigkeit, die ich beobachtete, sind chronische Leiden, die selbst in Zeiten der höchsten Blüte nie aufhören.
Auf den Sommer, von dem ich spreche, folgte ein harter Winter. Arbeitslose versammelten sich täglich zu mächtigen Prozessionen, und zuweilen zog ein ganzes Dutzend solcher Heere auf einmal durch die Straßen und rief nach Brot. Justin McCarthy, im Januar 1903 Korrespondent der New-Yorker Zeitung „Independant", schildert die Situation folgendermaßen: „Die Arbeitshäuser können nicht mehr von den notleidenden Scharen aufnehmen, die sich Tag und Nacht vor den Toren ansammeln und Brot und Obdach fordern. Alle wohltätigen Einrichtungen haben bei dem Versuch, die notleidenden Bewohner von Dachkammern und Kellerräumen in den Gassen und Winkeln Londons am Leben zu erhalten, ihre Mittel aufgebraucht. Die Quartiere der Heilsarmee in den verschiedenen Distrikten Londons werden allnächtlich von Heerscharen Arbeitsloser und Hungernder belagert, denen man weder Nahrung noch Unterkunft verschaffen kann." Man hat behaupten wollen, daß die Kritik, die ich an den Verhältnissen in England übe, zu pessimistisch sei. Ich behaupte im Gegenteil, daß ich der optimistischste aller Optimisten bin. Aber man kann den Wert der Menschen nicht nach den politischen Zusammenschlüssen der Nationen beurteilen, sondern nur nach den Individuen. Die Gesellschaft wächst weiter, während die politischen Maschinerien entzweigehen und unbrauchbar werden. In England sieht man in bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit, Gesundheit und Glück einer lichten, lächelnden Zukunft entgegen. Aber in einem großen Teil der politischen Parteien, die jetzt das Land zu seinem Unglück leiten, sehe ich nichts als einen Haufen Gerümpel.

Piedmont, Kalifornien.   

Jack London.
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01 - Der Abstieg
« Antwort #3 am: 12.09.2006 18:48 Uhr »
01 - Der Abstieg

Das ist überhaupt unmöglich", sagten meine Freunde zu mir, als ich mich entschlossen hatte, in das Londoner East End hinabzusteigen, und sie um Rat und Hilfe bat. Und als sie nachgedacht hatten, fügten sie mit einem peinlichen Versuch, sich in den Gedankengang eines Irrsinnigen zu versetzen, dessen Empfehlungen offenbar besser waren als sein Geisteszustand, hinzu: „Sie wenden sich am besten an die Polizei, um einen Führer zu erhalten." „Aber ich möchte die Polizei nicht in diese Sache hineinmischen", protestierte ich. „Ich will East End mit eigenen Augen sehen, ich will wissen, wie die Menschen dort leben, warum und wofür 6ie leben. Kurz, ich will selbst unter ihnen leben."
„Sie wollen doch nicht dort wohnen?" sagten alle, und die Unzufriedenheit stand deutlich auf ihren Gesichtern geschrieben.
„Vergessen Sie doch nicht, daß es dort Orte gibt, wo ein Menschenleben nicht zwei Schilling wert ist." „Diese Orte suche ich gerade", warf ich ein. „Aber es ist unmöglich", lautete die Antwort immer wieder.
„Das wollte ich nicht wissen", unterbrach ich sie kurz, abgestoßen von dem Mangel an Verständnis bei diesen Menschen. „Ich bin hier fremd und bin gekommen, um mir alles von Ihnen erzählen zu lassen, was Sie von East End wissen, damit ich ein wenig Bescheid weiß, ehe ich hingehe." „Aber wir wissen nichts von East End. Es liegt irgendwo dort drüben." Und sie wiesen mit der Hand in der Richtung, wo man bei seltener Gelegenheit einmal die Sonne über London aufgehen sehen kann.
„Wollen Sie denn, daß ich mich an Cook wende?" meinte ich.
„Warum nicht?" antworteten sie erleichtert. „Cook wird wohl Bescheid wissen."
Aber Herr O. Cook, in Firma O. Thomas Cook & Son, Pfadfinder und Reiseführer, dieses lebende Adreßbuch für die ganze Welt, der Helfer aller verirrten Reisenden erster Klasse, der mich ohne Bedenken im Augenblick mit Leichtigkeit und Expreß nach dem dunkelsten Afrika und ins innerste Tibet hätte schicken können, Herr O. Cook kannte nicht den Weg nach dem Londoner East End, das nur einen Steinwurf vom Ludgate Rondell entfernt liegt!
„Das ist nicht möglich", sagte der lebende Katalog über Routen und Preise in Cooks Cheapside-Bureau. „Das ist so — hm — so ungewöhnlich." „Wenden Sie sich an die Polizei", fertigte er mich ab, als ich an meiner Forderung festhielt. „Wir pflegen Reisenden East End nicht zu zeigen, niemand hegt den Wunsch danach, und wir wissen gar nichts über diese Gegend."
„Lassen Sie es gut sein", unterbrach ich ihn, um nicht von diesem Strom von Weigerungen aus dem Bureau gespült zu werden. „Sie können doch etwas für mich tun. Ich möchte gern, daß Sie im voraus wissen, was ich unternehmen will, so daß Sie gegebenenfalls imstande sind, mich zu identifizieren.“ „Schön, falls Sie ermordet werden sollten, werden wir die Leiche erkennen."
Er sagte das so zuversichtlich und kaltblütig, daß ich plötzlich meinen starren, verlassenen Leichnam auf einer Steinplatte liegen sah, über die unaufhörlich kaltes Wasser rieselte, während er sich über mich beugte und betrübt und ruhig erklärte, daß dies die Leiche des verrückten Amerikaners sei, der durchaus East End sehen wollte. „Nein, nein," antwortete ich, „ich meine nur, daß Sie wissen sollen, wer ich bin, für den Fall, daß ich in Konflikt mit der Polizei gerate." „Dann müssen Sie sich schon in unsere Zentrale bemühen", erklärte er. „Das ist etwas so Ungewöhnliches", entschuldigte er sich. Der Mann, den ich in der Zentrale antraf, räusperte sich, blinzelte mit den Augen und erklärte: „Wir haben es uns zur Regel gemacht, nie irgendwelche Auskunft über unsere Klienten zu erteilen." „Aber in diesem Fall bittet ein Klient Sie, es gegebenenfalls über ihn zu tun." Wieder räusperte er sich und blinzelte mit den Augen.
„Ja, ich weiß wohl, daß es etwas Ungewöhnliches ist, aber —" warf ich schnell ein. „Das wollte ich eben sagen, es ist etwas Ungewöhnliches, und ich glaube nicht, daß wir Ihnen dienen können."
Ich verließ ihn indessen mit der Adresse eines Detektivs in East End, und hierauf begab ich mich zum amerikanischen Konsul. Und in ihm fand ich endlich einen Mann, mit dem man reden konnte. Er blinzelte und räusperte sich nicht, hob nicht die Brauen und zeigte weder Mißtrauen noch Erstaunen. Im Verlauf einer Minute erklärte ich ihm mein Vorhaben, das er gleich als Tatsache hinnahm. Und in der nächsten Minute bat er mich um Auskunft über Alter, Größe und Gewicht und notierte mein Signalement. In der dritten Minute, als wir uns die Hand zum Abschied reichten, sagte er: „Also schön, Jack. Ich werde an Sie denken und Ihrer Fährte folgen.'“
Ich atmete befreit auf. Jetzt hatte ich meine Schiffe hinter mir verbrannt, und es stand mir frei, mich in die menschliche Wildnis zu stürzen, von der niemand etwas zu wissen schien. Aber gleich darauf stieß ich auf eine neue Schwierigkeit in Gestalt meines Droschkenkutschers, eines graubärtigen, ungeheuer dekorativen Herrn, der mich mehrere Stunden lang in seinem Cab in der City herumgefahren hatte.
„Fahren Sie mich nach East End", befahl ich, in den Wagen steigend. „Wohin?" fragte er erstaunt. „Irgendwohin in East End, fahren Sie!" Der Wagen fuhr einige Minuten ziellos weiter. Dann hielt er plötzlich an. Die Klappe über meinem Kopf öffnete sich, und der Kutscher blickte völlig verwirrt zu mir herunter. „Darf ich mir die Frage erlauben," sagte er, „wo Sie hin wollen?"
„Nach East End. Keine bestimmte Stelle. Fahren Sie mich ein bißchen herum." „Aber nach welcher Adresse?"
„Also, hören Sie doch!" rief ich. „Fahren Sie nach East End. und zwar sofort!" Offenbar begriff er nicht, aber er zog den Kopf zurück und trieb das Pferd brummend an. Es gibt keine Straße in London, wo man den Anblick der Armut meiden kann, weil etwa fünf Minuten von jedem beliebigen Punkt ein Armenviertel liegt; die Gegend aber, durch die mein Cab jetzt fuhr, war eine einzige große Spelunke. Die Straßen waren mit Menschen einer anderen Rasse bevölkert, von kleinen Menschen, die niedergebrochen und benebelt aussahen. Wir rollten dahin durch Meilen von Mauersteinen und Schmutz, und jede Querstraße zeigte eine ebenso lange Allee von Mauern und Elend. Hier und dort torkelte ein betrunkener Mann oder eine betrunkene Frau, und die Luft war direkt unrein von Streit und Zank. Auf einem Platz suchten alte Männer und Frauen tastend im Schmutz nach Gemüseabfällen, verfaulten Kartoffeln und Bohnen, während kleine Kinder wie Fliegen um einen Haufen verfaulten Obstes schwärmten und ihre Arme bis zu den Schultern in die breiige Masse bohrten, um kleine Stücke herauszufischen, die nur teilweise in Fäulnis übergegangen waren, und die sie sofort verzehrten. Auf dem ganzen Wege sah ich nicht eine Droschke, und danach zu urteilen, wie die Kinder hinter meinem Wagen herliefen, muß er ihnen eine Offenbarung aus einer anderen und besseren Welt gewesen sein. So weit ich sehen konnte, erblickte ich nur die soliden Steinmauern, die schleimigen Bürgersteige und die staubigen Straßen; und zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich einen Hauch von Furcht vor der großen Masse. Man kann sie mit der Furcht vor dem Meere vergleichen, die elenden Schwärme straßauf und straßab erschienen mir wie die Wogen eines unermeßlichen, übelriechenden Meeres, das um mich her wogte und über meinem Kopf zusammenzuschlagen drohte. „Stepney, Bahnhof Stepney", rief der Kutscher. Ich sah mich um. Es war wirklich ein Bahnhof, zu dem der Kutscher in seiner Verzweiflung gefahren war, als dem einzigen Ort in dieser Wildnis, von dem er je hatte reden hören. „Nun, und?" fragte ich.
Er murmelte etwas Unverständliches, schüttelte den Kopf und sah sehr besorgt drein. „Ich bin hier selbst ganz unbekannt", stammelte er. „Wenn Sie nicht nach dem Bahnhof Stepney wollen, so weiß ich wahrhaftig nicht, wo ich Sie hinfahren soll."
„Ich will Ihnen sagen, was ich will. Fahren Sie weiter und versuchen Sie, einen Laden zu entdecken, wo alte Kleider verkauft werden. Wenn Sie einen sehen, dann fahren Sie noch ein bißchen weiter, biegen um die nächste Ecke, halten dann und lassen mich aussteigen."
Ich konnte merken, daß er um sein Geld zu fürchten begann. Aber kurz darauf hielt er an und sagte, ein Stückchen weiter in der Straße sei ein Altkleidergeschäft
„Wollen Sie mich nicht zuerst bezahlen?" bat er. „Ich bekomme sieben Schilling sechs." „Jawohl," lachte ich, „und dann kriege ich Sie nicht mehr zu sehen."„Es wird wohl eher so sein, daß ich Sie nicht mehr zu sehen bekomme, wenn Sie mich nicht vorher bezahlen", rief er.
Eine Schar zerlumpter Zuschauer hatte sich schon um den Wagen gesammelt, und deshalb lachte ich nur und begab mich nach dem Laden. Die größte Schwierigkeit hier war, dem Verkäufer begreiflich zu machen, daß ich wirklich alte Kleider haben wollte. Aber nach fruchtlosen Versuchen, mir neue und ganz unmögliche Jacken und Hosen aufzuschwatzen, brachte er einen Haufen gebrauchtes Zeug ans Tageslicht, während er mir geheimnisvolle und vielsagende Blicke zuwarf, um mich verstehen zu lassen, daß er mich durchschaute. Er meinte meine Furcht vor Entdeckung gut ausnutzen zu können. Offenbar hielt er mich für einen Mann in der Klemme oder einen Schwerverbrecher von jenseits des Ozeans, jedenfalls für einen Mann, der um jeden Preis der Polizei entgehen wollte. Aber ich stritt mit ihm über den unverschämten Unterschied zwischen Preis und Wert seiner Ware, bis er völlig verzweifelte und schon den schwierigen Kunden an die Luft setzen wollte. Schließlich wählte ich ein Paar derbe, aber stark abgetragene Hosen, eine verschlissene Jacke, an der nur noch ein Knopf saß, ein Paar Nagelschuhe, die offenbar beim Kohlenlöschen getragen waren, einen Lederriemen und eine sehr schmutzige Sportmütze. Mein Unterzeug und meine Socken waren warm und neu, aber von der Art, wie sie sich jeder amerikanische Landstreicher unter gewöhnlichen Verhältnissen verschaffen konnte.
„Ich muß schon sagen, Sie haben einen harten Schädel", sagte er mit unverhehlter Bewunderung, als ich ihm die zehn Schilling gab, über die wir uns schließlich für die ganze Geschichte geeinigt hatten. „Sie sind sicher nicht zum erstenmal in der Petticutgasse. Ihre Hosen sind ihre fünf Schilling wert, und jeder Dockarbeiter würde zwei Schilling sechs für die Latschen geben, gar nicht zu reden von Jacke, Mütze, dem neuen Heizerhemd und allem übrigen."
„Was bieten Sie mir denn dafür?" frage ich plötzlich. „Ich habe Ihnen zehn Schilling für den ganzen Kram gegeben, und Sie sollen ihn ohne weiteres für acht wiederhaben."
Aber er schüttelte nur lachend den Kopf. Wenn ich ein gutes Geschäft machte, so hatte er offenbar noch ein besseres gemacht.
Ich fand meinen Cabkutscher, wie er und ein Schutzmann die Köpfe zusammensteckten, als der letztere mich aber scharf in Augenschein genommen und namentlich dem Bündel, das ich unter dem Arm trug, große Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ging er seines Weges und überließ es dem Kutscher, selbst mit mir fertig zu werden. Der Kutscher wollte nicht weiterfahren, ehe er nicht die sieben Schilling sechs Pence, die ich ihm schuldete, erhalten hatte. Dann war er aber auch bereit, mich bis ans Ende der Welt zu fahren, und entschuldigte sich eifrig bei mir wegen seines Benehmens, indem er erklärte, daß man in einer Stadt wie London oft die merkwürdigsten Kunden fände. Indessen mußte er sich damit begnügen, mich nach Highbury Vale in London-Nord zu fahren, wo mein Gepäck stand. Hier entledigte ich mich am nächsten Tage meiner Schuhe (mit Trauer sagte ich ihrer Leichtigkeit und Bequemlichkeit Lebewohl), meines weichen, grauen, reinen Anzuges und — nun ja, all meiner Kleider, worauf ich das Zeug des andern, mir gänzlich unbekannten Mannes anzog. Wie schlecht mußte es ihm gegangen sein, wenn er diese Lumpen für die elenden paar Schillinge verkaufte, die er von dem Trödler bekommen haben konnte.
In die Achselhöhle meines Heizerhemdes nähte ich ein Goldstück ein — eine verhältnismäßig geringe Summe in Anbetracht des Umstandes, daß es mein letzter Notgroschen sein sollte; und dann zog ich das Hemd an. Hierauf setzte ich mich und philosophierte über die guten fetten Jahre, die meine Haut weich gemacht und meine Nerven direkt unter die Haut gebracht hatten, denn das Hemd war hart und rauh, wie aus Haar gemacht. Ich bin sicher, daß der strengste Asket nicht mehr leidet, als ich in den folgenden vierundzwanzig Stunden litt. Die andern Kleidungsgegenstände zog ich schnell an. Nur mit den Stiefeln hatte es seine Not. Sie waren steif und hart wie aus Holz, und erst nach einer langwierigen Bearbeitung des Oberleders glückte es mir, meinen Fuß hineinzubekommen. Einige wenige Schillinge, ein Messer, ein Taschentuch, etwas braunes Papier und etwas Shagtabak in der Tasche stolperte ich die Treppe hinunter und verabschiedete mich von meinen unkenden Freunden. Als ich ging, konnte die „Stütze", eine freundliche Frau in mittleren Jahren, ein Lächeln nicht beherrschen, ihre Lippen trennten sich, und aus ihrer Kehle kam das seltsame Geräusch, das wir als Lachen bezeichnen.
Kaum stand ich auf der Straße, als ich auch schon den Unterschied fühlen sollte, den die Kleider schufen. Alle Zuvorkommenheit bei den einfachen Leuten, mit denen ich in Berührung kam, war verschwunden, in einer Sekunde war ich zu einem der ihren geworden. Meine alte, an den Ellbogen durchgeriebene Jacke war das Kennzeichen meiner Klasse, und meine Klasse war die ihre. Wir waren von derselben Art, und an Stelle der ehrerbietigen, etwas zu respektvollen Aufmerksamkeit, die sie mir bisher erwiesen hatten, trat jetzt Kameradschaft. Der Mann im Arbeitszeug und mit dem schmutzigen Tuch um den Hals sagte nicht mehr „Herr" zu mir. Jetzt hieß es „Kamerad", ein schönes, herzliches Wort mit einem Klang von Wärme und Freude, den das andere Wort nicht besitzt. „Herr — das Wort schmeckt nach Machtherrschaft und Autorität. Es ist ein Ausdruck der Untertänigkeit gegenüber dem besser Situierten. Man bittet um seine Gnade, mit andern Worten: eine Art Bettelei. Dies erinnert mich an eine Annehmlichkeit, die ich empfand, wie ich so in meinen Lumpen dahinging, an etwas, das dem reisenden Amerikaner selten begegnet: ich entging der langweiligen Trinkgeldplage und konnte mit den Leuten auf gleichem Fuß verkehren. Ja, noch ehe die Sonne unterging» hatten die Verhältnisse sich gänzlich verändert, und ich sagte sehr höflich: „Danke, Herr", zu einem Herrn, dessen Pferd ich gehalten hatte, und der einen Penny in meine ausgestreckte Hand fallen ließ.
Ich entdeckte auch andere Veränderungen, die die Folge meines Kleiderwechsels waren. Wenn ich sonst den Schutzmann nach dem Wege fragte, sagte er stets: „Autobus oder Droschke?'“ Jetzt hieß es: „Wollen Sie gehen oder fahren?" Jetzt war es auch selbstverständlich, daß man mir auf dem Bahnhof Fahrkarten dritter Klasse gab. Aber für das alles fand ich Ersatz. Zum erstenmal sah ich das englische Volk von Angesicht zu Angesicht und lernte es kennen. Wenn ich an Straßenecken und in Wirtshäusern mit Arbeitern und Müßiggängern sprach, redeten wir wie natürliche Menschen miteinander, und sie hatten keinen Hintergedanken, einen Vorteil aus mir zu ziehen. Und als ich endlich nach East End gelangte, war ich froh, als ich merkte, daß die Angst vor der Menge mich verlassen hatte. Jetzt gehörte ich selbst zur Menge. Das unermeßliche, übelriechende Meer war über meinem Kopf zusammengeschlagen, oder ich war sanft hineingeglitten, und es hatte nichts Fürchterliches an sich — außer dem Heizerhemd.


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02 - Johnny Upright
« Antwort #4 am: 13.09.2006 23:02 Uhr »
02 - Johnny Upright

Ich werde nicht Johnny Uprights Adresse nennen. Es mag genügen, daß er in der respektabelsten Straße von East End wohnt — einer Straße, die man in Amerika für sehr armselig ansehen würde, die aber in Ost-London eine reine Oase bedeutet. Auf allen Seiten ist sie von konzentriertester Unsauberkeit umgeben, von Straßen, die von einer elenden, schmutzigen Jugend wimmeln. Aber ihre eigenen Bürgersteige sind verhältnismäßig frei von spielenden Kindern, und sie sieht direkt verödet aus, so wenige Menschen verkehren in ihr.
jedes Haus in dieser Straße steht Schulter an Schulter mit dem Nachbarhaus, genau wie in den andern Straßen von East End. Die Häuser haben jedes nur einen Eingang. Sie sind achtzehn Fuß breit, und hinter jedem liegt ein kleiner, von einer Mauer umgebener Hof, von dem man, wenn es nicht regnet, ein Stückchen grauen Himmels sehen kann. Man vergesse nicht, daß wir jetzt East-End-Luxus betrachten. Einige von den Bewohnern dieser Straße sind so wohlhabend, daß sie sich eine „Sklavin" halten können. Johnny Upright hat eine solche, und ich kenne sie sehr gut, denn sie war die erste Bekanntschaft, die ich in diesem seltsamen Teil der Welt machte.
Ich kam in Johnny Uprights Haus und wurde von der Sklavin empfangen. Ihre Stellung war bedauernswert und verachtet, aber sie betrachtete mich mitleidig und geringschätzig. Sie zeigte deutlich, daß sie unsere Unterhaltung so sehr wie möglich abzukürzen wünschte. Es war Sonntag, und Johnny Upright war nicht zu Hause, so daß es nichts mehr zu sagen gab. Aber ich blieb stehen und diskutierte mit ihr, ob das alles war, was sie mir zu sagen hätte, bis ich die Aufmerksamkeit von Frau Johnny Upright erregte und sie in die Tür trat. Ehe sie mich jedoch eines Blickes würdigte, begann sie mit dem Mädchen zu schelten, weil sie die Tür nicht geschlossen hatte.
Nein, Mr. Johnny Upright sei nicht zu Hause und empfinge zudem nicht am Sonntag. Ich sagte, das sei sehr schade. Ob ich denn käme, um Arbeit zu erhalten? Nein, im Gegenteil, ich sei eigentlich gekommen, um mit ihm über ein Geschäft zu reden, das Vorteile für ihn haben könnte. Da erhielt alles ein anderes Aussehen. Der Herr sei in der Kirche, käme aber in einer Stunde heim, und dann könnte ich sicher mit ihm reden. Ob ich nicht so freundlich sein wolle, näherzutreten? — nein, das bat die Dame doch nicht, obwohl ich es mit meiner Bemerkung, daß ich in der Wirtschaft an der Ecke warten wolle, darauf abgesehen hatte. Ich begab mich daher an die Ecke, aber die Wirtschaft war während der Kirchzeit geschlossen, und so setzte ich mich mangels etwas Besserem auf eine Treppe in der Nähe, um zu warten. Und hier fand mich die Sklavin, als sie mir mürrisch und erstaunt mitteilte, daß die gnädige Frau mir erlaubte, in der Küche zu warten. „Es kommen so viele und wollen Arbeit haben", erklärte Frau Johnny Upright. „Ich hoffe deshalb, daß Sie es mir nicht übelnehmen werden, wie ich Sie empfing."
„Durchaus nicht, durchaus nicht", antwortete ich herablassend, um doch einmal meine Lumpen mit Würde zu tragen. „Das sehe ich vollkommen ein. Ich kann mir denken, daß Sie von Arbeitsuchenden überlaufen werden."
„Furchtbar", erwiderte sie mit einem beredten Blick und führte mich dann — nicht in die Küche, sondern ins Eßzimmer, was ich als Ergebnis meines vornehmen Auftretens betrachtete.
Dieses Eßzimmer lag im selben Stock wie die Küche, etwa vier Fuß unter der Straße, und war selbst jetzt, mitten am Tage, so dunkel, daß meine Augen sich erst daran gewöhnen mußten. Ein matter Lichtschimmer sickerte durch ein Fenster herein, dessen Oberteil in Straßenhöhe lag, und ich stellte fest, daß ich bei der Beleuchtung eine Zeitung lesen konnte.
Und während ich hier auf Johnny Uprights Heimkehr warte, will ich erklären, was ich wollte. Ich wünschte in der Zeit, da ich mit den Bewohnern von East End zusammen wohnen, essen und schlafen sollte, eine Zuflucht in der Nähe zu haben, die ich hin und wieder aufsuchen konnte, um mich zu überzeugen, daß es noch gute Kleider und Sauberkeit gab. Hier wollte ich auch meine Post empfangen, meine Aufzeichnungen machen und hin und wieder in anderen Kleidern Streifzüge nach zivilisierten Gegenden unternehmen. Aber ich stand einem schwierigen Problem gegenüber. Ein Logis, in dem mein Eigentum sicher sein sollte, erforderte eine Wirtin, der ein Mann, welcher ein solches Doppelleben führte, verdächtig sein mußte; und eine Wirtin wiederum, die sich nichts daraus machte, daß ihr Mieter derart lebte, konnte keine Garantie für die Sicherheit meines Eigentums bieten. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, suchte ich Hilfe bei Johnny Upright. Als Detektiv mit einer Erfahrung von einigen dreißig Jahren bei dauerndem Dienst, in East End weit und breit bekannt unter dem Namen, den ein verurteilter Verbrecher ihm gegeben hat, war er eben der Mann, eine ehrliche Wirtin für mich zu finden und sie in bezug auf mein seltsames Tun und Lassen zu beruhigen.
Seine beiden Töchter kamen vor ihm aus der Kirche. Prächtige Mädel in ihrem Sonntagsputz, mit all der seltsam zarten Anmut, die für die echte Londonerin charakteristisch ist, einer Schönheit, die eigentlich nur ein Versprechen auf unbestimmte Zeit und verurteilt ist zu entschwinden wie die Farbenpracht des Sonnenuntergangs. Sie betrachteten mich mit freimütiger Neugier, als sei ich ein seltsames Tier, und ignorierten mich dann den Rest der Wartezeit hindurch vollkommen. Dann kam Johnny Upright selbst und ging mit mir nach oben, damit wir miteinander reden könnten.
„Sprechen Sie lauter", unterbrach er mich gleich. „Ich bin so schrecklich erkältet und höre nicht gut." Ich dachte unwillkürlich, wo wohl der Gehilfe verborgen sein mochte, der die Aufgabe hatte, alles, was ich jetzt laut verraten sollte, aufzuschreiben, und noch heute weiß ich nicht, ob Johnny Upright wirklich erkältet war oder einen Gehilfen im Nebenzimmer hatte, obgleich ich seither viel mit ihm zusammengekommen bin und über die Sache nachgedacht habe. Soviel aber steht fest, daß er, obgleich ich ihm offen jede Auskunft über mich und mein Vorhaben erteilte, seine Meinung erst aussprach, als er mich am nächsten Tage gut gekleidet in seiner Straße angefahren kommen sah. Da wurde ich herzlich von ihm begrüßt und mußte mit ihm ins Eßzimmer gehen und mit seiner Familie Tee trinken.
Wir sind einfache Leute," sagte er, „nicht sehr verwöhnt, und Sie müssen versuchen, sich in unser anspruchsloses Leben zu finden." Die Töchter erröteten und waren verwirrt, als sie mich begrüßten, und er tat nichts, um es ihnen zu erleichtern.
„Ha! ha!" lachte er herzlich und schlug auf den Tisch. „Die Mädel glaubten, Sie wären gestern gekommen, um ein Stück Brot zu erbetteln! Ha! ha! ho! ho! ho!"
Sie leugneten es gekränkt mit wütenden Blicken und schuldvoll geröteten Wangen, als wäre es die Höhe wahren Feingefühls, durch Lumpen hindurch einen Mann entdecken zu können, der nicht in Lumpen zu gehen brauchte.
Und während ich hier saß und Brot mit Marmelade aß, entwickelte sich eine lustige Szene. Die Töchter meinten, daß ich beleidigt sein müßte, weil sie mich für einen Bettler gehalten hatten, während der Vater meinte, es sei ein großes Kompliment für meine Tüchtigkeit, daß die Verkleidung so gut geglückt wäre. Ich genoß das alles, wie ich das Brot und die Marmelade und den Tee genoß, bis der Augenblick kam, da Johnny Upright mit mir gehen sollte, um ein Logis für mich zu suchen, was ihm sechs Häuser weiter in seiner eigenen respektablen, wohlhabenden Straße glückte, in einem Hause, das seinem eigenen Hause glich wie ein Tropfen Wasser dem anderen.


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03 - Meine Wohnung und die einiger anderer
« Antwort #5 am: 17.09.2006 13:45 Uhr »
03 - Meine Wohnung und die einiger anderer

Für Ost-Londoner Verhältnisse war das Zimmer, das ich für sechs Schilling wöchentlich mietete, wirklich komfortabel. Aber mit amerikanischen Augen gesehen, war es schlecht möbliert, ungemütlich und klein. Als ich die Einrichtung durch einen gewöhnlichen Schreibmaschinentisch vermehrt hatte, konnte ich mich kaum darin umdrehen. Am besten ließ es sich durch eine Art Schlängeln ausführen, das große Gewandtheit und Geistesgegenwart erforderte. Als ich eingezogen war oder vielmehr mein Eigentum hingeschafft hatte, zog ich meine „Wanderkleidung" an und machte mich auf den Weg. Da ich mich nun einmal schon mit der Mietsfrage beschäftigt hatte, sah ich mir Wohnungen an, wobei ich immer den Gedanken festhielt, daß ich ein armer junger Mann mit Frau und vielen Kindern wäre.
Meine erste Beobachtung war, daß nur sehr wenige Häuser leer standen. Ich ging tatsächlich meilenweit in allen Richtungen, um ein einziges leeres Haus zu finden — ein entschiedener Beweis dafür, daß die Gegend übervölkert war. Da es klar ist, daß ich als armer junger Mann mit Familie kein ganzes Haus in diesem wenig einladenden Stadtteil mieten konnte, begann ich mich nach unmöblierten Zimmern umzusehen, in denen ich Frau und Kinder, Hab und Gut zusammen unterbringen konnte. Es gab nicht viele, ich fand sie immer nur einzeln, denn ein Zimmer sieht man für genügend an, daß die Familie eines armen Mannes darin kochen, essen und schlafen kann. Als ich nach dem Preis für zwei Zimmer fragte, warf der Hauswart mir einen Blick zu, wie der, mit dem eine gewisse Person Oliver Twist ansah, wenn er um mehr bat.
Ich erfuhr bald, daß man ein Zimmer nicht nur für einen armen Mann und seine Familie als genügend ansah, sondern daß verschiedene Familien, die ein einziges Zimmer bewohnten, noch Platz übrig hatten, um ein oder zwei Untermieter aufzunehmen. Wenn man ein solches Zimmer für drei bis sechs Schilling wöchentlich mieten kann, so ist es nur recht und billig, daß sie einem gutempfohlenen Zimmerherrn für acht Pence oder einen Schilling gestatten, sich in der Stube aufzuhalten. Zuweilen kann er sich sogar von seiner Wirtin für einige wenige Schillinge mit beköstigen lassen. Über diesen Punkt konnte ich jedoch keine Aufklärung erlangen, da ich mich ja für einen Familienversorger ausgab.
In den Häusern, die ich untersuchte, gab es keine Badeeinrichtung, und ich erfuhr, daß sich in keinem der vielen tausend Häuser, die ich passiert hatte, eine solche befand. In Anbetracht des Umstandes, daß ich Frau und Kinder hatte, und daß noch ein paar Untermieter das Zimmer mit uns teilen sollten, mußte es eine schwierige Angelegenheit sein, in einer Blechwanne in der Stube zu baden. Aber — dafür sparte man ja Seife; jedes Ding hat sein Gutes, und der liebe Gott sitzt ja immer noch in seinem Himmel.
Ich mietete indessen nicht, sondern kehrte in meine und Johnny Uprights Straße zurück. Bei dem Gedanken an meine Frau, meine Kinder, meine Zimmerherren und die kleinen Zellen, in denen ich sie alle untergebracht hatte, war meine Vorstellung allmählich so eingeengt, daß es eine Weile dauerte, ehe ich mich wieder an all den Raum in meinem eigenen Zimmer gewöhnt hatte. Dessen Dimensionen waren erstaunlich. War dies wirklich das Zimmer, das ich für sechs Schilling die Woche gemietet hatte? Unmöglich! Aber meine Wirtin, die anklopfte, um sich nach meinen Wünschen zu erkundigen, verscheuchte allen Zweifel. „Ach ja," antwortete sie mir, „diese Straße ist die allerletzte. Alle andern waren noch vor acht bis zehn Jahren wie sie, und alle Bewohner waren sehr respektabel. Aber die andern haben uns verjagt. Wir in dieser Straße sind die einzigen, die noch übrig sind. Es ist schrecklich!" Und dann setzte sie mir näher auseinander, wie die Übervölkerung gekommen war, die die Mieten in die Höhe getrieben und das Niveau herabgedrückt hatte.
„Sehen Sie, Leute wie wir sind ja nicht gewohnt, uns so zusammenpferchen zu lassen wie die andern. Wir brauchen mehr Raum. Die andern, die Eingewanderten und die allergewöhnlichsten Leute können gut zu fünf oder sechs Familien in diesen Häusern wohnen, und dann können sie natürlich zusammen mehr bezahlen als wir ... und stellen Sie sich vor, daß noch vor wenigen Jahren die ganze Nachbarschaft so nett war, wie man es nur wünschen konnte!"
Ich betrachtete sie. Hier stand ich einer Frau aus der besten englischen Arbeiterklasse gegenüber, einer Frau mit Anzeichen von Verfeinerung, aus der Klasse, die dazu verurteilt war, langsam von dem widerlichen, fauligen Menschenstrom fortgeschwemmt zu werden, den die Oberklassen aus dem inneren London vertreiben. Dort werden Banken, Fabriken, Hotels und Kontorhäuser gebaut, während die Armen obdachlos gemacht und nach Osten gedrängt werden, Woge auf Woge überschwemmt und verunreinigt Stadtteil auf Stadtteil, die bessere Arbeiterklasse wird als Pioniere zur Besetzung der Grenzen vorausgejagt oder vom Strom verschlungen — wenn nicht in der ersten Generation, dann in der zweiten und dritten. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Reihe an Johnny Uprights Straße kommt. Das weiß er auch selber gut.
„In einigen Jahren", sagte er, „ist mein Mietvertrag abgelaufen. Mein Wirt gehört unserer eigenen Klasse an, er hat nie einen einzigen Mieter in seinen Häusern steigern wollen, denn dann hätten wir nicht wohnen bleiben können. Aber er kann ja jeden Tag verkaufen oder sterben; für uns ist das dasselbe — ein Wucherer bekommt das Haus, er richtet eine Werkstatt ein auf dem kleinen Stückchen Garten hinter dem Hause, wo ich meinen Weinstock gepflanzt habe, und dann vermietet er an ebenso viele Familien, wie das Haus Zimmer hat. Dann ist Johnny Upright hier erledigt!" Und in Gedanken sah ich Johnny Upright und seine gute Frau, seine hübschen Töchter und sein schlampiges Dienstmädchen wie so viele andere Schatten durch das Dunkel gen Osten gejagt, das brüllende Großstadtungeheuer auf den Fersen. Johnny Upright-ist nicht der einzige Flüchtling. Ganz an der Grenze der Großstadt wohnen kleine Kaufleute, Geschäftsführer und tüchtige Kontoristen. Sie wohnen in kleinen, villenartigen Häusern mit kleinen Blumengärten, wo sie jedenfalls Platz haben, sich zu regen und zu atmen. Sie brüsten sich vor Stolz, wenn sie an den Abgrund denken, dem sie entgangen sind, und sie danken Gott, weil sie nicht sind wie so viele andere ... Aber seht! auf sie zu kommt Johnny Upright, das Großstadtungeheuer auf den Fersen. Die Mietskasernen schießen wie durch Zauberschlag hoch, die Gärten werden bebaut, die Villen in viele Wohnungen geteilt, und die dunkle Nacht Londons läßt ihren schwarzen Vorhang über die Szene sinken ...


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04 - Ein Mann und der Abgrund
« Antwort #6 am: 05.10.2006 17:32 Uhr »
04 - Ein Mann und der Abgrund

Kann man bei Ihnen mieten?" Ich sagte diese Worte sehr gleichgültig zu einer  dicken  älteren  Frau,  in  deren schmutzigem Kaffeehaus in der Nähe von Limehouse ich saß. „Ja, das kann man!" antwortete sie kurz. Mein Äußeres entsprach vielleicht nicht den Anforderungen, die an ihr Haus gestellt wurden. Ich sprach nichts weiter, sondern genoß schweigend meine Scheibe Schinken und meinen dünnen Tee. Sie bewies mir auch weiter kein Interesse, bis ich bezahlen wollte und ganze zehn Schilling aus der Tasche holte. Da blieb die erwartete Wirkung nicht aus.
„Ja," fuhr sie jetzt fort, „ich habe ein hübsches Heim, und ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Sind Sie gerade von einer Reise zurückgekommen?" „Was nehmen Sie für ein Zimmer?" fragte ich und ignorierte ihre Neugier völlig. Sie sah mich mit sichtbarer Überraschung von oben bis unten an.
„Ich vermiete nie ganze Zimmer, nicht einmal an meine festen Mieter, geschweige denn an vorübergehende."
„Dann muß ich mich wohl nach etwas anderm umsehen", sagte ich sichtlich enttäuscht. Aber der Anblick meiner zehn Schilling hatte seine Wirkung getan, und sie sagte: „Ich kann Ihnen ein gutes Bett geben, und Sie schlafen mit zwei andern Männern, achtbaren und zuverlässigen Menschen, zusammen." „Aber ich will nicht mit andern zusammenschlafen", wandte ich ein.
„Das brauchen Sie auch nicht, es sind drei Betten, und das Zimmer ist nicht klein." „Wieviel?" fragte ich.
„Zwei Schilling sechs die Woche für einen ordentlichen Menschen. Die beiden andern werden Ihnen gut gefallen, das weiß ich. Der eine arbeitet auf einem Lager, er wohnt seit zwei Jahren bei mir, und der andere seit sechs Jahren. Nächsten Sonntag werden es sechs Jahre und zwei Monate. Er ist an einem Theater angestellt," fuhr sie fort, „er ist ein stiller, ruhiger Mann und hat in der ganzen Zeit, die er bei mir wohnt, nie einen sitzen gehabt. Er ist sehr zufrieden mit der Wohnung, er sagt, sie sei die beste, die er finden könnte. Ich beköstige sowohl ihn wie den andern."
„Da kann er wohl noch obendrein Geld zurücklegen", sagte ich naiv.
„Wie können Sie das glauben! Aber sonst würde sein Geld überhaupt nicht reichen." Meine Gedanken wanderten hin zu meinem weiten amerikanischen Westen, unter dessen unendlichem Himmel Tausende von Städten von der Größe Londons Platz hätten. Und hier war ein Mann, ein ehrlicher, zuverlässiger Mann, der sein Zimmer mit zwei andern teilte, zweieinhalb Dollar im Monat dafür bezahlte und die Erfahrung gemacht hatte, daß dies die vorteilhafteste Lebensweise für ihn war. Und hier war ich selbst — kraft der zehn Schilling, die ich in der Tasche hatte —, war ich imstande, mit meinen Lumpen bei ihm einzudringen und mein Bett neben dem seinen aufzuschlagen. Die menschliche Seele ist einsam, und sie muß zuweilen wahrlich noch einsamer werden, wenn drei Betten in einem Zimmer stehen und ein vorübergehender Gast mit zehn Schilling in der Tasche sich in eines davon legen darf! „Wie lange wohnen Sie schon hier?" fragte ich. „Dreizehn Jahre. Und glauben Sie nicht auch, daß Ihnen die Wohnung gefallen wird?" Während sie sprach, hantierte sie in der kleinen Küche herum, wo sie das Essen für ihre Zimmerherren bereitete. Sie war bei meinem Eintritt beschäftigt gewesen und ließ nicht einen Augenblick während der Unterhaltung von ihrer Arbeit. Sie war offenbar eine von den Frauen, die morgens um halb sechs aufstehen und spät abends zur Ruhe gehen, die bis zum Umfallen arbeiten; und der Gewinn dieses dreizehnjährigen Fleißes waren graues Haar, ärmliche Kleider, hängende Schultern, eine schlechte Figur und unaufhörliche Mühe in einem häßlichen, ungesunden Kaffeehaus in einer zehn Fuß breiten Gasse.
„Kommen Sie wieder, um es sich genauer anzusehen?" fragte sie gespannt, als ich ging. Und als ich mich zu ihr umwandte, verstand ich ganz die Wahrheit des alten Wortes: Tugend trägt ihren Lohn in sich.
Ich trat wieder zu ihr und fragte: „Haben Sie je Ferien gehabt?" „Ferien!"
„Ja, einen Ausflug aufs Land, um für ein paar Tage frische Luft zu schöpfen, sich richtig auszuruhen."
„Ach, du lieber Gott!" lachte sie und hielt zum erstenmal in ihrer Arbeit inne. „Ferien? Zum Vergnügen? Wie können Sie das denken! — — Heben
Sie doch die Füße!" Die letzten Worte rief sie mir scharf zu, da ich gerade über die morsche Schwelle stolperte.
In der Nähe des Westindiadocks stieß ich auf einen jungen Burschen, der traurig in das schlammige Wasser starrte. Er hatte eine Heizermütze über die Augen gezogen, und seine ganze Kleidung zeugte davon, daß er zur See gefahren war.
„He, Kamerad!" rief ich, um eine Unterhaltung einzuleiten.
„Kannst du mir sagen, wie ich gehen muß, um nach Wapping zu kommen?"
„Hast du dich auf einem Viehschiff hierher gearbeitet?" fragte er. Er hatte offenbar sofort meine Nationalität entdeckt.
Und dann kam das Gespräch in Gang und wurde in einem W irtshaus bei einigen Gläsern Halb-und-Halb fortgesetzt. Bald waren wir so befreundet, daß er, als ich einen ganzen Schilling ir Kupfermünzen aus der Tasche zog und sechs Pence für Nachtiogis beiseitelegte, liebenswürdig vorschlug, lieber für das ganze Geld Bier zu trinken. „Mein Kamerad hatte gestern Pech," erklärte er, „und die Polente schnappte ihn. Du kannst dich also ruhig auf mich verlassen. Was meinst du dazu?"
Ich sagte ja, und als wir für einen ganzen Schilling Bier in uns hineingegossen und die Nacht in einem elenden Bett in einem jämmerlichen Hause verbracht hatten, kannte ich ihn gut. Meine geringen Erfahrungen zeigten mir, daß er auf seine Weise typisch für eine gewisse breite Schicht Londons, die am schlechtesten gestellte, war. Er war geborener Londoner. Sein Vater war Heizer und Säufer gewesen. Das Heim seiner Kindheit waren die Straßen und die Docks. Er hatte nie lesen gelernt und es auch nie entbehrt — eine überflüssige und unnütze Beschäftigung für einen Mann in seiner Lage.
Er hatte eine Mutter und eine Unzahl schmutziger Brüder, die alle in ein paar Löchern zusammengepfercht gewesen waren, wo sie von schlechterem und weniger Essen lebten, als er im allgemeinen für sich ergattern konnte. In der Regel kam er deshalb nur heim, wenn er Pech gehabt und selbst nichts zu essen hatte. Anfangs hatte er auf den Straßen Lumpen gesammelt und gebettelt. Dann hatte er zwei Fahrten als Kajütsjunge, hierauf einige wenige Reisen als Kohlentrimmer gemacht, und jetzt war er befahrener Heizer — er hatte es so weit gebracht, wie er es in seinem Leben bringen konnte.
Er hatte sich auch auf seiner Laufbahn eine Lebensphilosophie geschaffen, die vielleicht häßlich und abstoßend, aber doch von seinem Standpunkt aus ganz logisch und klug war. Als ich ihn fragte, wofür er eigentlich lebte, antwortete er ohne Zögern: „Um mich zu besaufen."
Eine Seereise — denn ein Mann muß ja leben und dafür sorgen, daß er etwas zu leben hat —, dann Abmusterung und dann ein tüchtiger Rausch. Dann folgt eine Reihe kleinerer Räusche rings in Wirtshäusern, wo man einige Kameraden wie mich mit ein paar Pfennigen in der Tasche trifft. Und wenn nichts mehr zu machen war, dann wieder zur See. So formte sich sein Dasein.
„Aber wie steht es mit Weibern?" fragte ich, als er seine Lobrede auf den Rausch als einziges Endziel des Daseins beendet hatte.
„Mit Weibern!" Er hieb das Glas hart auf den Tisch und sagte eifrig: „Von Weibern lasse ich die Finger, das hat mich das Leben gelehrt. Das lohnt sich nicht, Kamerad. Es taugt nichts. Was sollte ein Mann wie ich mit Weibern? Willst du mir das sagen? Ich denke nur an meine Mutter, das genügt — wie sie die Gören verdrosch und den Alten ärgerte, wenn er ab und zu mal heimkam. Es war ihre Schuld, sie verstand nicht, ihn glücklich zu machen. Dann denke ich noch an so viele andere Weiber. Wie behandeln sie einen armen Heizer, der mit ein paar Groschen heimkommt? Nein, was er in der Tasche hat, ist gerade genug zum Vertrinken, aber Frauenzimmer! Die nehmen ihm das Geld ab, ehe er auch nur ein einziges Glas gekriegt hat. Du kannst mir glauben, ich weiß Bescheid. Ich hab' mir die Finger verbrannt und weiß, was es wert ist. Ich sage dir, wo Frauenzimmer sind, gibt es immer Schererei — Geschrei und Prügelei und Messerstecherei, Polente und Gericht und schließlich einen Monat Zwangsarbeit — ohne Lohn, wenn du los-gelassen wirst."
„Aber Frau und Kinder," fuhr ich fort, „ein eigenes Heim. Denk', du kommst von der Seereise heim, und kleine Kinder krabbeln dir auf die Knie, und deine Frau ist froh und glücklich und gibt dir einen Kuß, während sie den Tisch deckt, und alle Kinder wollen dich küssen, wenn sie ins Bett sollen. Der Teekessel schnurrt, während du erzählen mußt, wo du gewesen bist, und was du gesehen hast. Und sie erzählt von all den Kleinigkeiten, die geschehen sind,
während du fort warst und — —"
„Ja, quatsch' nur weiter!" rief er und ließ seine Faust  schwer  auf  meine Schulter  fallen.  „Was denkst du dir eigentlich? Eine Frau, die küßt, Kinder, die krabbeln, ein Teekessel, der schnurrt! Alles das für vier Pfund zehn Schilling monatlich, wenn du Heuer hast, und für nichts, wenn du keine Arbeit hast? Soll ich dir sagen, was du für vier Pfund zehn kriegst? — ein brummiges Weib, dreckige Gören, keine Kohlen, die den Kessel schnurren lassen. Der Kessel selbst im Leihhaus — das kannst du kriegen. Ich glaube, das genügt, daß du dich schnell auf See zurückwünschst. Eine Frau! Wozu? Um dich unglücklich zu machen? Kinder? Glaub' mir, es ist besser ohne das. Sieh mich an. Ich kann mein Bier trinken, wann ich will, und habe weder Frau noch Kinder, die nach Futter brüllen. Ich bin zufrieden mit meinem Bier und Kameraden wie du und Aussicht auf neue Heuer und neue Fahrt. Laß uns noch ein paar Glas trinken. Halb-und-Halb, das ist alles, woraus ich mir etwas mache."
Ich brauche wohl kaum mehr von der Unterhaltung mit diesem nur zweiundzwanzigjährigen Burschen zu beriditen. Ich glaube, seine Lebensphilosophie und die ökonomischen Ursachen, auf denen sie aufgebaut ist, hinreichend beleuchtet zu haben. Er hatte nie Heimweh gehabt. Das Wort Heim erweckte nur unangenehme Vorstellungen in ihm —die niedrigen Löhne, die sein Vater und andere Männer in entsprechenden Stellungen hatten, waren ihm Grund genug, Frau und Kinder als unangenehme Anhängsel und Ursachen zum Unglück der Männer zu verfluchen. Als unbewußter Hedonist völlig amoralisch und materialistisch, suchte er sich soviel Genuß wie möglich im Leben zu verschaffen und fand ihn im Rausch.
Jung dem Trunke ergeben, früh zum Wrack geworden; körperlich unfähig für die Arbeit eines Heizers. Rinnstein oder Arbeitshaus, und dann fertig. Er sah übrigens diese ganze Laufbahn ebenso klar vor sich wie ich. Aber sie flößte ihm keinen Schrecken ein. Von seinem ersten Atemzug an hatte seine Umgebung an seiner Verhärtung gearbeitet, und er ging seiner elenden unabwendbaren Zukunft mit einer Kaltblütigkeit und Gleichgültigkeit entgegen, aus der ich ihn nicht zu rütteln vermochte. Und doch war er kein schlechter Mensch. Er war weder erblich verderbt, noch brutal. Er war geistig normal  und hatte ungewöhnliche Körperkräfte. Seine Augen waren blau und rund, lange Wimpern besdiatteten sie, und er hielt sie offen. Lachen und ein tiefer Humor lagen in ihnen. Stirn und Gesichtszüge waren im allgemeinen regelmäßig, Mund und Lippen hübsch, wenn auch schon von Bitterkeit geprägt.  Sein  Kinn war  schwach,  aber nicht zu schwach;  ich  habe  manche Männer  in  höheren Stellungen mit einem unbedeutenderen Kinn gesehen. Seine Kopfform war schön. Der Kopf saß so gut auf einem vollendeten Hals, daß ich nicht über seinen Körper erstaunt war, als er sich abends entkleidete. Ich hatte viele Männer sich in Kasernen und Sportsälen  entkleiden  sehen,  Männer  mit gutem Blut und guter Erziehung, aber nie einen, der nackt  vorteilhafter  wirkte als  dieser  zweiund-zwanzigjährige Trunkenbold, dieser junge Gott, der dazu verurteilt war, im Laufe von vier oder fünf Jahren vernichtet zu sein, ohne der Welt Nachkommen zu schenken und ihnen seine Körperkraft zu vererben.
Es schien Entweihung, ein solches Leben zu vergeuden, und doch mußte ich ihm recht geben, daß man sich nicht für vier Pfund zehn Schilling in dieser Stadt London verheiraten konnte, ebenso wie ich einräumen mußte, daß der Theaterarbeiter glücklicher war, wenn seine Einnahmen in einem Loch, das er mit zwei andern Männern teilte, reichten, als wenn er eine elende Familie mit ein paar Untermietern in einem billigen Zimmer zusammengepfercht und nie Geld genug gehabt hätte. Und mit jedem Tag, der ging, wuchs meine Überzeugung, daß es ein Verbrechen ist, wenn Menschen der Tiefe sich verheiraten. Sie sind die Steine, die der große Baumeister weggeworfen hat. Das Gebäude der menschlichen Gesellschaft hat keinen Bedarf für sie. Alle Kräfte der Gesellschaft richten sich gegen sie, bis sie verschwinden. Unten in der Tiefe leben sie, schwach, töricht und unbrauchbar; wenn sie Leben schaffen, ist es so elend, daß es von selbst verschwindet. Die Welt arbeitet über ihnen, und sie können und wollen nicht teil daran haben. Außerdem braucht die Welt sie nicht. Es gibt Unzählige, die weit besser geeignet sind, zuzupacken, die sich oben am Rande festklammern und wie wahnsinnig kämpfen, um nicht hinabzugleiten. Kurz, der Abgrund von London ist ein riesiges Schlachthaus. Jahr um Jahr schickt das Land einen Strom von starken, lebenskräftigen Menschen, aber sie vermehren sich nicht. Mit der dritten Generation sterben sie aus. Auch Autoritäten auf diesem Gebiet behaupten, daß es kaum einen einzigen Londoner Arbeiter gibt, dessen Großeltern in London geboren sind.
A. C. Pigou hat gesagt, daß die betagten Armen und der „Bodensatz", die siebenundeinhalb Prozent von der Bevölkerung Londons ausmachen, das heißt 450 000 dieser Geschöpfe einen kläglichen Tod in der Tiefe von Londons sozialem Abgrund sterben. Und wie sie sterben, davon zeugt unter anderm folgende Notiz in einer Morgenzeitung:

Verwahrlost.
Gestern  hielt Dr. Wynn Westcott in Shoreditdi ein Verhör über den Tod der siebenundsiebzig-jährigen Elizabeth Crews in der Oststraße Nummer 32 in Holborn ab. Alice Mathieson erklärte, die Wirtin der Verstorbenen zu sein und sie zuletzt am Montag gesehen zu haben. Die Verstorbene wohnte ganz  allein.  Francis Birch,  der Armenvorsteher des Stadtteils, in dem die Verstorbene fünfunddreißig Jahre lang gewohnt hatte, erklärte, daß die alte Frau, als er zuletzt hingerufen worden war, in einem furchtbaren Zustand dagelegen hatte, daß Ambulanz und Träger nach ihrer Entfernung hätten desinfizieren müssen. Dr. Chase Fennell erklärte  als  Todesursache  Blutvergiftung  infolge einer Wunde, die die Verstorbene am Körper hatte, und die von Verwahrlosung und unsauberer Umgebung stammte. Das Gericht erkannte auf diese Todesursache.

Das Erschütterndste an diesem Ereignis ist die „hübsche" Art, wie das Gericht die Sache behandelt. Daß eine siebenundsiebzigjährige Frau an Verwahrlosung stirbt — optimistischer kann man es wohl nicht betrachten. Die alte Frau war also wohl selbst schuld an ihrem Tode.
Vom „Bodensatz" hat Pigou gesagt: „Entweder ist es Mangel an Körperstärke, Intelligenz oder Willenskraft oder, weil alles drei fehlt, sind sie schlechte, unwillige Arbeiter und können sich nicht selbst versorgen. Oft sind sie so minderwertig, daß sie nicht rechts und links unterscheiden können und nicht einmal die Nummer des Hauses wissen, in dem sie wohnen. Ihre Körper sind kraftlos, ihre Gefühle verkrüppelt, und sie kennen kaum ein Familienleben."
Vierhundertfünfzigtausend sind viele Menschen. Der junge Heizer war nur einer von ihnen, und er brauchte eine ganze Weile, um das wenige zu erzählen, das er zu erzählen hatte. Ich möchte sie nicht gern alle auf einmal erzählen hören ... Ob Gott sie anhört?


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05 - Am Rande des Abgrunds
« Antwort #7 am: 06.10.2006 15:22 Uhr »
05 - Am Rande des Abgrunds

Ich empfing natürlich zuerst nur einen allgemeinen Eindruck von Ost-London. Später erfaßte ich die Einzelheiten; und hier und da fand ich in diesem Chaos von Elend auch Stellen, wo bis zu einem gewissen Grade das Glück herrschte — ganze Häuserreihen, in denen Handwerkerwohnten, die ein gemütliches Familienleben führten. Abends kann man Männer in den Türen sitzen sehen, die Pfeife im Munde und Kinder auf den Knien, die Frauen schwatzend, und Scherz und Lachen gehen um. Die Zufriedenheit dieser Menschen ist geradezu auffallend; im Vergleich mit dem Elend, das sie umgibt, sind sie ja wohlhabend.
Aber dennoch ist ihr Glück rein tierischer Art, die Zufriedenheit des vollen Magens. Ihre ganze Auffassung vom Leben ist materialistisch. Sie sind schwer, träge und phantasielos. Der Abgrund scheint giftige, betäubende Gase zu entwickeln, die zum Rande aufsteigen und die droben einhüllen und töten. Religion ist ihnen unbekannt; das Unbekannte enthält weder Schrecken noch Freude für sie. Der gefüllte Wanst, die Abendpfeife sowie der übliche „Halb-und-Halb" — das ist alles, was sie vom Dasein verlangen oder träumen. Das wäre jedoch noch nicht das schlimmste, aber die zufriedene Schlaffheit, in die sie verfallen, ist der Zustand, der der völligen Auflösung vorangeht. Sie kennen keinen Fortschritt, der Stillstand ist dasselbe für sie wie der Sturz in den Abgrund.
Vielleicht beginnen sie nur den Fall und überlassen es ihren Kindern und Enkeln, ihn zu vollenden. Die Menschen erreichen immer weit weniger, als sie fordern, und so wenig fordern diese Menschen, daß das wenige, das sie erlangen, nicht genügt, sie oben zu halten.
Im allgemeinen ist das Leben in der Stadt der menschlichen Natur zuwider, das Leben in London aber ist in dem Maße unnatürlich, daß der Durchschnittsarbeiter zugrunde gehen muß. Körper und Geist werden unaufhörlich untergraben. Sowohl körperliche wie moralische Widerstandskraft werden gebrochen, und der gute Arbeiter vom Lande wird schon in der ersten Generation in der Stadt zum schlechten Arbeiter; in der zweiten Generation hat er Unternehmungslust und Draufgängertum verloren und ist tätsächlich außerstande, dieselbe Arbeit auszuführen, die sein Vater leisten konnte — er ist auf dem Wege zum Abgrund. Schwächt nichts anderes ihn, so bricht die Luft, die er einatmet, bald seine Widerstandskraft, so daß er nicht mehr imstande ist, die Konkurrenz mit dem frischen, lebenskräftigen Strom aufzunehmen, der ständig vom Lande nach London hastet, um zu vernichten und vernichtet zu werden. Ohne bei den Krankheitskeimen zu verweilen, mit denen die Luft in East End geschwängert ist, will ich mich hier nur mit dem Rauche beschäftigen. Sir William Thiselton-Dyer, der Direktor des Botanischen Gartens in Kew, hat den Einfluß des Rauches auf die Pflanzen untersucht und nachgewiesen, daß nicht weniger als vierundzwanzig Tonnen festen, aus Ruß und teerhaltiger Kohlenlösung bestehenden Stoffes sich allwöchentlich auf jeder englischen-Quadratmeile in und um London niederschlagen. Kürzlich entfernte man vom Gesims unter der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale ein festes Stück kristallisierten schwefelsauren Kalks, der sich durch die Wirkung der atmosphärischen Schwefelsäure auf den kohlensauren Kalkstein gebildet hatte. Und all diese atmosphärische Schwefelsäure muß der Londoner Arbeiter tagein und tagaus sein ganzes Leben lang einatmen. Es ist unwiderlegbar, daß die Kinder im Heranwachsen zermürbt werden. Ohne Kraft und Ausdauer werden sie zu einem knieweichen, engbrüstigen, schlaffen Geschlecht, das einschrumpft und zugrunde geht in dem rohen Kampf ums Dasein mit den vom Lande herzuströmenden Horden. Eisenbahner, Fuhrleute, Omnibusführer, Getreide-und Holzträger und alle, die auf Körperkraft angewiesen sind, sind stark vom Lande gekommen; in der Polizei der Hauptstadt sind rund 12 000 Männer vom Lande gegen 3000 in London geborene.
Wenn ich die kleinen Seitengassen mit den satten Handwerkern in den Türen durchschritt, taten sie mir fast mehr leid als die vierhundertfünfzig-tausend Verlorenen, die unten im Abgrund sterben. Die sterben doch, während diese hier noch die langsame vorausgehende Qual vor sich haben, die Qual, die vielleicht zwei, drei Generationen dauern kann. Und doch ist das Material gut. Es besitzt alle menschlichen Möglichkeiten. Unter den richtigen Bedingungen könnte es noch Jahrhunderte lang leben und große Männer, Helden und Meister hervorbringen, die die Welt vorwärts führen. Ich sprach mit einer Frau, einer ausgezeichneten Repräsentantin derer, die schon aus den kleinen hübschen Seitengassen verdrängt und auf dem Wege zum Abgrund sind. Ihr Mann arbeitete als Gasmonteur und war Mitglied der Maschinistengewerkschaft; daß als Maschinist nicht viel mit ihm los war, konnte man schon daraus ersehen, daß er keine ordentliche Arbeit erhalten konnte; er besaß weder genügend Energie noch Tüchtigkeit, um sich eine feste Stellung zu schaffen oder zu halten. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, und alle vier Familienmitglieder wohnten in ein paar Löchern, die man nur optimistisch Zimmer nennen kann, und für die sie sieben Schilling die Woche bezahlten. Sie hatten keinen Herd und mußten sich ihr ganzes Essen auf einem kleinen Gaskocher bereiten. Da sie nichts besaßen, genossen sie nicht den üblichen Kredit für ihren Gasverbrauch, sondern mußten einen Automaten haben, der ihnen ein gewisses Quantum lieferte, so oft sie ein Pennystück hineinsteckten. „Für einen Penny Gas ist im Augenblick verbraucht," erklärte sie mir, „manchmal habe ich das Essen noch nicht halb fertig gekocht." Seit vielen Jahren lebten sie an der Grenze der Not. Tag für Tag waren sie halb satt von Tisch aufgestanden. Ist man erst auf dem Wege abwärts, dann zehrt schon chronische Unterernährung an den Kräften und beschleunigt die Katastrophe.
Und dabei rackerte diese Frau sich ab. Von halb fünf morgens bis in die Nacht hinein nähte sie Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants für sieben Schilling das Dutzend. Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants — bedenkt wohl — für sieben Schilling das Dutzend!
Der Mann mußte, um überhaupt Arbeit nehmen zu können, der Gewerkschaft angehören, und die verschlang einen Schilling sechs Pence wöchentlich. Wenn Streik war und er zu den Glücklichen gehörte, die nicht davon berührt wurden, hatte er zeitweise bis zu siebzehn Schilling an die Streikkasse der Gewerkschaft abführen müssen. Die älteste Tochter hatte für einen Schilling sechs Pence die Woche als Lehrmädchen in einer Nähstube gearbeitet. Als die stille Zeit kam, wurde sie entlassen, obwohl ihr Lohn so niedrig angesetzt war, weil sie etwas Ordentliches lernen und hinterher fest angestellt werden sollte. Dann war sie drei Jahre bei einem Fahrradhändler gewesen, der ihr fünf Schilling die Woche gab; sie hatte einen Weg von zwei Meilen bis zu ihrer Arbeitsstelle, und wenn sie zu spät kam, wurde es ihr vom Lohn abgezogen.
Für die Eltern war das Spiel aus, sie hatten den Boden unter den Füßen verloren und rollten dem Abgrund zu. Aber die Töchter? Welche Möglichkeit hatten sie, dem Abgrund zu entgehen, der ihnen seit ihrer Geburt entgegenklaffte — unter solchen Verhältnissen, von Unterernährung geschwächt, ausgesogen, sowohl geistig wie moralisch und körperlich?
Während ich dieses niederschreibe, hallt die Luft bald seit einer halben Stunde wider von einer rücksichtslosen, rohen Schlägerei in einem Hofe, der an den meinen stößt. Als ich es zuerst bemerkte, dachte ich, es wären ein paar Hunde, die sich anbellten und knurrten; es dauerte eine Weile, bis ich mir klar darüber wurde, daß Menschen, und sogar Frauen, dieses unheimliche Geräusch hervorbringen konnten.
Betrunkene Frauen im Kampf! Häßlich zu denken, noch schlimmer anzuhören. Es kann etwa folgendermaßen vor sich gehen:
Zuerst ein unbestimmbares Durcheinander, bei dem man nur unterscheidet, daß eine Menge Frauen gleichzeitig aus voller Kraft ihrer Lungen durcheinander rufen; dann eine Pause, in der ein Kind weint und man ein junges Mädchen hört, das mit tränenerstickter Stimme zu Worte zu kommen sucht. Eine Frauenstimme erhebt sich plötzlich, hart und durchdringend: „Du hast mich geschlagen! Du hast mich geschlagen!" Man hört einen Schlag, der wütende Kampf nimmt seinen Fortgang.
Die Hoffenster der umliegenden Häuser sind von begeisterten Zuschauern besetzt. Das Geräusch von Schlägen, von Flüchen, die einen schaudern machen können, dringt zu mir. Ich bin froh, daß ich die Kämpfenden nicht sehen kann. Wieder eine Pause. „Du läßt das Kind in Ruhe!" Das Kind, das nur ein paar Jahre ist, schreit vor Angst. „Warte nur! Warte nur!" wird ein dutzendmal in schriller Stimme wiederholt. „Ich schmeiß dir diesen Stein an den Kopf!" Und nach dem Schrei zu urteilen, der jetzt ertönt, hat der Stein offenbar den Kopf getroffen.
Für einen Augenblick tritt Ruhe ein; eine der Kämpfenden ist offenbar kampfunfähig gemacht. Wieder kann man das weinende Kind hören, wenn auch sein Schreien vor Angst oder Erschöpfung schwächer geworden ist.
Kurz darauf erheben die Stimmen sich wieder:
„Na -?"
„Na!"
„Na-?"
„Na!"
„Na -?"
„Na!"
Dann scheinen sich beide über die gegenseitige Ansicht klar geworden zu sein, und der Kampf beginnt von neuem. Die eine der Kämpfenden erlangt die Übermacht und verfolgt offenbar ihren Sieg, nach dem Mordgeschrei der andern zu urteilen. Der Schrei ertönt immer schwächer, als würde er von einem würgenden Griff zurückgedrängt. Neue Stimmen; ein neuer Angriff von der Seite; der würgende Griff erschlafft wohl, so daß der Ruf „Mord!" wieder eine Oktave höher erklingt — wahnsinnige allgemeine Verwirrung, alle beteiligen sich am Kampfe.
In der nächsten Pause hört man eine neue Stimme, die eines jungen Mädchen: „Ich will meiner Mutter helfen"; und dann, vier- oder fünfmal hintereinander: „Ich tue, was ich will, verstehst du!" „Das möchte ich sehen!" Wieder rast der Kampf, an dem Mütter und Töchter und alle Umstehenden sich beteiligen. Meine Wirtin ruft ihre jüngste Tochter von der Hintertreppe herein, und ich denke darüber nach, welche Wirkung alles das wohl auf die moralische Auffassung des jungen Mädchens haben kann.


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06 - Ein Blick in die Hölle
« Antwort #8 am: 06.10.2006 15:23 Uhr »
06 - Ein Blick in die Hölle

Wir waren drei, die die Mile-End-Straße hinabschlenderten, und einer von uns war ein Held. Er war ein schlanker neunzehnjähriger Jüngling, so zart und fein, daß es aussah, als könne ein Kind ihn umwerfen. Er war ein junger, flammender Sozialist, im ersten Kreißen der Begeisterung und reif zum Märtyrertum. Als Redner und Leiter hatte er sich an einer Menge gefährlicher Protestversammlungen beteiligt, die zugunsten der Buren abgehalten waren und das heitere England erschütterten. Unterwegs hatte er mir erzählt, wie er verschiedentlich von dem drohenden Pöbel in Parks und Straßenbahnen belagert worden — wie er auf die Rednertribüne gestiegen war, wenn seine Parteigenossen einer nach dem andern von der Menge heruntergerissen und mißhandelt worden waren, und wie man die Kirche, in der er und drei andere Zuflucht gesucht, gestürmt hatte; inmitten eines Regens von Wurfwaffen und Scherben zerbrochener Scheiben hatten sie der Menge standhalten müssen, bis eine Abteilung Schutzleute ihnen zu Hilfe kam; er hatte von plötzlichen Kämpfen in der Dunkelheit auf Treppen, Galerien und Balkons erzählt, von zerbrochenen Fenstern, eingestürzten Treppen, heruntergerissenen Leitern und zerbrochenen Köpfen und Gliedern, und zuletzt hatte er mich angesehen und mit einem schmerzlichen Seufzer gesagt: „Wie ich euch starke Männer beneide! Ich bin so ein Knirps und tauge zu nichts, wenn es zum Kampf kommt."
Und ich, der ich mit Kopf und Schultern meine beiden Begleiter überragte, mußte an meinen eigenen üppigen Westen und die kerngesunden Männer denken, die ich selber dort beneidet hatte. Aber dennoch: wenn ich den Knirps mit dem Mut eines Löwen betrachtete, fühlte ich, daß es solche Männer waren, die, wenn die Gelegenheit kam, Barrikaden bauten und der Welt zeigten, daß Männer noch zu sterben verstanden. Da sagte mein anderer Begleiter, ein achtundzwanzigjähriger Mann, der eine unsichere Existenz in einer finsteren Werkstatt fristete: „Ich bin doch ein Kerl. Nicht so einer wie die andern in der Werkstatt; die haben auch Respekt vor mir. Ich wiege hundertfünfundzwanzig Pfund." Ich schämte mich direkt, ihnen zu erzählen, daß ich hundertfünfzig Pfund wog, und begnügte mich damit, ihn im stillen zu betrachten. Armseliger, verkrüppelter kleiner Mensch! Er hatte eine ungesunde Hautfarbe, sein Körper war gebückt und verzerrt, die Brust eingefallen, die Schultern von der langen Arbeitszeit unwiderruflich gebeugt, der Kopf saß nicht, wo er sitzen sollte, sondern hing vornüber. Ein Kerl — er? „Wie groß bist du?" fragte ich.
„Fünf Fuß zwei", antwortete er stolz. „Und die andern in der Werkstatt..." „Zeig' mir die Werkstatt", sagte ich. Es sollte zu dieser Zeit niemand in der Werkstatt sein, aber ich wollte sie doch gern sehen. Wir ließen die Leman-Straße liegen, bogen links in die Spitalfield-Straße ein und kamen hierauf in die Fryingpan-Gasse. Ein Haufen Kinder kroch auf dem schlüpfrigen Bürgersteig herum, wie Frösche auf dem Grunde eines ausgetrockneten Teiches. In einer schmalen Haustür saß eine Frau mit einem Säugling an der Brust, die so entblößt war, daß es der Mutterwürde alle Heiligkeit raubte. Wir mußten über sie hinwegschreiten, um hineinzugelangen, und in dem finsteren engen Gang hinter ihr mußten wir gleichsam durch ein Gewimmel kleiner Kinder waten, bis wir eine noch engere und finstere Treppe erreichten. Die Treppe hatte drei Absätze, jeder drei Fuß groß und mit allerlei Abfall überhäuft.
Sieben Räume hatte dieses sogenannte Haus. In sechs von ihnen kochten und brieten, aßen, schliefen und arbeiteten über zwanzig Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Durchschnittlich maßen die Zimmer acht Fuß nach jeder Seite, vielleicht neun nach der einen. Wir betraten den siebenten Raum, in dem fünf Mann arbeiteten. Er war sieben Fuß breit und acht lang, der Arbeitstisch nahm den größten Teil des Raumes ein. Auf diesem Tisch standen fünf Leisten, und fünfzehn Mann hatten kaum Platz genug, um zusammen zu arbeiten, denn der übrige Raum war von Pappe, Leder, Bündeln von Kappen und einer reichhaltigen Auswahl an Material zur Zusammensetzung von Oberleder und Sohlen besetzt.
Im anstoßenden Zimmer wohnte eine Frau mit sechs Kindern. In einem andern Loch wohnte eine Witwe mit ihrem sechzehnjährigen Sohn, der an Tuberkulose dahinsiechte. Die Frau  verkaufte Brustbonbons auf der Straße, wie man mir erzählte, und konnte meistens nicht so viel verdienen, daß sie  dreiviertel  Liter  Milch  kaufen  konnte,  die der Sohn täglich haben sollte.  Dieser schwache, sterbende  Sohn  bekam  nur einmal  wöchentlich Fleisch zu schmecken, und die Beschaffenheit dieses Fleisches kann man sich nicht vorstellen, wenn man nie Schweinefutter gesehen hat. „Es ist schrecklich, wie er hustet", meinte mein Freund. „Wir hören ihn den ganzen Tag hier, wenn wir arbeiten. Es ist ganz entsetzlich." In bezug auf diesen Husten und diese Brustbonbons offenbarte sich mir eine neue Gefahr, die auf die Kinder des Armenviertels lauerte. Wenn mein Freund Arbeit hatte, schaffte er also in diesem sieben zu acht Fuß großen Zimmer. Im Winter mußte er fast den ganzen Tag Licht brennen,  und  die  Lampe  verschlechterte  noch  die dunstige Luft, die nie erneuert, sondern immer wieder eingeatmet wurde.
In besonders guten Zeiten konnte dieser Mann etwa dreißig Schilling die Woche verdienen. „Aber das können auch nur die Tüchtigsten von uns", erklärte er mir, und dann müssen wir auch dreizehn bis vierzehn Stunden täglich schuften. Du solltest nur sehen, wie wir uns abrackern. Wir triefen von Schweiß. Dir würden die Augen schmerzen, wenn du sähest, wie uns die Stifte aus dem Munde fliegen — wie aus einer Maschine. Sieh nur meinen Mund!"
Ich sah ihn an. Seine Zähne waren von dem beständigen Reiben der Metallstifte ganz abgestumpft, dazu schwarz und faulig.
„Ich putze sie," sagte er, „sonst wären sie noch viel schwärzer."
Er erzählte mir, daß die Arbeiter sich selbst Oberzeug, Stifte und kleinere Zutaten halten und Miete und Licht und Gott weiß was bezahlen mußten. „Aber wie lange dauert diese Hochsaison, in der ihr ganze dreißig Schilling die Woche verdienen könnt?"
„Vier Monate", antwortete er und erklärte mir weiter, daß sie durchschnittlich nur ein halbes bis ein Pfund wöchentlich verdienen. In dieser Woche hatte er bisher vier Schilling verdient. Und trotz allem hatte ich den Eindruck, daß er gute Arbeit leistete.
Ich sah zum Fenster hinaus, das nach dem hinteren Hof des Nachbarhauses gehen sollte. Aber es gab keinen Hof, das heißt, er war mit einstöckigen Schuppen bebaut, Viehställen, in denen Menschen wohnten. Die Dächer der Schuppen waren die reinen Misthaufen. An einigen Stellen lag der Schmutz, der aus dem zweiten und dritten Stock heruntergeworfen war, mehrere Fuß hoch. Ich konnte Fisch und Knochen, Gemüse und Lumpen, alte Stiefel, Scherben und den sonstigen üblichen Abfall der menschlichen Schweinekoben unterscheiden.
„Es ist das letzte Jahr, daß wir diese Arbeit haben; jetzt schaffen sie sich Maschinen an, die uns überflüssig machen", sagte der Arbeiter traurig, als wir wieder über die Frau mit den schamlos entblößten Brüsten hinwegschritten und uns den Weg durch das Gewimmel wertlosen jungen Lebens bahnten.
Hierauf besuchten wir die kommunalen Gebäude, die auf der Seite des Armenviertels errichtet waren, wo Arthur Morrisons „Kinder Jagos" gelebt hatten. Obwohl die Häuser jetzt mehr Bewohner als früher beherbergten, waren sie doch weit gesünder. Jetzt wohnten hier nur bessergestellte Arbeiter und Handwerker. Die früheren Bewohner waren nach andern Vierteln ausgewandert. „Aber jetzt pass' auf," sagte mein Freund, der so schnell arbeitete, daß es einem vor den Augen flimmern konnte, „jetzt werde ich dir die Lungen Londons zeigen. Hier ist der Spitalfield-Park." Er sagte das Wort „Park" mit ironischer Betonung. Der Schatten der Christuskirche fiel quer über den Spitalfield-Park, und im Schatten der Christuskirche sah ich um drei Uhr nachmittags etwas, das ich nie wieder sehen möchte. Blumen gibt es nicht in diesem Garten, der kleiner ist als mein Rosenbeet daheim. Hier wächst nur Gras. Aber rings um den Park steht ein Gitter mit eisernen Stacheln, wie man es um alle Londoner Parks findet, damit keine obdachlosen Männer und Frauen nachts im Grase schlafen können.
Als wir hineinkamen, stießen wir auf eine Frau von etwa fünfzig Jahren, die mit schleppenden Schritten dahinstolperte, während zwei sackleinene Bündel, eines vorn und eines hinten, über ihre Schulter hingen. Es war eine Vagabundin, eine heimatlose Seele, zu sehr an die Freiheit gewöhnt, als daß sie ihren wankenden Körper über die Schwelle des Armenhauses hätte schleppen wollen. Wie die Schnecke trug sie ihr Heim auf dem Rücken. In den beiden Bündeln hatte sie all ihr Eigentum, ihre Kleider und was sie sonst als Weib wertschätzte.
Wir gingen den schmalen, kiesbestreuten Weg hinab. Die Bänke zu beiden Seiten zeigten einen Haufen elender, verzerrter Menschlichkeit, der sicher einen Dore zu einem teuflischeren Fluge inspiriert haben würde, als seine Phantasie je auf der Leinwand gebar — ein Chaos von Lumpen und Schmutz, alle Arten ekelhafter Hautkrankheiten, offene Wunden, Beulen, Unanständigkeiten und lauernde Mißgestalten sowie tierische Züge. Ein rauher Wind blies, und diese Geschöpfe schlotterten in ihren Lumpen, wie sie dalagen und schliefen oder zu schlafen versuchten. Hier sah man ein Dutzend Weiber verschiedenen Alters von zwanzig bis siebzig. Da lag ein neun Monate altes Kind und schlief auf der harten Bank, ohne Kopfkissen und ohne Decke, und keiner achtete darauf. Dort saß ein halbes Dutzend Männer, schlief aufrecht oder aneinandergelehnt; an einer anderen Stelle sah man eine Familiengruppe, ein schlafendes Kind in den Armen seiner schlafenden Mutter, während der Mann, so gut er konnte, einen ausgetretenen Schuh ausbesserte. Auf einer Bank schnitt eine Frau mit einem Messer die Fransen von ihren Lumpen, während eine andere mit Nadel und Faden einige Risse an den ihren nähte Dicht dabei hielt ein schlafender Mann eine schlafende Frau in den Armen, etwas weiterhin lag ein Mann mit dickem Rinnsteinschmutz auf den Kleidern und schlief, den Kopf im Schöße einer Frau, die etwa vierundzwanzig Jahre alt zu sein schien und wie er schlief.
Das allgemeine Schlafen interessierte mich. Warum schliefen neun Zehntel von ihnen? Das ging mir erst später auf. Das von den Machthabern geschriebene Gesetz besagt, daß die Obdachlosen nachts nicht schlafen dürfen. Auf dem Bürgersteig am Eingang der Christuskirche, deren steinerne Säulen sich in stattlichen Reihen vom Himmel abheben, lagen die Männer reihenweise und schliefen oder träumten. Sie waren alle zu schlaff, um aufzuwachen oder neugierig zu werden, als wir kamen. „Eine von den Lungen Londons," sagte ich, „nein, eine faule, eine furchtbar stinkende Wunde." „Ach, warum hast du mich hierhergeschleppt?" fragte der warmherzige junge Sozialist voller Seelenqual und Ekel.
„Die Frau dort", sagte unser Führer, „würde sich für drei Pence oder für zwei oder für eine Scheibe alten Brotes verkaufen."
Er warf das leicht hin. Was er mehr sagen wollte, weiß ich nicht, denn unser kranker Freund rief: „Um Himmels willen, laßt uns von  hier  fortkommen!"


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07 - Der Held mit dem Viktoria-Kreuz
« Antwort #9 am: 06.10.2006 16:55 Uhr »
07 - Der Held mit dem Viktoria-Kreuz

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es gar nicht leicht ist, Zutritt zu einem Asyl für Obdachlose zu erlangen. Ich habe es jetzt zweimal versucht, und in kurzem werde ich einen dritten Versuch machen. Das erstemal versuchte ich es um sieben Uhr, mit vier Schilling in der Tasche. Damit beging ich zwei Fehler. Erstens muß man, wenn man hinein will, von Subsistenzmitteln entblößt sein, und da man genau visitiert wird, muß man dafür sorgen, daß man wirklich kein Geld hat; vier Pence, geschweige denn vier Schilling, genügen, um disqualifiziert zu werden. Zweitens kam ich zu einer falschen Zeit. Sieben Uhr abends ist zu spät, um sich noch ein Armenhausbett zu verschaffen.
Ich muß zunächst Leuten in besseren Verhältnissen erklären, was ein Asyl für Obdachlose ist. Es ist ein Gebäude, in dem Obdachlose, bettlose, geldlose Menschen, wenn sie Glück haben, ihre müden Glieder ausruhen und am nächsten Tag die Unterkunft abarbeiten können.
Mein zweiter Versuch, in eine solche Herberge einzudringen, schien besser glücken zu wollen. Ich brach schon am Nachmittag mit dem begeisterten jungen Sozialisten und noch einem Freunde auf und hatte nur drei Pence in der Tasche. Sie begleiteten mich nach dem Asyl von Whitechapel, auf das ich von Anfang an meine Blicke gerichtet hatte. Obwohl es erst kurz nach fünf war, stand schon eine lange traurige Reihe bis um die Ecke des Gebäudes, soweit man sehen konnte.
Sie boten einen traurigen Anblick, all diese Männer und Frauen, die in der kalten, grauen Dämmerung darauf warteten, daß das Armenhaus sie für die Nacht aufnehmen sollte, und ich gestehe, daß mir der Mut zu sinken begann. Mir fielen plötzlich eine Menge Gründe ein, daß ich eigentlich ganz anderswo hätte sein sollen. Mir ging es wie dem Knaben vor der Tür des Zahnarztes. Etwas von meinem innern Kampf muß sich wohl auf meinem Gesicht widergespiegelt haben, denn plötzlich sagte ein Leidensgefährte: „Keine Angst, es wird schon gehen."
Ich wurde sogleich belehrt, daß sogar drei Pence ein zu großes Vermögen waren, und um jedes Hindernis zu entfernen, trennte ich mich von meinen drei Kupfermünzen. Dann verabschiedete ich mich von meinen Freunden, schlich mich klopfenden Herzens die Straße hinab und stellte mich am Ende der Reihe auf.
Einen traurigen Anblick bot dieses lange Queue armer Menschen, die schon auf der Schwelle des Todes wankten, wie traurig, kann man sich gar nicht vorstellen.
Vor mir stand ein kleiner Mann von schwerem Körperbau: gesund und frisch trotz seinem Alter, mit festen Zügen und einer Haut, die Sonne und Wind wie Leder gegerbt hatten; es stand auf seinen Zügen geschrieben und leuchtete aus seinen Augen, daß er Seemann war. Wie gut ich geraten hatte, 6ollte ich bald erfahren.
„Ich kann es nicht mehr aushalten", klagte er seinem Nebenmann. „Es endet noch damit, daß ich ein Fenster zerschlage, eine von den großen Spiegelglasscheiben, dann kriege ich doch wenigstens vierzehn Tage; und dann habe ich doch ein ordentliches Bett und besseres Essen, als man hier kriegt." Nachdenklich, traurig und resigniert, fügte er hinzu: „Dann nehmen sie mir allerdings den Tabak weg."
„Jetzt laufe ich seit zwei Nächten auf der Straße herum," fuhr er fort. „Letzte Nacht wurde ich bis auf die Haut durchnäßt, und man ist ja nicht mehr jung; eines Morgens werden sie wohl meinen Kadaver wegfegen können."
Plötzlich wandte er sich zu mir um und sagte heftig: „Sorg' dafür, daß du nicht alt wirst, mein Junge. Stirb jung, sonst geht es dir, wie es mir ergangen ist. Jetzt bin ich siebenundachtzig, und ich habe meinem Lande als ein Mann gedient. Ich erhielt drei Schnüre als Dienstauszeichnung und das Viktoria-Kreuz — und dies Leben ist nun der Lohn für alles. Wenn ich nur tot wäre! Ich wünschte, ich krepierte, das könnte keinen Tag zu früh kommen." Die Tränen begannen ihm in den Augen zu schimmern, aber ehe der andere ihm noch ein paar Trostworte gesagt hatte, begann er schon ein heiteres Seemannslied zu trällern, als ob es keine gebrochenen Herzen in dieser Welt gäbe. Jetzt war er in Gang gekommen, und da, während wir vor der Tür der Herberge warteten, erzählte dieser Mann, der jetzt zwei Nächte auf der Straße zugebracht hatte, was ich hier berichten werde. Er war als Knabe in die englische Marine eingetreten und hatte seinem Lande vierzig Jahre lang treu und redlich gedient. Namen, Daten, Chefs, Häfen, Schiffe, Feldzüge und Kämpfe rollten von seinen Lippen, aber ich entsinne mich ihrer nicht, denn es ist schwer, sich vor der Tür des Armenhauses Notizen zu machen. Er hatte den ersten chinesischen Krieg, wie er es nannte, mitgemacht, hatte zehn Jahre lang der ostindischen Kompagnie gedient und war wieder während des großen Aufruhrs als Marinesoldat in Indien gewesen, hatte am Kriege in Birma und am Krimkriege teilgenommen und im übrigen unter der englischen Flagge auf dem ganzen Erdball gekämpft. Dann geschah es. Anfangs nur eine Bagatelle: Vielleicht hatte dem Leutnant das Frühstück nicht geschmeckt, oder er war am Abend spät zu Bett gekommen, oder seine Kreditoren waren zudringlich geworden, oder er hatte einen Rüffel von seinem Vorgesetzten erhalten. Genug, er war an diesem Tage schlechter Laune.  Der Seemann  hatte  mit einigen Kameraden in der Vortakelung zu tun. Nun muß man immer daran denken, daß der Seemann vierzig Jahre lang in der Flotte gedient, drei Schnüre für gute Führung erhalten hatte und für Auszeichnung im Kampf mit dem Viktoria-Kreuz geehrt worden war, so daß er wohl kein schlechter Seemann gewesen sein kann. Der Leutnant war gereizt und benutzte Schimpfwörter, die sich auf die Mutter des Seemanns bezogen. In meiner Knabenzeit pflegten wir uns wie kleine Teufel zu schlagen, wenn jemand in dieser Weise unsere Mutter beleidigte; und in dem Lande, aus dem ich stamme, haben viele Männer ihr Leben lassen müssen, weil sie andere derart beleidigten.
Der Leutnant gebrauchte also ein häßliches Wort gegen den Seemann, und zufällig hielt dieser gerade eine eiserne Stange in der Hand. Augenblicklich versetzte er dem Leutnant einen Schlag an den Kopf, daß er über Bord stürzte. Und nun die eigenen Worte des Seemanns: „Mir war plötzlich klar, was ich getan hatte. Ich kannte das Reglement und sagte mir: Jetzt ist es aus mit dir, Jack, fertig, mein Junge! Und dann sprang ich kopfüber hinterher, um zu versuchen, uns beide zu ertränken. Und das wäre mir auch geglückt, wenn nicht gerade die Offiziersjolle vom Flaggschiff vorbeigekommen wäre. Wir waren beide aufgetaucht, und ich hielt ihn fest und schlug auf ihn los. Und das eben wurde mein Verhängnis. Würde ich ihn nicht geschlagen haben, so hätte ich sagen können, daß ich ihm nachgesprungen war, um ihn zu retten, als ich gesehen, was ich angerichtet hatte." Ein Schiedsgericht oder wie es bei der Marine heißt trat zusammen. Des Urteils erinnerte er sich Wort für Wort, wie er es sich immer wieder in bitteren Stunden wiederholt hatte. Und die Strafe, zu der man, um Disziplin und Respekt vor Offizieren, die nicht immer Gentlemen waren, aufrechtzuerhalten, den verurteilte, den die menschliche Natur zum Verbrecher gemacht hatte, bestand in folgendem: zum gemeinen Matrosen degradiert zu werden, alles Prisengeld, das er zugute hatte, zu verlieren, das Anrecht auf Pension einzubüßen, das Viktoria-Kreuz zurückzugeben, Soldat zweiter Klasse zu werden nebst fünfzig Schlägen sowie zwei Jahren Gefängnis.
„Ich wünschte, ich hätte mich damals ertränkt, weiß Gott!" schloß er, als die Reihe vorrückte und wir um die Ecke kamen.
Endlich konnten wir die Tür sehen, wo die Obdachlosen in kleinen Abteilungen eingelassen wurden, und dann sollte ich eine neue, überraschende Erfahrung machen: Da Mittwoch war, sollte keiner von uns vor Freitag morgen losgelassen werden, und — ich weiß nicht, was ihr fühlt, ihr Tabaksfreunde der ganzen Welt — in der ganzen Zeit sollten wir Tabak entbehren. Was wir bei uns hatten, sollten wir vor dem Eintritt abgeben. Es hieß, daß man es zuweilen wieder erhielt, wenn man das Haus verließ.
Der alte Seemann lehrte mich einen Trick. Er öffnete seinen Tabaksbeutel und entleerte das bißchen Inhalt in ein Stück Papier, das er dann zusammenfaltete und in einer Socke ganz unten im Schuh verschwinden ließ. Mein Tabak ging sofort denselben Weg, denn vierzig Stunden ohne Tabak ist schlimm; darin muß mir jeder Raucher recht geben. Wir rückten immer weiter vor und näherten uns langsam, aber sicher dem Eingang. Als wir ein eisernes Gitter passierten, rief der alte Seemann einem Mann auf der anderen Seite zu: „Wieviel werden noch aufgenommen?" „Vierundzwanzig", lautete die Antwort. Wir begannen eifrig zu zählen; vor uns standen vierunddreißig. Enttäuschung und Verzweiflung malten sich auf allen Gesichtern rings um uns. Es sind schlechte Aussichten, ohne einen Penny in der Tasche einer schlaflosen Nacht auf den Straßen Londons entgegenzugehen. Aber wir hofften immer noch, bis der Torwächter uns verjagte, gerade als wir alle zehn den Eingang erreicht hatten. „Schluß!" Das war alles, was er sagte, als er die Tür zuschlug.
Wie ein Blitz schoß der alte Seemann trotz seinen siebenundachtzig Jahren fort, um zu sehen, ob es anderswo eine Chance gäbe. Ich blieb stehen und beriet mich mit einigen Männern, die sich auf derartige Herbergen verstanden. Sie meinten, es sei am besten, nach dem Arbeitshaus in Poplar, eine Stunde von hier, zu gehen, und das taten wir denn. Als wir um die Ecke bogen, sagte der eine von ihnen: „Ich hätte heute gut hineinkommen können. Um ein Uhr kam ich hier vorbei; da fingen sie gerade an, sich aufzustellen. Sie sind alle beim Aufseher gut angeschrieben, und es sind immer dieselben, die jede Nacht aufgenommen werden."


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08 - Der Kutscher und der Zimmermann
« Antwort #10 am: 06.10.2006 17:07 Uhr »
08 - Der Kutscher und der Zimmermann

Den Kutscher mit dem regelmäßigen Gesicht, dem Backenbart und der glattrasierten Oberlippe hätte ich in Amerika für alles mögliche halten können, vom Arbeiter bis zum gutsituierten Landmann. Der Zimmermann — ja, in ihm würde ich gleich den Zimmermann erkannt haben. Das konnte man an seiner mageren, muskulösen Gestalt, seinem scharfen, schnellen Blick und seinen Händen sehen, die das Werkzeug in siebenundvierzigjähriger Mühsal und Plackerei gekrümmt hatte. Das Unglück dieser beiden Männer war, daß sie alt geworden und daß ihre Kinder, die ihnen hätten helfen können, gestorben waren. Die Jahre hatten sie gezeichnet, und jüngere und stärkere Menschen hatten sie vom Arbeitsmarkt verdrängt. Diese beiden, die sich unter denen befanden, die vom Asyl in Whitechapel abgewiesen waren, gingen jetzt mit mir zusammen auf dem Wege nach Poplar. Sie rechneten kaum noch auf diese Chance, aber es war die einzige; entweder Poplar oder noch eine Nacht auf der Straße. Die Frage, ob sie ein Bett erhalten würden, beschäftigte die beiden sehr, denn sie waren „bald fertig", wie sie sagten. Der Kutscher, der achtundfünfzig Jahre alt war, hatte seit drei Nächten weder Obdach noch Schlaf gehabt, während der fünfundsechzigjährige Zimmermann fünf Nächte hindurch auf der Straße zugebracht hatte.
Oh — ihr lieben, guten Menschen mit reichlichem Fleisch und Blut, mit weichen Betten, die allabendlich in luftigen Zimmern auf euch warten—wie soll ich euch begreiflich machen, was ihr leiden würdet, solltet ihr auch nur eine einzige lange Nacht auf den Straßen Londons zubringen? Ihr würdet meinen, daß Tausende von Jahrhunderten vergingen, ehe der Morgen im Osten zu dämmern begänne; ihr würdet vor Schmerz in jeder Muskel laut weinen, ihr würdet erstaunt sein, daß ein Mensch so leiden und doch leben kann. Und wenn ihr euch auf eine Bank setztet und eure Augen vor Müdigkeit zufielen, verlaßt euch darauf, daß augenblicklich ein Schutzmann käme und euch wach rüttelte und brutal aufforderte, weiterzugehen. Man darf sich auf Bänken ausruhen, aber wenn Ruhe dasselbe wie Schlaf ist, muß man weitergehen, seinen müden Leib durch die endlosen Straßen schleppen. Wollte man in seiner Verzweiflung einsame Gassen oder dunkle Passagen suchen und sich niederwerfen, so würde sich der allgegenwärtige Schutzmann wieder zeigen. Es ist seine Arbeit, Obdachlose aufzustöbern. Wenn aber der Tag graute, und der böse Traum zu Ende wäre, so würdet ihr euch heimschleppen, um wieder zu Kräften zu kommen, und bis zu eurem Todestage würdet ihr Scharen bewundernder Freunde von diesem Erlebnis erzählen. Es würde zu einem Ereignis werden. Eure kleine achtstündige Nacht könnte zu einer Odyssee werden, und ihr selbst zu einem reinen Homer. Wie anders erging es den Obdachlosen, die ich nach dem Asyl in Poplar begleitete. Und in dieser Nacht erging es fünfunddreißigtausend Frauen und Männern in London wie diesen. Denkt nicht daran, wenn ihr gerade zu Bett gehen wollt; seid ihr so weichherzig, wie ihr sein solltet, ihr würdet vielleicht nicht gut schlafen. Alte Männer von sechzig, siebzig, achtzig Jahren, schlecht ernährt, ohne Saft und Kraft, gehen dem Tag entgegen, ohne Ruhe gehabt zu haben, wanken den Tag hindurch herum, um ein paar Brocken zu finden, bis die kalte Nacht sie wieder umfängt — und das fünf Tage und Nächte nacheinander. Oh — ihr lieben, guten Menschen mit eurem reichlichen Fleisch und Blut, wie solltet ihr es verstehen können? Zwischen dem Kutscher und dem Zimmermann ging ich die Mile-End-Straße hinab. Die Mile-End-Straße ist ein breiter Damm, der das Herz Londons mitten durchschneidet, und hier gingen außer uns mindestens zehntausend Menschen. Ich erwähne das zum Verständnis des Folgenden. Während wir dahinwanderten, wurden meine Kameraden bitter und verfluchten das Land. Ich fluchte mit ihnen, wie ein amerikanischer Landstreicher es getan hätte, wenn er in ein fremdes und schreckliches Land geraten wäre. Es war mir geglückt, sie glauben zu machen, daß ich Seemann war, und sie dachten, ich hätte mein Geld durchgebracht und meine Kleider verloren, wie es einem Seemann auf dem Lande so oft begegnet, und wartete jetzt auf Heuer. Das erklärte auch meine Unkenntnis von englischen Verhältnissen im allgemeinen und von Asylen im besonderen. Der Kutscher konnte kaum mit uns Schritt halten. Er sagte, es käme daher, daß er den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen hätte. Aber der Zimmermann — mager und hungrig, in einem grauen, zerlumpten Überzieher, der traurig im Winde flatterte — ging mit weiten, rastlosen Schritten, ein Gang, der mich an Wölfe oder Coyoten gemahnte.
Sie hielten beide den Blick auf das Pflaster geheftet, hin und wieder bückte sich einer von ihnen und hob etwas auf. Ich glaubte, es wären Zigarren oder Zigarettenstummel, die sie auflasen, und dachte zuerst nicht weiter darüber nach. Dann aber merkte ich was sie vorhatten. Sie lasen von den schleimigen, bespienen Bürgersteigen kleine Stücke Apfelsinenschalen, Äpfelschalen und Weintraubenschlauben auf, die sie verzehrten. Die Kerne zerbissen sie, um den Inhalt herauszubekommen. Sie fanden Brotkrumen, nicht größer als Erbsen, Apfelkerne, so schmutzig, daß man nicht mehr erkennen konnte, was es war, und alles steckten sie in den Mund, kauten und verschluckten es. Das geschah zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags am 20. August im Jahre des Herrn 1902 im Herzen des größten und mächtigsten Reiches, das je in der Welt existiert hat. Die beiden Männer sprachen miteinander. Sie waren nicht dumm, nur alt. Aber die Därme voller Rinnsteinschmutz, sprachen sie über die rote Revolution. Sie sprachen, wie Anarchisten, Fanatiker und Landstreicher sprechen würden. Und wer kann sie deshalb tadeln? Ich gestehe, daß ich trotz meinen drei guten Mahlzeiten täglich, meinem warmen Bett, zu dem ich heimgehen konnte, wenn ich wollte, meinen sozialen Anschauungen, meinem festen Glauben an Entwicklung und Veränderlichkeit aller Dinge — daß ich trotz alledem die Lust verspürte, rot wie sie zu reden. Die Toren! Es sind gar nicht Leute ihres Schlages, die Revolution machen. Und wenn sie gestorben und zu Staub verwandelt sind, was nicht sehr lange dauert, werden andere Toren von blutiger Revolution reden, während sie Abfall von dem bespienen Bürgersteig auf dem Wege von Mile End nach dem Arbeitshaus auflesen.
Da ich Ausländer und jung war, erteilten Kutscher und Zimmermann mir gute Ratschläge, ihre Worte waren klar und deutlich: ich sollte sehen, so schnell wie möglich aus dem Lande zu kommen. „Ja, so schnell, wie Gott mir helfen wird." „Der Zufall kann einen Mann zum Verbrecher machen", sagte der Zimmermann. „Sieh mich an, ich bin alt, jüngere stehlen mir die Arbeit, meine Kleider werden immer schlechter, und das macht, daß ich schwer etwas zu tun kriege. Ich gehe ins Asyl, um ein Bett zu bekommen. Wenn ich nicht um zwei, drei Uhr nachmittags da bin, werde ich nicht hineingelassen. Du hast selbst gesehen, wie es geht. Aber wie soll ich mir Arbeit suchen? Wenn ich wirklich ins Asyl hineingelange, so behalten sie mich morgen den ganzen Tag. Ich komme erst übermorgen heraus. Was dann? Dann sagt das Reglement, daß ich in keinem Asyl im Umkreis von zehn Meilen aufgenommen werde, und ich muß mich beeilen, um rechtzeitig anderswohin zu kommen. Wann soll ich da auf die Arbeitssuche gehen? Und wenn ich jetzt nicht ins Asyl gehe, sondern versuche, etwas zu tun zu kriegen, so wird es Abend, ehe ich es weiß, und dann stehe ich da — ohne zu wissen, wo ich schlafen soll. Kein Schlaf und nichts zu essen, da soll es dann am nächsten Morgen  gut  gehen.  Ich  kann  in  einem  Park schlafen.  Gewiß.  (Ich  mußte an  die  Christuskirche beim Spitalfield-Park denken, als er das sagte.) So steht es. Ich bin alt und habe keine Aussicht, je wieder in die Höhe zu kommen." „Hier ist früher ein Schlagbaum gewesen", sagte der Kutscher. „In alten Zeiten, als ich noch fuhr, habe ich hier oft Chausseegeld zahlen müssen."
Nach einer längeren Pause sagte der Zimmermann: „Ich habe seit zwei Tagen nichts zu essen gehabt als drei Brötchen. Zwei davon aß ich gestern, das dritte heute."
„Ich habe heute gar nichts gekriegt", sagte der Kutscher. „Ich bin ganz elend. Meine Beine tun so weh."
„Das Brot, das man im Penne kriegt, ist so hart, daß man es nicht herunterkriegt, wenn man nicht einen halben Liter Wasser dazu trinkt", sagte der Zimmermann, um mich zu warnen. Und als ich ihn fragte, was „Penne" sei, antwortete er: „Die Penne, das ist so ein Wort, das der Pöbel gebraucht."
Was mich am meisten erstaunte, war, daß es ein Wort wie Pöbel in seinem Wortschatz gab. Ehe wir uns trennten, hatte ich erkannt, daß seine Sprache durchaus nicht gewöhnlich war. Ich fragte sie nach der Behandlung, die meiner wartete, wenn es mir glückte, ins Asyl in Poplar eingelassen zu werden, und ich erhielt viele interessante Auskünfte. Zuerst würde ich ein kaltes Bad erhalten, und zum Abendbrot würde ich sechs Unzen Brot und drei Teile Grütze kriegen, drei Teile sind drei Viertel eines Halblitermaßes, und die Grütze besteht aus drei Maß Hafermehl in dreieinhalb Eimern warmen Wassers verrührt „Und dazu Milch und Zucker und einen silbernen Löffel", sagte ich.
„Nee, da brauchst du nicht bange zu sein. Du kannst Salz kriegen. Ich hab' schon erlebt, daß man gar keinen Löffel kriegte, man mußte den Teller hoch halten und sich die Grütze in den Mund laufen lassen. So macht man's da." „In Hockney bekommt man doch eine gute Grütze", sagte der Kutscher.
„Ja, prachtvoll", bestätigte der Zimmermann, und dann wechselten sie einen beredten Blick. „In St. Georg ist es nur Mehl und Wasser", sagte der Kutscher.
Der Zimmermann nickte, er war offenbar überall gewesen.
„Und was dann?" fragte ich. Ich erfuhr, daß man dann zu Bett geschickt würde. „Es ist wohl nicht immer alles da", berichtete der Kutscher.
„Nee, das stimmt; und das Brot kann so sauer sein, daß man es kaum runterkriegt. Anfangs konnte ich nichts davon essen, jetzt könnte ich gut zwei Portionen bewältigen."
„Ja, und ich drei", sagte der Kutscher. Heut habe ich nicht einen Bissen in den Mund gekriegt." „Na, und?"
„Dann mußt du dich an die Arbeit machen; du mußt vier Pfund Werg pflücken oder scheuern und schrubben oder Steine klopfen. Ich brauche keine Steine zu klopfen, weil ich über sechzig bin; aber dir hilft es nichts, du bist jung und kräftig." „Das Schlimmste, finde ich, ist, in eine Zelle eingeschlossen zu werden, um Werg zu pflücken. Das schmeckt zu sehr nach Gefängnis", brummte der Kutscher.
„Wenn man nun aber da übernachtet hat, und sich dann weigert, Werg zu pflücken, Steine zu klopfen und  überhaupt  etwas  zu  tun,  was  dann?" fragte ich.
„Das versuchst du kaum mehr als einmal; du wirst eingesteckt", antwortete der Zimmermann. „Versuch' bloß das nicht, mein Junge." „Dann kommt das Mittagessen", fuhr er fort. „Acht Unzen Brot und anderthalb Unzen Käse, dazu kaltes Wasser. Dann hast du deine Arbeit fertig zu machen und kriegst wieder Abendbrot, immer dasselbe; dann ins Bett, und am nächsten Morgen um sechs wirst du losgelassen, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist." Wir waren längst über die Mile-End-Straße hinausgekommen und trotteten durch eine Menge enger, krummer Straßen, bis wir das Asyl von Poplar erreichten. Auf einer niedrigen Steinmauer breiteten wir unsere Taschentücher aus und legten all unser Eigentum hinein, mit Ausnahme des Tabaks, der in den Strumpf glitt, und endlich — endlich, als das Licht von dem graugelben Himmel verschwand und ein kalter Windhauch über die Erde strich — standen wir drei armen Verlorenen mit unseren armseligen kleinen Bündeln in der Hand vor dem Tor des Armenasyls. Drei junge Arbeiterinnen kamen vorbei, und die eine warf mir einen mitleidigen Blick zu; ich sah ihr nach, und sie blieb stehen und sah mich wieder mitleidig an. Die alten Männer beachtete sie gar nicht. Großer Gott, mich bedauerte sie. Ich war doch jung, lebenskräftig und stark. Mit den beiden Alten, die bei mir waren, hatte sie kein Mitleid. Sie war ein junges Weib, ich ein junger Mann, und dieser Unterschied, der unwillkürlich ihr Mitleid bewirkte, verringerte gleichzeitig den Wert ihrer Gefühle. Mitleid mit. Alten ist ein Gefühl, das alle hegen, und alte Männer im Eingang des Armenhauses ist kein ungewöhnlicher Anblick. Deshalb zeigte sie mir mehr Mitgefühl als den andern, und doch verdiente ich es am wenigsten oder gar nicht. Nicht in Ehren können die Grauköpfe sich in ihrem Grab in der Großstadt zur Ruhe betten. Auf der einen Seite des Eingangs befand sich ein Glockenzug, auf der andern ein Drückknopf. „Zieh die Glocke", sagte der Kutscher. Und ich zog, wie ich an jedem beliebigen Glockenzug gezogen hätte.
„Oh, oh!" riefen sie ganz erschrocken. „Nicht so heftig!"
Sie sahen mich vorwurfsvoll an, als hätte ich jede Aussicht auf Bett und Grütze vernichtet. Niemand kam und öffnete. Ich hatte also glücklicherweise die falsche Glocke benutzt.
„Drück' auf den Knopf", sagte der Zimmermann. „Nein, nein, wart' ein bißchen", rief der Kutscher. Und aus alledem wurde mir klar, daß der Torwart eines Armenasyls, der wohl im allgemeinen mit sieben oder neun Pfund jährlich gelohnt wird, eine sehr vornehme und bedeutungsvolle Persönlichkeit ist, die — von den Armen — nicht behutsam genug behandelt werden kann.
Wir warteten — zehnmal so lange, wie es der Anstand erfordert —, bis der Kutscher endlich bescheiden seinen Zeigefinger auf den Knopf setzte und so schwach und kurz wie möglich drückte. Ich habe Männer warten sehen, wenn es sich um Tod und Leben handelte, aber auf ihren Gesichtern war die Erwartung weniger deutlich geschrieben, als die Spannung auf denen dieser beiden Männer, während wir warteten, ob der Pförtner öffnen würde.
Endlich kam er. Er warf uns nur einen einzigen Blick zu. „Besetzt", sagte er und schlug die Tür wieder zu. Wied er eine Nacht", stöhnte der Zimmermann. Der Kutscher sah bleich und elend aus. Wohltätigkeit ohne Ansehen  der Person ist ein Fehlgriff, sagen die professionellen Philanthropen. Ich beschloß, einen Fehlgriff zu begehen. „Komm mit deinem Messer", sagte ich zum Kutscher und zog ihn in eine dunkle Seitenstraße. Er starrte mich erschrocken an und leistete Widerstand.  Vielleicht hielt  er mich für einen neuen Jack-the-Ripper, der alte männliche Armenhäusler zu  seiner  Spezialität  gemacht  hatte.  Oder  er glaubte, ich wollte ihn zum Mitschuldigen irgendeines verzweifelten  Verbrechens machen. Jedenfalls fürchtete er sich.
Aber wie man sich vielleicht erinnert, hatte ich, ehe ich aufbrach, ein Goldstück in die Achselhöhle meines Heizerhemdes genäht. Es sollte mein Reservefonds sein, und jetzt hatte ich zum erstenmal Lust, meine Zuflucht dazu zu nehmen. Erst als ich mich gedreht und gewendet hatte, um zu zeigen, wo die Münze eingenäht war, konnte ich den Kutscher bewegen, mir zu helfen. Aber seine Hand zitterte dermaßen, daß ich fürchtete, er würde mich schneiden, und schließlich selbst das Messer nahm. Das Goldstück — ein Vermögen für ihre hungrigen Blicke — rollte heraus, und dann marschierten wir nach dem nächsten Kaffeehaus. Jetzt mußte ich ihnen natürlich erzählen, daß ich eigentlich eine Art Forscher auf sozialem Gebiet war und das Leben der Armen studieren wollte. Und das hatte zur Folge, daß sie sofort ihrer Offenherzigkeit einen Riegel vorschoben. Ich war nicht mehr einer von den Ihren; meine Rede war anders geworden, mein Tonfall hatte sich verändert — kurz, ich gehörte zur Oberklasse, und dessen waren sie sich bewußt.
„Was wollt ihr haben?" fragte ich, als der Kellner kam.
„Zwei Scheiben Brot und eine Tasse Tee", sagte der Kutscher bescheiden.
„Zwei Scheiben und eine Tasse Tee", sagte der Zimmermann ebenso bescheiden. Wir wollen uns die Situation klarmachen: Hier saß ich mit zwei Männern, die ich in das Kaffeehaus eingeladen hatte. Sie hatten gesehen, daß ich ein Pfund Sterling in Gold besaß, und wußten also, daß ich nidit arm war. Der eine hatte den ganzen Tag nichts als ein Brötchen zu einem halben Penny gegessen, der andere überhaupt nichts. Und jetzt baten sie mich um „zwei Scheiben Brot und eine Tasse Tee"! Was sie verlangten, kostete zwei Pence.
Es war dieselbe Demut, die ihr Auftreten auch dem Armenhauspförtner gegenüber gekennzeichnet hatte. Aber mir gefiel das nicht. Allmählich brachte ich sie dazu, mehr zu bestellen — Eier, Speck, noch mehr Eier, mehr Speck, mehr Tee und mehrere Stück Butterbrot — sie sagten immer, daß sie nicht mehr haben wollten, verschlangen es jedoch gierig, so schnell es gebracht wurde. „Das  ist  meine  erste Tasse Tee  seit  vierzehn Tagen", sagte der Kutscher.
„Eine herrliche Tasse Tee", sagte der Zimmermann. Sie tranken jeder zwei halbe Liter, und ich gebe euch mein Wort darauf, daß es das reine Spülwasser war. Es hatte weniger Ähnlichkeit mit Tee, als Weißbier mit Champagner. Es war Spülwasser und erinnerte nicht im geringsten an Tee. Es war interessant, die Wirkung des Essens auf sie zu beobachten. Anfangs waren sie melancholisch und sprachen von den verschiedenen Perioden, in denen sie an Selbstmord gedacht hatten. Der Kutscher hatte vor kaum einer Woche auf einer Brücke gestanden, ins Wasser hinabgesehen und hineinspringen wollen. Das Wasser war nach Ansicht des Zimmermanns nicht das beste Mittel. Er wußte, daß er kämpfen würde, um sich zu retten. Eine Kugel war viel leichter; aber wo in aller Welt sollte er einen Revolver hernehmen? Das war das schwierigste.
Je mehr der Tee sie belebte, desto offenherziger wurden sie, und desto mehr begannen sie von sich zu reden. Der Kutscher hatte Frau und alle Kinder auf den Kirchhof gebracht, mit Ausnahme eines Sohnes, der herangewachsen und ihm zur Hand gegangen war. Da aber geschah das Unglück: der Sohn starb plötzlich im Alter von einunddreißig Jahren an den Pocken. Kurz darauf mußte der Kutscher selbst auf drei Monate ins Krankenhaus; und dann war es aus mit ihm. Als er entlassen wurde, war er schwach und niedergebrochen, sein junger, starker Sohn war tot, sein kleines Geschäft vernichtet, und er besaß nicht einen Penny. Das Unglück war über ihn gekommen, und es gab keine Möglichkeit mehr für einen alten Mann. All seine Freunde waren ebenso arm wie er. Als die Stadt die Krönungsfestlichkeiten vorbereitete, hatte er versucht, ein wenig Arbeit zu bekommen. „Aber ich wurde schließlich ganz krank davon, daß ich immer wieder dieselbe Antwort zu hören bekam: Nein! Nein! Nein!" Das klang ihm nachts in den Ohren, wenn er zu schlafen versuchte. Noch vorige Woche hatte er sich auf eine Annonce in Hockney vorgestellt, als er aber sein Alter angab, hatte man ihm wieder geantwortet, daß er zu alt sei — viel zu alt.
Der Zimmermann war der Sohn eines Soldaten, sein Vater hatte zweiundzwanzig Jahre lang gedient. Auch seine beiden Brüder waren ins Heer eingetreten; der eine starb in Indien als Husarenwachtmeister nach dem Aufruhr; der andere, der neun Jahre lang unter Lord Roberts gedient hatte, war in Ägypten umgekommen. Der Zimmermann hatte nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen, und deshalb wankte er noch auf dieser Erde einher.
„Aber kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand". sagte er und riß sein Hemd auf. „Ich bin reif fürs Anatomische Museum. Ich schwinde hin, werde zu nichts aus Mangel an Nahrung. Fühlen Sie nur meine Rippen."
Ich steckte die Hand unter sein Hemd und fühlte. Die Haut spannte sich wie Pergament über die Rippen, und das Gefühl, das ich hatte, kann nur mit dem verglichen werden, das man hat, wenn man die Hand über ein Waschbrett gleiten läßt. „Ich habe sieben gesegnete Jahre gehabt," sagte er, „eine gute Frau und drei reizende Mädelchen. Aber sie sind alle gestorben. Die Mädchen starben alle im Laufe von vierzehn Tagen an Scharlach." „Jetzt glaube ich," sagte der Kutscher, um das Gespräch auf einen angenehmeren Gegenstand zu bringen, „wäre es mir unmöglich, morgen früh ein Armenhaus-Frühstück zu essen." „Nein, das könnte ich auch nicht", gestand der Zimmermann; und jetzt begannen sie die Essensfrage zu erörtern und erzählten von den leckeren Gerichten, die ihre Frauen ihnen seinerzeit bereitet hatten.
„Ich hatte jetzt drei Tage hintereinander gefastet", sagte der Kutscher.
„Und ich fünf", fügte sein Kamerad düster hinzu. „Fünf Tage — ohne etwas anderes in den Leib zu kriegen als ein Stück Apfelsinenschale; das kann eine niedergebrochene Gesundheit nicht vertragen, es wäre fast mein Tod geworden. Manchmal, wenn ich nachts auf der Straße ging, wurde ich so verzweifelt, daß ich zu allem imstande gewesen wäre. Sie verstehen, was ich meine — irgendeinen großen Raub zu begehen. Wenn es aber Morgen wurde, stand ich, schlaff vor Hunger, da, und konnte keiner Katze etwas zuleide tun." Als ihre Lebensgeister durch die Zufuhr neuer Nahrung ein wenig erwachten, begannen sie aus sich herauszugeben und sich über Politik zu verbreiten. Ich muß gestehen, daß sie über Politik genau so gut wie ein Durchschnittsmensch der Mittelklasse sprachen, und ich habe verschiedene Angehörige des Mittelstands gehört, die weniger davon verstanden. Was mich in Erstaunen setzte, war, wieviel sie von der Welt in bezug auf Geographie, Völker und Geschichte der neueren Zeit wußten. Wie gesagt, dumm waren sie nicht, die beiden. Sie waren nur alt, und es war ein Jammer, daß ihre Kinder nicht aufgewachsen waren und ihnen ein Plätzchen an ihrem Herde geben konnten.
Noch eine kleine Beobachtung machte ich, als ich mich an der Ecke von ihnen verabschiedete, nachdem ich sie mit ein paar Schilling und der sicheren Aussicht auf ein Bett beglückt hatte. Als ich mir eine Zigarette angesteckt hatte und das brennende Streichholz wegwerfen wollte, streckte der Kutscher die Hand danach aus. Ich wollte ihm ein anderes anzünden, aber er sagte: „Das ist nicht nötig. Man soll nie verschwenden." Und während er sich die Zigarette anzündete, die ich ihm gegeben hatte, beeilte sich der Zimmermann, seine Pfeife zu stopfen, um von demselben Streichholz profitieren zu können. „Ja, es ist falsch, etwas wegzuwerfen", sagte der Kutscher.
„Ja, gewiß", sagte der Zimmermann. „Ja, gewiß", sagte ich und dachte dabei an die Waschbrettrippen, über die ich meine Hand hatte gleiten lassen.


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Offline thomas schachner

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09 - Im Arbeitshaus
« Antwort #11 am: 08.10.2006 11:47 Uhr »
09 - Im Arbeitshaus

Mein Körper verzeihe mir all die Häßlichkeit, durch die ich ihn geschleppt, und mein Magen die Unsauberkeit, die ich ihm geboten habe! Ich bin in der „Penne" gewesen, habe dort geschlafen und gegessen und — bin durchgebrannt.
Nach meinen zwei mißglückten Versuchen, in das Arbeitsasyl von Whitechapel einzudringen, wußte ich, daß ich früh beginnen mußte, und schon vor drei Uhr nachmittags schloß ich mich der traurigen Reihe der Wartenden an. Die Herberge wurde nicht vor sechs geöffnet, und doch war ich der zwanzigste; es hieß, daß nur zweiundzwanzig eingelassen werden würden. Gegen vier Uhr warteten vierunddreißig Mann; die letzten zehn klammerten sich offenbar an die Hoffnung, daß ein Wunder geschehen sollte. Es kamen immer wieder neue, die die wartende Schar sahen und wieder gingen, als sie sich darüber klar geworden waren, daß die „Penne" voll war.
Die Unterhaltung ging anfangs etwas träge, dann aber entdeckte der, welcher an der einen Seite von mir stand, daß er mit dem auf meiner andern Seite zusammen im Pockenhospital gelegen hatte; da es voll gewesen war, sechzehnhundert Patienten, hatten sie sich jedoch nicht näher kennen gelernt. Jetzt aber holten sie das Versäumte nach, diskutierten miteinander und verglichen die widerwärtigen Symptome ihrer Krankheit auf die kaltblütigste und offenste Art.
Ich erfuhr, daß im Durchschnitt einer von sechs starb, daß der eine von ihnen drei Monate lang gelegen hatte, der andere dreiundeinenhalben Monat, und daß sie fast bei lebendigem Leibe verfault waren.
Ich merkte, daß ich eine Gänsehaut bekam, und fragte sie, seit wann sie wieder draußen waren. Der eine war vor zwei, der andere vor drei Wochen entlassen worden. Ihre Gesichter hatten schreckliche Narben, obwohl jeder dem andern versicherte, daß ihm nichts mehr anzusehen war, und sie zeigten mir, daß auf ihren Händen und unter den Nägeln noch Pockenbeulen saßen. Der eine von ihnen drückte sogar, um die Krankheit zu demonstrieren, eine der kleinen Pocken aus, daß der Eiter aus seinem Fleisch sprang. Ich versuchte, mich in meinen Kleidern ganz klein zu machen, und hegte innige und stille Hoffnung, daß nichts davon mich getroffen hätte.
Beide Männer waren durch die Pocken an den Bettelstab gebracht worden. Sie hatten beide, als sie angesteckt wurden, Arbeit gehabt; bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus waren sie von der Krankheit gebrochen und hatten keine andere Aussicht als einen verzweifelten Kampf, um wieder Arbeit zu bekommen. Vorläufig war es ihnen mißglückt, und nun standen sie hier, um nach drei Tagen und Nächten auf der Straße zu versuchen, ein Dach über dem Kopfe zu bekommen. Nicht nur den, der alt wird, bestraft ein unverschuldetes Schicksal, sondern auch den, der von Krankheit  oder  einem  Unglücksfall  betroffen wird. Später sprach ich mit einem Manne, der „Ingwer" genannt wurde; er stand ganz vorne in der Schar, woraus hervorging, daß er mindestens seit ein Uhr gewartet haben mußte. Vor einem Jahre hatte er bei einem Fischhändler gearbeitet und sich an einer Kiste mit Fischen verhoben. Es zersprang etwas in ihm; und er lag da mit dem Kasten.
Im ersten Krankenhaus, wohin man ihn sofort brachte, sagte man, es sei ein Muskelriß, man behandelte ihn, daß die Schwellung zurückging, und gab ihm etwas Vaseline zum Einreiben; man behielt  ihn  vier  Stunden und schickte ihn dann wieder weg. Nach einigen Stunden fiel er wieder um.  Diesmal  kam er in ein anderes Krankenhaus und wurde wieder zusammengeflickt. Das schlimmste war, daß sein Arbeitgeber tatsächlich nichts für diesen Mann tat, der in seinem Dienst zu Schaden gekommen war, ja, sich sogar, als er aus dem Krankenhaus entlassen war, weigerte, ihm hin und wieder leichtere Arbeit zu geben. Ingwer ist jetzt erledigt. Seine einzige Möglichkeit, sich seinen Unterhalt zu verdienen, war schwere Arbeit. Dazu ist er nicht mehr imstande, und von jetzt an bis zu seinem Tode hat er nur noch Aussicht auf Armenhäuser,  öffentliche  Speisungen  und  die Straße. Ein Unfall hat ihn betroffen — das ist alles. Er hob eine zu schwere Last Fische, und das Konto des Glücks wurde in den Büchern seines Schicksals abgeschlossen.
Mehrere der Wartenden waren einmal in Amerika gewesen, und sie verfluchten ihre Dummheit, weil sie nicht drüben geblieben waren. England war das Gefängnis geworden, aus dem sie nicht mehr entkommen konnten.
Ich war der „Seemann, der Kleider und Geld verloren hatte", und sie hatten alle Mitleid mit mir und erteilten mir gute Ratschläge. Vor allem sollte ich mich vor Stätten wie die „Penne" hüten, sehen, wieder an die Küste zu gelangen und mit einem Schiff wegzukommen; ich sollte versuchen, Arbeit zu finden und ein Pfund zu verdienen, um den Obersteward zu bestechen, daß er mir erlaubte, mich „hinüberzuarbeiten". Sie priesen meine Jugend und Stärke, die mir wohl bald aus dem Lande helfen würden. Das waren Eigenschaften, die ihnen selbst fehlten. Alter und englische Krankheit hatten sie zu Boden geschlagen, und sie fühlten, daß sie außer Spiel gesetzt waren.
Einen aber gab es unter ihnen, der noch jung war, und von dem ich sicher bin, daß er sich durchbeißen wird. Als ganz junger Mensch war er nach Amerika gegangen, und in den vierzehn Jahren, die er drüben geblieben war, hatte seine längste Arbeitslosen-Periode zwölf Stunden gedauert. Er hatte sich etwas Geld zurückgelegt und war in sein Vaterland zurückgekehrt. Jetzt stand er in der Reihe vor dem Asyl.
Wie er mir erzählte, hatte er die letzten paar Jahre als Koch gearbeitet, aber die lange Arbeitszeit wie die Arbeit selbst war so aufreibend, daß er sie niedergelegt hatte. „Ich hatte mir etwas Geld gespart, aber es ging drauf, während ich mich nach einem andern Posten umsah", erklärte er.
Es war das erstemal, daß er sich vor der „Penne" aufstellte, und das nur, um sieh ein bißchen auszuruhen; sobald das geschehen war, wollte er zu Fuß nach Bristol, etwa hundertzehn Meilen weit, von wo er mit einem Schiff nach Amerika zu kommen hoffte.
Die andern in der Reihe waren nicht von seinem Kaliber. Einige waren elende Wracks, gleichgültig und gefühllos und doch in mancher Beziehung durchaus Menschen. Ich entsinne mich, wie ein Kutscher, der wohl von der Arbeit heimkehrte, seinen Wagen gerade vor uns anhielt, damit sein hoffnungsvoller Sprößling, der ihm entgegengelaufen war, zu ihm heraufkrabbeln konnte. Aber der Wagen war groß und der Junge klein, und sein Versuch, hinaufzukommen, mißglückte immer wieder. Da trat eines der zerlumpten Individuen aus der Reihe und hob den Jungen hoch. Der Kernpunkt hierbei ist, daß hier eine Liebestat geübt wurde. Der Kutscher war arm, und das wußte der andere; aber er reichte ihm trotzdem eine helfende Hand, der Kutscher dankte ihm, wie Sie und ich einander gedankt hätten. Einen andern schönen Zug beobachtete ich bei einem Hopfenpflücker und seiner „Alten". Er stand eine halbe Stunde in der Reihe, als die „Alte" zu ihm kam. Sie war verhältnismäßig gut gekleidet und hatte einen verblichenen Hut auf ihrem grauen Kopf und ein Sackleinenbündel auf dem Arm. Während sie sich unterhielten, streckte er die Hand aus, faßte eine kleine Strähne verblichenen Haares, die  sich  gelöst  hatte,  drehte  sie  zwischen  den Fingern und strich sie ihr hinters Ohr. Man kann viele Schlüsse aus diesem kleinen Zug ziehen. Er liebte sie sicher, da er wollte, daß sie hübsch und nett aussah. Er war direkt stolz auf sie, während wir hier vor dem Armenhaus standen, und er wollte gern, daß die andern Unglücklichen fänden, daß sie gut aussah. Vor allem aber zeugte es von treuer Ergebenheit, denn kein Mann zerbricht sich den Kopf darüber, ob eine Frau, für die er sich nicht interessiert, hübsch und nett ist, es könnte ihm nicht einfallen, auf ihr Aussehen eitel zu sein. Ich wunderte mich, daß dieser Mann und diese Frau, die, nach dem, was sie sprachen, schwer arbeiteten, es nötig hatten, hierher zu kommen. Er war ja stolz — stolz auf seine Frau und stolz auf sich. Als ich ihn fragte, was ich seiner Meinung nach als Anfänger mit Hopfenpflücken verdienen könnte, betrachtete er mich und sagte, das beruhte auf den Umständen. Viele wären zu langsam; ein Mann, der Geld verdienen wollte, müßte seinen Kopf gebrauchen und schnelle Finger haben. Er und seine Frau kämen schon durch, denn sie arbeiteten zusammen und schliefen nicht bei der Arbeit; aber sie hätten auch vierjährige Übung. Ein Mann in der Reihe fiel ein: „Ich hatte einen Kameraden, der voriges Jahr zum erstenmal pflückte und mit zwei Pfund zehn in der Tasche nach einem Monat heimkam." „Da siehst du", sagte der Hopfenpflücker mit einer Welt von Bewunderung in seiner Stimme. „Er war direkt dazu geboren."
Zwei Pfund und zehn, wenn man direkt dazu geboren ist.  Und dann muß man nachts draußen schlafen — ohne Decken — und leben, Gott weiß, wovon. Ich glaube, ich muß dankbar sein, daß ich nicht „direkt für etwas geboren bin", nicht einmal zum Hopfenpflücken.
Der Pflücker gab mir verschiedene gute Ratschläge betreffs Anschaffung der notwendigen Ausstattung für das Geschäft. Hört zu, ihr warmherzigen, sanften Menschen; gesetzt, ihr solltet selber in der Großstadt London scheitern!
„Wenn du nicht Blechgeschirr und Kocheinrichtung hast, mußt du von Brot und Käse leben. Das taugt nichts. Du mußt Tee und Gemüse und hin und wieder ein bißchen Fleisch haben, wenn du etwas schaffen willst, das wirklich Arbeit genannt werden kann. Ich will dir sagen, was du tun mußt, mein Junge. Mache morgen eine Runde und sieh in den Mülleimern nach. Du wirst schon Blechgeschirr finden. Es gibt direkt feine Dinge darunter. Meine Alte und ich kriegten unseres auf die Weise." Er zeigte auf das Bündel, das sie trug, und nickte mir zuversichtlich und freundlich zu, als sei er sicher, daß ich schon Geld verdienen und durchkommen würde.
„Dieser Überzieher ist so dick wie eine Decke", fuhr er fort und zeigte mir das Futter, damit ich sehen sollte, wie dick es war. „Und wer weiß, ob ich nicht eines Tages eine richtige Decke finde." Die alte Frau nickte wieder strahlend, sicher, daß er bald eine Decke finden würde. „Hopfenpflücken nenne ich ein reines Vergnügen", schloß er. „Eine leichte Art, zwei bis drei Pfund zu verdienen, um etwas für den Winter zu haben.
Das einzige, was ich nicht mag" — hier wurde der Ton bedeutend kleinlauter — „ist das Herumlaufen."
Es war klar, daß dieses Paar das Gewicht der Jahre zu fühlen begann, und ich sah auf ihr graues Haar und dachte zehn Jahre in die Zukunft, und was dann aus ihnen werden mochte. Die Straße, in der wir standen, war von Mauer zu Mauer kaum zwanzig Fuß breit. Die Bürgersteige waren drei Fuß breit; es war eine Wohnstraße; jedenfalls führten einige Arbeiter mit ihren Familien eine Art Dasein in den Häusern gegenüber. Und jeden einzigen Tag Gottes von eins bis sechs war unsere zerlumpte Schar alles, was sie von ihren Fenstern und Türen aus sehen konnten. Gerade gegenüber saß ein Arbeiter in seiner Tür, ruhte sich aus und schöpfte Luft nach der Mühe des Tages. Seine Frau trat heraus, um mit ihm zu reden; er mußte aufstehen, da nicht zwei in der Tür sitzen konnten. Ihre kleinen Kinder krabbelten zu ihren Füßen herum. Weniger als zwanzig Fuß von ihnen entfernt standen die Armenhäusler — weder für den Arbeiter noch für die Armen gab es etwas wie ein Privatleben. Rings um uns spielten die Kinder der Nachbarschaft. Unser Dasein bot ihnen nichts Ungewöhnliches. Wir gehörten hierher, wie die Steinmauern und Türschwellen der benachbarten Häuser. Seit ihrer Geburt sahen sie die Schar vor der „Penne"; solange sie existierten, hatte sie dagestanden.
Um sechs Uhr rückte die Reihe vor, und wir kamen je zu dritt hinein. Der Vorsteher notierte blitzschnell unsere Namen, Alter, Stellung, Geburtsort, jetzige Stellung und die Unterkunft der letzten Nacht. Als ich mich umdrehte, drückte mir zu meiner Überraschung ein Mann etwas in die Hand, das mich an einen Mauerstein erinnerte; und gleichzeitig rief er mir ins Ohr: „Messer, Streichhölzer und Tabak?" „Nein", log ich wie alle anderen, die hineinkamen. Als ich in den Keller ging, betrachtete ich den Mauerstein in meiner Hand und mußte einräumen, daß man die Sprache verfälschen mußte, um ihn Brot zu nennen.
Im Keller war nur schwaches Licht, und ehe ich es wußte, hatte ein anderer Beamter mir eine Kasserolle in die Hand gesteckt. Dann tastete ich mich in ein noch dunkleres Zimmer, das voll von Tischen, Bänken und Menschen war. Es roch schrecklich, und das gedämpfte Licht und das Geräusch der murmelnden Stimmen aus der Dunkelheit erweckten Vorstellungen vom Vorhof der Hölle. Die meisten Männer hatten schlimme Füße, und ehe sie essen sollten, zogen sie die Schuhe aus und wickelten die schmutzigen Lumpen ab, in die sie die Füße gewickelt hatten. Das machte die ganze Szenerie noch widerwärtiger und nahm mir völlig den Appetit.
Ich mußte jetzt für einen großen Irrtum büßen, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Ich hatte vor fünf Stunden gut zu Mittag gegessen und hätte mindestens ein paar Tage fasten müssen, um dem Essen, das mir jetzt geboten wurde, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kasserolle war mit drei achtel Liter Grütze gefüllt, die in diesem Fall aus Maismehl und warmem Wasser bestand. Die Männer stippten ihre Brote in einige Haufen Salz, die auf den schmutzigen Tisch gestreut waren. Ich versuchte es ebenso zu machen, aber das Brot blieb mir im Halse stecken, und mir fiel das Wort des Zimmermanns ein: „Das Brot in der Penne ist so hart, daß man einen halben Liter Wasser dazu trinken muß." Ich begab mich in eine finstere Ecke, wo ich die andern hatte hingehen sehen, und hier fand ich Wasser. Dann ging ich wieder zu meiner Grütze zurück. Sie war dick, geschmacklos, klumpig und bitter. Sie war Übelkeit erregend. Ich kämpfte männlich gegen die Übelkeit an, aber sechs Mundvoll war alles, was ich hinunterbringen konnte. Mein Nebenmann aß seine eigene Portion und meine noch dazu, kratzte die Kasserollen aus und sah sich gierig nach mehr um. „Ich traf einen Herrn, der mir etwas zu essen gab", erklärte ich.
„Ich hab' seit gestern morgen keinen Bissen gekriegt", antwortete er.
„Glaubst du, daß es mit dem Tabak gehen wird?" fragte ich. „Ob sie etwas merken?" „Bewahre", antwortete er. „Da brauchst du nicht bange zu sein. In der Beziehung ist das hier die beste Penne. Du solltest die andern kennen; da untersuchen sie einen bis auf die Haut." Als  die Kasserollen ausgekratzt waren, begann unsere Unterhaltung in Gang zu kommen. „Der Verwalter hier schreibt immer Unsinn über uns in den Zeitungen", erklärte der Mann, der neben mir saß.
„Was schreibt er denn?" fragte ich. „Ach, er sagt, wir taugen zu nichts und sind eine Bande Räuber und Schurken, die nicht arbeiten wollen. Er tischt immer wieder die alten Geschichten auf, die ich jetzt seit zwanzig Jahren gehört habe. Aber in Wirklichkeit habe ich nie etwas davon gesehen. Das letzte, was ich von ihm las, handelte von einem Strolch, der aus der Penne kam und eine Brotkruste in der Tasche hatte, jedesmal, wenn er einen netten alten Herrn anspazieren kommen sah, warf er die Kruste in den Rinnstein und bat den alten Herrn, ihm seinen Spazierstock zu leihen, um sie herauszufischen. Dann gab der alte Herr ihm sechs Pence." Ein Sturm von Beifall begrüßte die wohl angebrachte Geschichte, und dann erklang irgendwoher aus der Dunkelheit eine andere Stimme zornig:
„Es ist so viel die Rede davon, daß man auf dem Lande leicht durchkommen kann. Gott weiß, wo das ist. Ich komme gerade von Dover; da gönnt einem keiner einen Schluck Wasser, geschweige denn etwas zu essen."
„Es gibt viele, die nie aus Kent herauskommen," sagte eine neue Stimme, „und die leben doch im vollen."
„Ich bin durch Kent gekommen," antwortete die erste Stimme, „und Gott verfluche mich, wenn mir jemand auch nur eine Brotkruste gegeben hätte. Im übrigen hab' ich gemerkt, daß Kerle, die damit prahlen, wieviel sie sich erfechten können, sich schön über die Grütze hermachen, wenn sie in die Penne kommen."
„Es gibt Burschen hier in London," sagte ein Mann mir gegenüber am Tische, „die kriegen, was sie brauchen, ohne je auf dem Lande arbeiten zu müssen. Sie bleiben das ganze Jahr in London. Und denken auch nie daran, sich vor neun, zehn Uhr abends ein Bett zu verschaffen." Der ganze Chor bestätigte diese Äußerung. „Aber sie sind auch verflucht gerissen, die Kerle", fügte eine bewundernde Stimme hinzu. „Ja, bei Gott, das sind sie", sagte ein anderer. „Aber so können wir nicht alle sein; das muß einem angeboren sein. Die Burschen haben von Geburt an Wagentüren geöffnet und Zeitungen auf der Straße verkauft, und ihre Eltern haben dasselbe getan. Es ist alles Übung; du und ich, wir würden dabei verhungern."
Der Chor bestätigte auch diese Äußerung sowie eine weitere, daß es arme Teufel gäbe, die das ganze Jahr hindurch nichts anderes zu essen bekämen als Grütze und Brot im Arbeitshaus. „Ich hab' einmal in der Stratford-Penne eine halbe Krone verdient", erklärte eine neue Stimme. Sofort wurde es still, alle lauschten auf die wunderbare Begebenheit. „Wir sollten zu dritt Steine klopfen. Es war Winter, und wir froren ganz schrecklich. Die andern sagten, sie wollten ewig verdammt sein, wenn sie auch nur einen Stein zerklopften, und sie taten es auch nicht. Ich aber machte mich dran, um Wärme in den Leib zu kriegen. Und dann kamen die Aufseher, und die beiden andern wurden auf vierzehn Tage eingesperrt; als die Aufseher aber sahen, was ich gemacht hatte, gaben sie mir jeder sechs Pence." Die meisten, nein, alle haßten das Asyl und kamen nur hin, wenn sie nicht mehr ein und aus wußten. Hatten sie sich ausgeruht, dann konnten sie zwei oder drei Nächte auf der Straße bleiben, aber dann mußten sie wieder hin.
„Penne suchen" nennt man das Vagabundieren hier. Das schwierigste Problem ist, Unterkunft für die Nacht zu finden. Das ist noch schwerer, als etwas zu essen zu bekommen. Das harte Klima und die strengen Gesetze sind schuld daran, während sie es selbst der Einwanderung von Polen und russischen Juden zuschrieben; die arbeiten für geringeren Lohn und nach dem Schwitzsystem.
Gegen sieben wurden wir nach oben gerufen, um zu baden und ins Bett zu gehen. Wir zogen uns aus, stopften das Zeug in den Mantel, banden den Hosenriemen herum und warfen unsere Lumpen dann in einem einzigen großen Haufen auf den Fußboden — eine reizende Art, um unsere Läuse durcheinander zu bringen. Dann kamen wir zu zweit und zweit in den Baderaum, wo zwei Wannen standen. Und so viel ist sicher, daß die beiden vor uns sich in demselben Wasser gewaschen hatten wie wir, und es wurde auch nicht erneuert, ehe die nächsten kamen. Man kann sicher ruhig davon ausgehen, daß alle zweiundzwanzig sich in demselben Wasser wuschen.
Ich tat, als wüsche ich mich in diesem zweifelhaften Napf, dann rieb ich mich schleunigst mit einem Handtuch ab, das naß von den Leibern der andern war. Es beruhigte mich nicht gerade, als ich sah, daß der Rücken eines der armen Teufel eine einzige blutige Masse vom Angriff der Läuse und seinem ewigen Kratzen war. Man reichte mir ein Hemd, das sicher schon mehrere vor mir angehabt hatten; und dann trottete ich mit ein paar Decken unter dem Arm in den Schlafsaal.
Der Saal war ein langer, schmaler, durch zwei eiserne Stangen geteilter Raum. Zwischen den Stangen hingen — nicht etwa Hängematten — sondern einige Stücke Leinwand, sechs Fuß lang und weniger als zwei Fuß breit. Das waren die Betten. Sie waren nur sechs Zoll voneinander entfernt und hingen nur acht Zoll über dem Fußboden. Dazu hatte man die Schwierigkeit zu überwinden, daß das Kopfende höher als das Fußende war, so daß man immer wieder herabglitt. Sobald ein Mann sich rührte, wurden alle andern Kojen auch in Bewegung gesetzt, und jedesmal, wenn ich gerade einschlafen wollte, mühte sich irgendeiner ab, um die Lage wieder einzunehmen, aus der er herabgeglitten war.
Mehrere Stunden vergingen, ehe der Schlaf mich überwältigte. Es war erst sieben Uhr, als wir zur Ruhe gingen, und das Geschrei und Gebrüll der Kinder auf der Straße dauerte bis fast um Mitternacht. Der  furchtbare Gestank  war  erstickend,  meine Phantasie begann zu arbeiten, und ich fühlte ein Kribbeln am Körper, daß ich fast wahnsinnig wurde. Grunzen, Brummen und Schnarchen ertönten wie von einem furchtbaren Meeresungetüm. Und mehrmals weckte einer von uns alle übrigen, wenn er, vom Alpdruck geplagt, plötzlich schrie und heulte. Bei Tagesanbruch wurde ich dadurch geweckt, daß eine Ratte oder ein ähnliches Tier mir über die Brust kroch. Auf der Grenze zwischen Schlafen und Wachen, ehe ich noch meiner Herr werden konnte, stieß ich ein Gebrüll aus, das Tote erweckt hätte. Jedenfalls weckte ich die Lebenden, und sie verfluchten mich von allen Seiten wegen meines Mangels an Lebensart. Endlich brach der Morgen an, und um sechs gab es Frühstück, Brot und Grütze, die ich weitergehen ließ; dann wurden wir über unsere Arbeit unterrichtet. Acht von uns wurden nach dem Krankenhaus von Whitechapel gebracht, wo wir reinmachen mußten. Auf diese Art mußten wir für die Grütze und das Stückchen Leinen bezahlen, und so viel weiß ich jedenfalls, daß ich weit mehr als billig dafür bezahlen mußte.
„Rühr' das nicht an, Kamerad, die Krankenschwester hat gesagt, daß es lebensgefährlich ist", warnte mein Arbeitsgenosse mich, während ich einen Sack hielt, in den er einen Abfallbehälter leerte.
Diesen Sack und mehrere andere mußte ich fünf Stockwerke hinunterschleppen und in einen großen Behälter schütten, wo alles schnell mit einer desinfizierenden Flüssigkeit besprengt wurde.
Vielleicht steckte göttliche Barmherzigkeit hinter alledem. Diese Menschen der Armenhäuser, Speiseanstalten und Straßen bringen ja nur Ungelegenheit. Sie leben keinem zu Nutz und Freude, nicht einmal sich selber. Sie belasten die Erde nur durch ihre Existenz, und es ist am besten, sie loszuwerden. Und von Arbeit erschöpft, schlecht ernährt und schlecht gepflegt, sind sie stets die ersten, die von Krankheit betroffen werden, und zugleich die, die am schnellsten unterliegen. Wir sprengten mit der desinfizierenden Flüssigkeit beim Leichenhause, als der Leichenwagen erschien und fünf Leichen holte. Da kam das Gespräch auf das „weiße Pulver" und die „schwarze Mixtur", und ich erfuhr, daß alle sich einig waren, daß arme Männer und Frauen, die dem Krankenhaus besondere Mühe machten oder besonders schwer angegriffen waren, einfach „expediert" wurden; sie bekamen „schwarze Mixtur" oder „weißes Pulver" und wurden in die Ewigkeit geschickt.
Ob das stimmt, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Hauptsache ist, daß es allgemein geglaubt und durch die Worte „schwarze Mixtur", „weißes Pulver" und „expediert" ausgedrückt wird.
Gegen acht wurden wir in einen Keller geführt und erhielten Tee und allen möglichen Abfall vom Hospitalessen. Der Abfall war auf einem mächtigen Teebrett aufgehäuft — Brotscheiben, Fettklumpen, Fleischstücke, die angebrannte Haut von gebratenem Fleisch, Knochen, kurz alle Überreste von den Mündern und Fingern der vielen an verschiedenen Krankheiten leidenden Patienten. Die Männer bohrten ihre Hände in diese Masse, gruben und suchten darin herum, wendeten und drehten sie, verschmähten oder griffen gierig zu. Es sah häßlich aus. Schweine hätten es nicht häßlicher tun können. Aber die armen Teufel waren hungrig, sie fraßen wild vom Schweinefutter, und als sie nichts mehr in sich hineinstopfen konnten, banden sie das, was übrig war, in ihre Taschentücher und steckten es unter ihr Hemd.
„Was meinst du, was ich das letztemal hier draußen gefunden habe?" sagte Ingwer zu mir. „Eine ganze Menge Karbonadenknochen." Mit „draußen" meinte er die Stelle, wo alles faule Zeug mit desinfizierender Flüssigkeit besprengt wurde. „Es saß noch eine Menge daran, lauter schieres Fleisch; und ich nahm es schnell und war mit einem Sprung auf der Straße, ich wollte sehen, ob ich nicht in aller Eile jemand fand, dem ich es geben konnte. Aber es war keine Menschenseele zu sehen, und ich schoß davon wie ein Besessener, und der Aufseher hinter mir her, in dem Glauben, daß ich durchbrennen wollte. Aber ehe er mich einholen konnte, erwischte ich eine alte Frau und stopfte ihr die Karbonaden in die Schürze." — O Barmherzigkeit! O Wohltätigkeit! Steigt tief hinab ins Arbeitshaus und nehmt Unterricht bei „Ingwer". In der Tiefe des Abgrunds handelte er so edel und menschlich, wie wir es je über dem Abgrund getan. Das war brav von Ingwer, und selbst, wenn die arme Frau von dieser „Menge schieren Fleisches" an den Karbonadenknochen krank geworden ist, so war es doch eine schöne Tat. Das Auffallendste daran ist meiner Meinung nach jedoch, daß der arme Ingwer sich wie ein Besessener benahm bei dem Gedanken, daß soviel Essen vergeudet werden sollte.
Wer diese Arbeitshäuser aufsucht, bleibt in der Regel zwei Nächte und einen Tag; aber ich hatte mehr als genug gesehen. Ich hatte mein Stück Leinen und meine Grütze teuer genug bezahlt und schickte mich an, fortzulaufen. „Komm, laß uns sehen, hinauszukommen", sagte ich zu einem meiner Kameraden und zeigte auf das Tor, das hinter dem Leichenwagen noch nicht geschlossen war.
„Um vierzehn Tage zu kriegen?" „Nein, sie fangen uns nicht!" „Ich  bin  hergekommen,  um  mich  auszuruhen", sagte er sanft. „Und noch eine Nacht Schlaf wird mir nicht schaden."
Diese Auffassung teilten sie alle, so daß mir nichts übrigblieb, als allein durchzubrennen. „Dann kannst du nie wieder herkommen und ein Bett kriegen", warnten sie mich. „Nein, glücklicherweise!" rief ich mit einer Freude, die sie nicht faßten.
Dann schlüpfte ich zum Tor hinaus und ging auf die Straße.
So schnell ich konnte, eilte ich heim in mein Zimmer, zog mich um, und kaum eine Stunde nach meiner Flucht lag ich in einem türkischen Bad und schwitzte alle Krankheitskeime und was ich sonst mitgebracht haben mochte, aus; und ich wünschte nur, ich hätte eine Temperatur dreimal so hoch wie der Siedepunkt vertragen können.


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10 - Der Fahnenträger
« Antwort #12 am: 08.10.2006 11:54 Uhr »
10 - Der Fahnenträger

Die Fahne tragen" bedeutet, die ganze Nacht auf der Straße sein. Und so hißte ich die Fahne und ging, um zu sehen, was es zu sehen gäbe. Überall in dieser Stadt sind Männer und Frauen die ganze Nacht auf der Straße. Ich wählte West End, machte den Leicester Platz zum Ausgangspunkt und begab mich auf die Forschungsreise von der Themse-Promenade bis zum Hyde-Park.
Es regnete in Strömen, die Theater waren gerade aus, und die eleganten Scharen, die herausquollen, konnten schwer Wagen finden. Die Straßen waren zwar voller Wagen, aber die meisten waren besetzt; und jetzt erlebte ich den verzweifelten Kampf der zerlumpten, obdachlosen Männer und Knaben, um sich ein paar Groschen für eine Unterkunft zu verdienen, indem sie Herren und Damen, die in Verlegenheit waren, Wagen verschafften. Ich gebrauche absichtlich das Wort verzweifelt, denn diese armen, obdachlosen Menschen liefen Gefahr, bis auf die Haut durchnäßt zu werden, in der Hoffnung, sich ein Bett zu verdienen; und die meisten von ihnen wurden durchnäßt, ohne hinterher ein Bett zu bekommen.
Eine Unwetternacht in nassen Kleidern, zumal, wenn man im voraus durch mangelhafte Kost geschwächt ist, ist wohl das Schwerste, was ein Mensch je erleben kann. Ich bin, gut ernährt und warm gekleidet, einen ganzen Tag bei minus 76 Grad Fahrenheit gereist — es war in Klondike — und, wenn ich auch litt, so war es doch nichts im Vergleich mit den Leiden eines Menschen, der eine Nacht auf den Londoner Straßen die Fahne tragen muß, wenn er hungrig, schlecht gekleidet und bis auf die Haut durchnäßt ist. Als das Theaterpublikum sich verlaufen hatte, wurden die Straßen öde und still. Man sah nur den allgegenwärtigen Schutzmann, der den Schein seiner Laterne in alle Haustüren und Gänge fallen ließ, und außerdem einige Männer, Frauen und Knaben, die Schutz vor Sturm und Regen suchten, indem sie sich eng an die Häuser drückten. Nur Piccadilly war nicht so verlassen wie die andern Straßen, hier waren die Bürgersteige von elegant gekleideten Damen ohne Begleiter belebt; eben die Arbeit, sich einen Begleiter zu kapern, war das belebende Moment für sie. Gegen drei Uhr war die letzte der Frauen verschwunden, und nun war die Straße verödet.
Nach halb zwei wurde der anhaltende Regen von einzelnen Schauern abgelöst. Die Obdachlosen krochen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und gingen auf und ab, um das Blut in Zirkulation zu bringen.
Ich bemerkte eine alte Frau, ein wahres Wrack, zwischen Fünfzig und Sechzig, die ich schon früher am Abend in der Nähe des Leicester Platzes gesehen hatte. Sie schien weder die Kraft noch den Sinn dafür zu haben, Schutz vor dem Regen zu suchen oder irgendwohin zu gehen; gelegentlich blieb sie stehen und fiel in Gedanken; ich vermute, daß sie von alten Tagen träumte, da die Welt jung und das Blut heiß gewesen. Aber lange durfte sie nie stehenbleiben, die Schutzleute hießen sie immer „weitergehen", und das geschah in der Regel sechsmal, bis sie von einem Distrikt in den andern gelangt war. Gegen drei Uhr hatte sie die St.-James-Straße erreicht, und als es vier schlug, sah ich, daß sie, an das eiserne Gitter des Green-Parks gelehnt, schlief. Um diese Zeit kam wieder ein Regenschauer, und sie muß bis auf die Haut durchnäßt worden sein.
Als es eins war, sagte ich mir: Stell' dir nun vor, daß du ein armer junger Mann ohne einen Pfennig in der Tasche bist, und daß du morgen auf die Arbeitssuche gehen mußt. Es ist also nötig, daß du etwas schläfst, damit du Kraft genug hast, zuzupacken, wenn du Glück hast. So setzte ich mich denn auf eine Steintreppe. Fünf Minuten später stellte sich ein Schutzmann vor mir auf und betrachtete mich. Da ich die Augen geöffnet hatte, konnte er nichts tun und ging brummend weiter. Zehn Minuten darauf war ich eingenickt, der Kopf sank mir auf die Knie, und gleich war er wieder da und sagte diesmal brutal: „Machen Sie, daß Sie weiterkommen!" Und ich kam weiter. Und es ging mir genau wie der alten Frau, ich wurde immer weiter geschickt;
jedesmal, wenn ich ein bißchen eingenickt war, wurde ich von einem Schutzmann wachgerüttelt. Bald hatte ich es aufgegeben, mich auszuruhen, und schloß mich einem jungen Londoner an, der in den Kolonien gewesen war und jetzt nur wünschte, wieder dort zu sein.
Plötzlich entdeckte ich einen Kellergang, der tief unter ein Haus führte; ein niedriges eisernes Gitter versperrte den Zugang.
„Komm," sagte ich, „laß uns hinüberklettern und sehen, ein Plätzchen zum Schlafen zu finden." „Bist du verrückt", sagte er und wich vor mir zurück; „willst du dich drei Monate einsperren lassen! Nein, da komme ich nicht mit." Später kam ich in Begleitung eines vierzehn- oder fünfzehnjährigen Knaben am Hyde-Park vorbei. Es war ein schwächlich aussehender, magerer, hohläugiger Junge.
„Laß uns über das Gitter klettern und versuchen, im Gebüsch ein bißchen zu schlafen", schlug ich vor. „Da können die Schutzleute uns nicht finden." „Nicht zu machen," antwortete er, „dann kommen die Gartenwächter; die erwischen uns doch, und dann kriegen wir sechs Monate." Ach, wie die Zeiten sich geändert haben! Als Kind las ich von obdachlosen Knaben, die auf steinernen Treppen schliefen. In der Literatur werden sie sich vielleicht noch ein Jahrhundert halten; aus der Wirklichkeit aber sind sie verschwunden. Die steinernen Treppen sind noch da und die Knaben auch; aber die rührende Verbindung  zwischen  ihnen  ist  abgebrochen.
Die steinernen Treppen stehen leer, und die Knaben müssen sich wach halten und die Fahne tragen. „Als es regnete, war ich unter einem von den Bogen", erzählte ein junger Mensch. Mit Bogen meinte er die Brückenbogen der Themsebrücke an Land. „Da kam ein Schutzmann und jagte mich weg. Aber ich kam wieder und er auch. ,Hör' mal,' sagte er da, ,was hast du vor?' Als ich aber ging, sagte ich ihm denn auch: .Glauben Sie, ich wollte die Brücke stehlen?'"
Bei den Fahnenträgern heißt es, daß Green-Park von allen Parks morgens am frühesten geöffnet wird, und als es Viertel nach vier war, ging ich mit mehreren anderen hinein. Es regnete noch, da die Obdachlosen aber vom Laufen auf den Straßen erschöpft waren, ließen sie sich augenblicklich auf die Bänke fallen und schliefen. Einige warfen sich sogar der Länge nach in das nasse Gras, und während der Regen ständig auf sie herabtropfte, schliefen sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Ich hätte Lust, die Machthaber zu kritisieren. Da sie Machthaber sind, haben sie ja die Macht, zu tun, was sie wollen, und ich muß mich darauf beschränken, auf das Lächerliche ihrer Handlungsweise hinzuweisen. Sie lassen die Obdachlosen die ganze Nacht auf der Straße herumlaufen, verjagen sie aus Gängen und Haustüren und verschließen ihnen die Parks, offenbar in der Absicht, sie am Schlafen zu verhindern. Die Machthaber haben die Macht, das und was sie sonst für gut befinden, zu tun, aber warum in aller Welt öffnen sie  dann  die Pforten der Parks um fünf Uhr morgens und lassen die Obdachlosen hineinschlüpfen und schlafen? Ist es ihre Absicht, sie am Schlafen zu verhindern, warum lassen sie sie dann nach fünf Uhr morgens schlafen, ist es aber nicht ihre Absicht, warum lassen sie sie dann nicht früher in der Nacht schlafen?
In diesem Zusamenhang will ich erzählen, daß ich am selben Nachmittag um ein Uhr durch den Green-Park kam und Dutzende elender Menschen zählte, die im Grase schliefen. Es war ein Sonntagnachmittag. Die Sonne war hervorgekommen, und die gutgekleideten Familien aus West End gingen zu Tausenden spazieren. Es war kein anregender Anblick für sie, die häßlichen, zerzausten schlafenden Vagabunden hier zu finden. Und ich bin überzeugt, daß die Vagabunden lieber nachts geschlafen hätten.
Und so sage ich euch, ihr lieben Menschen: Solltet ihr je nach London kommen und Geschöpfe sehen, die rings auf Bänken und Rasenplätzen schlafen, so glaubt nicht, daß es Faulenzer seien, die lieber schlafen als arbeiten wollten. Denkt daran, daß die Machthaber sie die ganze Nacht die Fahne tragen ließen, und daß sie keine andere Stätte hatten, wo sie am Tage schlafen konnten.


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11 - Die Speisung
« Antwort #13 am: 08.10.2006 16:35 Uhr »
11 - Die Speisung

In der Nacht, in der ich „die Fahne getragen" hatte, legte ich mich doch nicht bei Tagesanbruch im Green-Park schlafen. Ich war triefend naß und hatte seit vierundzwanzig Stunden keinen Schlaf in die Augen bekommen, und da ich immer noch die Rolle eines armen Mannes ohne einen Pfennig in der Tasche spielte, mußte ich mich nach einem bißchen Frühstück umsehen und dann versuchen, Arbeit zu finden.
Nachts hatte ich davon gehört, daß die Heilsarmee jeden Sonntagmorgen den „Ungewaschenen" irgendwo auf der Surrey-Seite der Themse Frühstück gab. Die Ungewaschenen sind die, welche nachts die „Fahne tragen"; wenn es nicht regnet, haben sie nur geringe Aussicht, sich am Morgen zu waschen.
Das muß etwas für dich sein, dachte ich — Frühstück, und dann ein ganzer Tag für die Arbeitssuche.
Es war ein schwerer Gang. Ich schleppte meine müden Beine durch die St.-James-Straße, durch Pall Mall, über den Trafalgar-Platz und zum Ufer hinab. Ich ging über die Waterloo-Brücke nach Surrey, kreuzte die Blackfriar-Chaussee, kam in die Nähe des Surrey-Theaters und hatte vor sieben die Baracken der Heilsarmee erreicht. Hier stand schon eine bunte Schar von verzweifelten Menschen, die die Nacht im Regen verbracht hatten. Welch furchtbares Elend! Alte Männer und junge Männer, sogar Knaben. Einige standen im Halbschlaf da, andere hatten sich in unbequemsten Stellungen rings auf den Steintreppen ausgestreckt, wo sie fest schliefen, während ihr nackter Körper aus Löchern und Rissen in ihren Lumpen guckte; und soweit man sehen konnte, war jede Treppenstufe in der ganzen Straße von zwei oder drei Menschen in Besitz genommen, die alle, den Kopf auf den Knien, schliefen. Und alles das, obwohl in England nicht gerade „schlechte Zeiten" waren. So pflegen die Verhältnisse zu sein, wenn die Zeiten weder gut noch schlecht sind.
Da zeigte sich der Schutzmann. „Willst du machen, daß  du weiterkommst, du verfluchtes  Schwein! Mach', daß du wegkommst!" Und er vertrieb sie wie Schweine aus allen Haustüren und zerstreute sie vor allen Winden in Surrey. Als er aber die Menge von Schlafenden sah, war er doch erstaunt und rief: „Das ist doch schrecklich! Und das an einem Sonntagmorgen! Ein schöner Anblick! Na! Uff! Weg mit dir, du verdammtes Biest!" — Gewiß war es ein schrecklicher Anblick. Auch ich fühlte mich empört. Ich hätte nicht gewünscht, daß die Augen  meiner  Tochter  es  gesehen  hätten; aber — ja, dieses „Aber" ist eigentlich alles, was man zu sagen weiß . . .
Der Schutzmann entfernte sich, und wir kehrten zurück, wir schwärmten um die Stelle wie Fliegen um einen Honigtopf, denn das Wunderbare, ein Frühstück, lockte uns. Wir hätten nicht eifriger und ausdauernder sein können, wenn Millionenscheine ausgestellt worden wären. Einige von uns waren schon wieder eingeschlafen, als der Schutzmann wiederkehrte; wir mußten also wieder fort, kehrten aber selbstverständlich um, sobald das Fahrwasser frei war.
Um halb acht wurde eine kleine Tür geöffnet, und ein Soldat der Heilsarmee steckte den Kopf heraus. „Ihr braucht die Straße nicht so zu versperren", sagte er. „Wer Marken  hat, kann jetzt hereinkommen, wer keine hat, erst nach neun." Ach, das Frühstück! Um neun Uhr! Noch anderthalb Stunden warten! Wie wir die beneideten, die Marken hatten. Sie wurden eingelassen, konnten sich waschen, sitzen und sich beim Frühstück ausruhen, während wir auf der Straße warten mußten. Die Marken waren am Abend zuvor auf den Straßen und der Themse-Promenade verteilt worden,  es  war  keine  Belohnung,  sondern  reiner Zufall, ob man eine erwischt hatte oder nicht. Gegen  halb  neun  wurden  weitere  Leute  mit Marken eingelassen, und um neun Uhr kam die Reihe an uns andere. Wir drängten uns hinein und standen bald darauf wie Heringe in einer Tonne auf einem kleinen Hofe. Mehr als einmal habe ich als „Tramp" für mein Frühstück arbeiten müssen, aber nie so schwer wie für dieses. Drei Stunden lang hatte ich  draußen  stehen müssen, und eine ganze Stunde mußte ich jetzt auf diesem überfüllten Hofe warten. Ich hatte die ganze Zeit nichts genossen, fühlte mich schwach und unwohl, und der Geruch des durchnäßten Zeugs und der schmutzigen Körper und der Dampf der eingeschlossenen tierischen Wärme, der mich umwogte, ließen die Eingeweide sich mir im Leibe drehen. Wir  standen  so  dicht  zusammengedrängt,  daß mehrere von den  Männern  die Gelegenheit benutzten, um im Stehen zu schlafen. Von  der  Heilsarmee  im  allgemeinen  weiß  ich nichts, und meine Kritik richtet sich nur gegen die kleine Abteilung des Heeres, die in der Blackfriar-Straße dicht beim Surrey-Theater ihre Tätigkeit ausübt. Zunächst muß ich sagen, daß es grausam ist, Menschen, die die ganze Nacht auf den Beinen gewesen  sind,  stundenlang  stehenzulassen.  Wir waren müde, ausgehungert und erschöpft von den Anstrengungen der Nacht und dem  Mangel an Schlaf, und da standen wir nun — standen und standen, ohne daß es einen Grund dafür gegeben hätte.
Es waren viele Seeleute in dieser Schar, und ich fand schließlich ein Dutzend Amerikaner unter ihnen. Die Amerikaner, die nicht Seeleute waren, waren „königliche Landstraßenritter", das heißt Männer, deren Kamerad der frische Wind ist und die durch die ganze Welt „trampen". Sie waren alle guten Mutes und nahmen die Dinge mit Humor, der ihr Hauptcharakterzug zu sein und sie nie zu verlassen scheint. Dennoch verfluchten sie dieses Land in düsteren Gleichnissen, die zu hören eine Wohltat war, wenn man einen ganzen Monat den phantasielosen, eintönigen Londoner Flüchen gelauscht hatte. Eigentlich hat der Londoner nur einen einzigen Fluch, den unanständigsten der ganzen Sprache, den er auf all und jeden anwendet.
Das Fluchen im Westen ist viel lebendiger und reichhaltiger, umfaßt die ganze Skala von Blasphemie bis zur Gemeinheit, und wenn Leute wirklich fluchen wollen, so ist mir Blasphemie immer noch lieber als Gemeinheit; sie schmeckt doch mehr nach Derbheit, Abenteurerlust und Trotz als die bloßen Unanständigkeiten. Einen von den amerikanischen „königlichen Landstraßenrittern" fand ich besonders amüsant. Ich hatte ihn zuerst in einer Haustür bemerkt, wo er schlief, den Kopf auf den Knien und mit einem Hut, wie man ihn diesseits des Atlantischen Ozeans selten sieht. Als der Schutzmann ihn wachrüttelte, erhob er sich langsam, sah den Schutzmann an, gähnte und rekelte sich, sah den Schutzmann wieder an, als wüßte er nicht, ob er gehen solle oder nicht, und schlenderte dann gleichgültig in eine Seitenstraße. Ich war mir gleich darüber klar gewesen, woher der Hut stammte, aber dies Benehmen verschaffte mir Sicherheit. Jetzt standen wir nebeneinander und unterhielten uns lebhaft. Er war durch Spanien, Italien und Frankreich gewandert und hatte das so gut wie unmögliche Kunststück fertiggebracht, dreihundert Meilen als blinder Passagier auf einer französischen Eisenbahn zurückzulegen, ohne an der Endstation gefaßt zu werden . . . Wo ich mich aufhielt? fragte er mich. Und wo ich ein bißchen Schlaf erwischte? Ob ich jetzt den Rummel richtig kennte? Er würde gut fertig, obwohl das Land „feindlich" sei und die Städte verschlossen wären. Sei das nicht furchtbar? Keine Möglichkeit, sich „durchzufechten", ohne „geschnappt" zu werden. Aber er ließe nicht locker. Jetzt käme die Truppe Buffalo Bills. Da müßte ein Mann, der acht Pferde fahren könnte, schon Beschäftigung finden. Die Kerle hier hätten ja keinen Begriff davon, mehr als ein Zweigespann zu lenken. Wie wäre es, wenn auch ich hierbliebe und auf Buffalo Bill wartete? Er sei sicher, daß ich mich schon irgendwie anbringen könne.
Blut ist  immer  dicker  als  Wasser. Wir waren Landsleute und beide Fremde in einem fremden Land. Mir war das Herz beim Anblick seines alten fettigen Hutes warm geworden, und er war so um mein Wohlergehen besorgt, als ob wir nahe Verwandte wären. Wir tauschten allerlei nützliche Erfahrungen über das Land und seine Bräuche sowie über die Art aus, wie man sich am besten Essen und Unterkommen verschaffen könnte; und als wir uns trennten, tat es uns beiden leid, daß wir Abschied voneinander nehmen mußten. Es war charakteristisch für diese wartende Schar, daß sie fast ausschließlich aus kleingewachsenen Menschen bestand. Sowohl die Einheimischen wie die fremden Seeleute waren klein. Ich bin nur mittelgroß, aber ich war doch größer als neun Zehntel von ihnen. In der ganzen Schar waren nur fünf oder sechs Menschen, die man groß nennen konnte. Und das waren Skandinavier und Amerikaner. Der allergrößte bildete jedoch eine Ausnahme.  Er war Engländer, allerdings kein Londoner. „Gardemaß", sagte ich zu ihm.
„Stimmt, Kamerad", antwortete er. „Da habe ich auch meine Zeit abgedient, und wie die Dinge stehen, sieht es aus, als würde ich bald dahin zurückkehren."
Eine ganze Stunde standen wir still zusammengedrängt auf diesem Hof. Dann begann es plötzlich unruhig zu werden, alle drängten vorwärts, und die Stimmen mischten sich zu einem leisen Summen. Dies war nicht etwa Brutalität oder Roheit, sondern nur die Ungeduld, die hungrige und müde Menschen fühlen mußten. Eben in diesem Augenblick zeigte sich der Adjutant. Er mißfiel mir gleich. Er hatte keine guten Augen. Er hatte nichts vom demütigen Galiläer, aber ein ganz Teil von Zenturio an sich, der sagte: Denn ich bin ein Mensch mit Macht und habe Knechte unter mir; ich sage zu ihnen: Geht, und sie gehen; und zu andern: Kommt, und sie kommen; und zu meinem Diener: Tue das, und er tut es.
Das war die Art, wie er uns betrachtete, und die ihm am nächsten standen, zitterten. Dann erhob er seine Stimme:
„Seid still! Oder ich zeige es euch! Dann könnt ihr ohne Frühstück abmarschieren." Ich vermag nicht die unbarmherzige Art zu schildern, wie er das sagte. Er schien mir in dem Bewußtsein zu schwelgen, daß er Macht besaß und zu tausend elenden Wracks sagen konnte: „Ihr werdet essen oder hungern, ganz wie ich es befehle." Uns  das  Frühstück  verweigern,  auf  das  wir stundenlang warteten! Das war eine grauenhafte Drohung. Die demütige Stille, die augenblicklich eintrat, bestätigte ihre Grausamkeit vollauf. Es war gleichzeitig eine feige Drohung. Wir konnten uns ja nicht wehren, denn uns hungerte. So war es ja stets in der Welt: Wenn ein Mensch einem andern Nahrung gibt, so ist er sein Herr. Aber der Zenturio — ich meine, der Adjutant — war noch nicht zufrieden. Durch die Stille ertönte seine Stimme, als er die Drohung noch kräftiger wiederholte.
Endlich durften wir in den Versammlungssaal eintreten, wo wir die vorfanden, die Marken gehabt hatten. Jetzt waren sie gewaschen, hatten aber immer noch nichts zu essen bekommen. Alles in allem müssen es wohl an siebenhundert Mann gewesen sein, die hier saßen, nicht, um mit Fleisch und Brot bewirtet zu werden, sondern um reden, beten und singen zu hören. Und ich fühlte, daß Tantalus seine Qualen diesseits der Hölle in vielen Verkleidungen leidet.
Der Adjutant sprach Gebete, aber ich beachtete sie nicht, weil das Bild von Elend, das ich vor mir hatte, mich ganz überwältigte. Aber der Hauptinhalt seiner Rede war ungefähr folgender: „Du wirst im Paradiese speisen, einerlei wie arm du bist und wie sehr du leidest. Im Paradiese wirst du zu Gaste geladen werden, wenn du den Worten der heiligen Schrift folgst." Und weiter in der Tonart.
Ich hielt es für eine ganz gute Propaganda, die nur aus zwei  Umständen nichts  nützte. Erstens waren die Menschen, die sie anhörten, ganz entblößt von Phantasie und ganz materiell in ihren Gedankengängen, ohne Sinn für das Unbekannte und in zu enger Berührung mit der Hölle hier auf Erden, um Angst vor der, die kommen sollte, zu fühlen. Zweitens ist es gar nicht Erlösung, sondern Essen, was müde, vom Unwetter der Nacht erschöpfte und aus Mangel an Schlaf elende Menschen bedürfen, wenn sie stundenlang gewartet haben, um ihren Hunger zu stillen. „Seelenfänger", wie die Armen alle religiösen Agitatoren nennen, sollten die physiologische Basis der Psychologie ein bißchen studieren, wenn sie etwas von ihrer Arbeit haben wollen.
Gegen elf kam das Frühstück, nicht auf Tellern, sondern in Papier eingewickelt. Ich bekam nicht so viel, wie ich gern gehabt hätte, und ich bezweifle, daß ein einziger bekam, was er gern bekommen hätte, oder auch nur halb soviel, wie er brauchte. Ich gab die Hälfte meines Brotes dem Tramp, der auf Buffalo Bill wartete. Und als er gegessen hatte, war er noch ebenso gierig wie zuvor. „Das ist also das Frühstück! Zwei Scheiben Brot, ein Krümchen Brot mit Rosinen, das Kuchen genannt wird, ein durchsichtiges Stückchen Käse und eine Tasse, verhextes Wasser'!" Viele von uns hatten seit fünf Uhr auf diese Bewirtung gewartet, keiner von uns weniger als vier Stunden. Als Zugabe hatte man uns wie eine Herde Schweine, wie in ein Faß verpackte Heringe, wie Verdammte behandelt und uns vorgepredigt und -gebetet, und das war noch nicht alles.
Kaum war das Frühstück verzehrt, und das ging fast schneller, als man es erzählen kann, als auch schon die müden Köpfe zu nicken und herabzusinken begannen, und im Laufe von fünf Minuten war die Hälfte von uns eingeschlafen. Kein Anzeichen ließ darauf schließen, daß wir hinausgelassen werden sollten, hingegen bereitete man eine Versammlung vor. Ich sah auf eine kleine Uhr an der Wand. Sie zeigte fünf Minuten nach halb zwölf. Wie die Zeit fliegt, dachte ich — und dabei muß ich auf die Arbeitssuche.
„Jetzt möchte ich gehen", sagte ich zu ein paar Kameraden neben mir.
„Du mußt bis nach dem Gottesdienst bleiben", lautete die Antwort.
„Habt ihr etwa Lust zu bleiben?" fragte ich. Sie schüttelten den Kopf.
„Dann laßt uns aufstehen und sagen, daß wir fort wollen", beharrte ich. „Kommt nur!" Aber die Ärmsten wagten es nicht. So überließ ich sie denn ihrem Schicksal und wandte mich an den nächsten Heilsarmee-Mann.
„Ich möchte gern gehen", sagte ich. „Ich kam, um etwas Frühstück zu bekommen und Kräfte für die Arbeitssuche zu sammeln. Ich dachte nicht, daß es so lange dauern würde. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit, in Stepney Arbeit zu bekommen, und je eher ich dort hinkomme, desto besser." Er war sicher ein braver Bursche, wenn ihn auch mein Wunsch sehr erstaunte. „Ach," sagte er, „jetzt haben wir gleich Gottesdienst, bleib lieber da." „Aber dann bekomme ich keine Arbeit", wandte ich ein. „Und Arbeit ist im Augenblick das wichtigste für mich."
Da er nur Gemeiner war, verwies er mich an den Adjutanten, und ihm wiederholte ich die Gründe, warum ich zu gehen wünschte, und bat ihn höflich, mich hinauszulassen.
„Nicht zu machen", sagte er, indigniert über eine solche Undankbarkeit. „Was für ein Einfall!" schnarrte er. „Was für ein Einfall!" „Heißt das, daß ich nicht hinauskommen kann, daß Sie mich gegen meinen Willen zurückhalten wollen?" fragte ich. „Ja!" zischte er.
Ich weiß nicht, was hätte geschehen können, denn jetzt begann ich zornig zu werden. Indessen hatten die „Speisenden" bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, und er zog mich deshalb in ein anderes Zimmer, wo er mich ersuchte, ihm zu sagen, warum ich gehen wollte.
„Ich will gehen," sagte ich, „weil ich versuchen will, in Stepney Arbeit zu bekommen, und mit jeder Stunde verringert sich meine Chance. Als ich kam, glaubte ich nicht, daß es so lange dauern würde, bis ich Frühstück bekäme." „Du hast also Geschäfte, was?" sagte er höhnisch. „Du bist Geschäftsmann, was? Warum bist du denn überhaupt gekommen?"
„Ich bin die ganze Nacht draußen herumgelaufen und brauchte ein bißchen Essen, um mich zu stärken, ehe ich auf die Arbeitsuche ging. Deshalb kam ich."
„Ja, das ist hübsch", fuhr er in demselben höhnischen Ton fort. „Ein Geschäftsmann kommt her und nimmt armen Leuten am Morgen das Frühstück weg. Das hast du getan." Ich wußte, daß das Lüge war, denn wer gekommen war, hatte auch Einlaß gefunden. Nun frage ich: War das christlich, war das ehrlich? Durfte er das — nachdem ich ihm deutlich erklärt hatte, daß ich obdachlos und hungrig war und Arbeit suchen wollte — mich einen Geschäftsmann nennen und dabei zu bleiben, daß ein Geschäftsmann wohlhabend sei und nicht nötig habe, Barmherzigkeitsfrühstück zu essen, und behaupten, daß ich dadurch einen hungrigen Arbeitslosen beraubt hätte, der keine Geschäfte machen könnte? Ich schluckte meinen Zorn hinunter, erklärte ihm jedoch die Sache noch einmal, wobei ich klar und deutlich seine Ungerechtigkeit betonte, wenn er die Dinge so auf den Kopf stellte. Da ich keine Nachgiebigkeit zeigte — ich glaube, meine Augen funkelten —, führte er mich nach der Rückseite des Gebäudes, wo auf einem offenen Hof ein Zelt stand. In demselben höhnischen Ton, in dem er die ganze Zeit gesprochen hatte, unterrichtete er einige Gemeine davon, daß hier ein „Bursche sei, der Geschäfte hätte und nicht zum Gottesdienst bleiben wollte".
Sie waren pflichtschuldigst erschüttert und sahen unbegreiflich entsetzt aus, als er ins Zelt trat, um den Major zu holen. Hierauf erklärte er diesem die Sache, immer in demselben höhnischen Ton und mit besonderem Nachdruck auf dem Worte Geschäfte. Der Major war ein ganz anderer Mensch. Er gefiel mir auf den ersten Blick, und ihm legte ich die Sache nochmals dar.
„Wußten Sie, daß Sie zum Gottesdienst bleiben mußten?" fragte er.
„Keineswegs," antwortete ich, „dann wäre ich lieber ohne Frühstück gegangen. Es ist hier weder ein Plakat darüber angeschlagen, noch hat es mir jemand gesagt."
Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Sie können gehen."
Es war zwölf Uhr, als ich auf die Straße trat. Ich war mir nicht recht klar darüber, ob ich von der Heilsarmee oder aus einem Gefängnis kam. Der halbe Tag war vergangen, und es war ein weiter Weg nach Stepney. Dazu war Sonntag, und warum sollte einer, selbst, wenn er hungrig war, Sonntags Arbeit suchen? Ich hegte ferner die Anschauung, daß ich mit dem Wandern in der Nacht eine harte Arbeit hinter mir hatte, und daß es ein schweres Stück Arbeit gewesen war, mir Frühstück zu verschaffen, weshalb ich mich von der Vorstellung befreite, daß ich ein notleidender junger Mann auf Arbeitsuche war, einen Omnibus anrief und aufsprang.
Als ich mich rasiert und gebadet hatte, legte ich mich vollkommen nackt in reine weiße Laken und schlief ein. Es war sechs Uhr abends, als ich die Augen schloß, und als ich sie wieder öffnete, war es Morgen, und die Uhr schlug neun. Ich hatte fünfzehn Stunden hintereinander geschlafen.
Und wie ich noch im Halbschlaf dalag, kehrten meine Gedanken zurück zu den siebenhundert Unglücklichen, die ich verlassen hatte, als sie auf den Gottesdienst warteten. Für sie gab es weder Rasieren, noch Bad, reine weiße Laken, völliges Entkleiden oder fünfzehnstündigen Schlaf. Wenn der Gottesdienst vorbei war, begannen sie wieder ihre Wanderung auf der Straße, in der Hoffnung, vor Abend eine Brotkruste zu finden, und dann folgte die lange, schlaflose Nacht, ohne Dach über dem Kopfe, in stummem Grübeln über das schwere Problem, wieder eine Brotkruste zu finden.


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12 - Der Krönungstag
« Antwort #14 am: 30.10.2006 16:26 Uhr »
12 - Der Krönungstag

Vivat Rex Eduardus! Sie haben heute einen König gekrönt, und es haben große Freude und völliger Blödsinn geherrscht Nie habe ich etwas gesehen wie diese Prozession — es müßte denn ein amerikanischer Zirkusaufzug gewesen sein. Nie habe ich etwas so Hoffnungsloses und Tragisches gesehen. Um Vergnügen von der Krönungsprozession zu haben, hätte ich von Amerika kommen, ins Hotel Cecil fahren und vom Hotel direkt auf einen Platz zu fünf Guineen unter feinen Leuten kommen müssen. Der Fehler, den ich beging, war, daß ich von den weniger feinen Leuten in East End kam. Es kamen übrigens nicht viele aus diesem Viertel. East End blieb in East End und betrank sich, Sozialisten, Demokraten und Republikaner zogen aufs Land hinaus, um frische Luft zu schöpfen, ganz unberührt von der Tatsache, daß vierhundert Millionen Menschen einen gekrönten und gesalbten Herrscher erhielten. Sechstausendfünfhundert Prälaten, Priester, Staatsmänner, Prinzen und Heerführer wohnten der Krönung und der Salbung bei, wir übrigen sahen die Prozession, als sie vorbeizog. Ich sah sie auf dem Trafalgar-Platz, „der prächtigsten Stätte Europas", dem Herzen des Kaiserreichs. Wir standen hier zu Tausenden, beherrscht und in Schach gehalten von einer stattlichen Entfaltung bewaffneter Macht. Den Weg der Prozession kennzeichnete eine doppelte Mauer von Soldaten. Der Sockel der Nelson-Säule war von einer dreifachen Reihe von Marinesoldaten umringt. Nach Osten dräute die königliche Marineartillerie. Die Statue Georgs III. an der Ecke der Pall Mall und Cockspur-Straße war auf allen Seiten von Ulanen und Husaren umzingelt. Im Westen sah man die Rotröcke der königlichen Marine, und vom Union Club bis nach Whitehall bildete die erste Leibgarde eine massive, glitzernde Linie — riesige Männer auf riesigen Gäulen, in stählernen Brustpanzern, stählernen Helmen und stählernen Schabracken, eine mächtige stählerne Waffe, bereit zum Gebrauch für den, der die Macht hat. Außerdem war die Menge von langen Reihen städtischer Polizei durchzogen, während die Reserve ganz im Hintergrund stand, hochgewachsene, wohlgenährte Männer, die kräftigen Arme bereit, die Waffe zu gebrauchen, wenn es nötig werden sollte.
Und wie auf dem Trafalgar-Platz, so war es auf der ganzen Linie — eine überwältigende Machtentfaltung, Myriaden von Männern, herrlichen Männern, den kräftigsten des ganzen Volkes, deren einzige Pflicht es war, zu gehorchen, blind zu gehorchen, blind zu töten und Leben zu vernichten und auszulöschen. Und um sie zu ernähren, zu kleiden und zu bewaffnen, und um Schiffe zu bauen, die sie nach dem andern Ende des Erdballs bringen konnten, mußte das East End Londons und ganz Englands sich abrackern, faulen und sterben.
Ein chinesisches Sprichwort sagt, daß für jeden Mann, der im Müßiggang lebt, ein andrer Hungers sterben muß; und Montesquieu hat gesagt: Der Umstand, daß viele Menschen damit beschäftigt sind, Kleider für einen einzigen anzufertigen, ist schuld daran, daß so viele Menschen Kleider entbehren müssen.
Wir können den notleidenden, verkrüppelten, mühsalbeladenen Bewohner East Ends, der mit seiner Familie in einem einzigen Zimmer wohnt und den Fußboden an andre notleidende, verkrüppelte, mühsalbeladene Menschen vermietet, nicht verstehen, ehe wir die gewaltigen Leibgardisten vom West End gesehen und erfahren haben, daß der eine den andern ernähren, kleiden und ihm dienen muß.
Und während das Volk in der Westminster-Abtei einen König erhielt, weilten meine Gedanken, als ich eingeklemmt zwischen der Leibgarde und den Schutzleuten auf dem Trafalgar-Platz stand, bei der Zeit, da das Volk Israel zum erstenmal einen König haben wollte. Wir wissen alle, was darüber geschrieben steht. Die Ältesten gingen zum Propheten Samuel und sagten: „Setze jetzt einen König über uns, um uns zu richten, wie es bei allen Völkern ist."

Aber Jehova sprach zu Samuel: Höre auf die Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir sagen. Denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie verworfen, daß ich nicht König über sie sein soll.

Da sprach Samuel alle Worte Jehovas zum Volke, das von ihm einen König forderte.

Und er sprach: Dieses wird die Weise des Königs sein, der über euch herrschen soll: eure Söhne wird er nehmen und wird sie auf seinen Wagen und zu seinen Reitern setzen, daß sie vor seinen Wagen herlaufen.

Und daß er sie setze zu Obersten über die tausend, und zu Obersten über fünfzig, daß sie seinen Acker ackern und seine Ernte schneiden und seine Kriegsgeräte und seine Wagengeräte machen. Und eure Töchter wird er nehmen zu Salbenmacherinnen und zu Köchinnen und zu Bäckerinnen.

Und eure besten Felder und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Knechten geben.

Und eure Knechte und eure Mägde und eure schönsten Jünglinge und eure Esel wird er nehmen und sein Geschäft damit treiben. Eure  Schafe  wird  er  zehnten;  und ihr  selbst werdet seine Knechte sein.

Da werdet ihr schreien an jenem Tage über euren König, den ihr euch gewählt habt, und Jehova wird euch nicht antworten an jenem Tage.

Was alles in alten Tagen geschah. Aber es kam der Tag, an dem das Volk zu Samuel sprach: „Führe alle deine Knechte zu Jehova, deinem Gott, daß wir nicht sterben; denn wir haben zu all unserer Sünde noch das Böse hinzugefügt, uns einen König zu verlangen." Und auf Saul, David und Salomon folgte Jerobeam, der dem Volk grausam antwortete: „Hat euch mein Vater ein schweres Joch aufgeladen, so will ich es noch schwerer machen. Hat euch mein Vater mit Peitschen gezüchtigt, so will ich euch mit Skorpionen züchtigen."

Und in unseren Tagen besitzen fünfhundert erbberechtigte Peers ein Fünftel von ganz England; und diese, sowie die Offiziere und Hofleute des Königs und die Machthaber im Reiche verbrauchen alljährlich für leeren Prunk 370 Millionen Pfund Sterling, das heißt zweiunddreißig Prozent der Gesamteinnahmen des Landes. In einem wunderbaren, goldgestickten Gewand, unter Fanfaren der Trompeten und donnernder Musik, von einer glänzenden Schar von Fürsten, Lords und Regenten umgeben, wurde der König mit seiner Herrscherwürde bekleidet. Die Sporen wurden ihm vom Großkämmerer an die Fersen geschnallt und das Staatsschwert in der Purpurscheide ihm vom Erzbischof von Canterbury mit folgenden Worten überreicht:

„Empfange dieses königliche Schwert, von Gottes Altar hierher gebracht und deinen Händen übergeben von den Bischöfen und Dienern des Herrn."
Worauf er, als es ihm umgeschnallt wurde, auf die Ermahnung des Erzbischofs hörte:

„Übe Gerechtigkeit mit diesem Schwert; gebiete der Ungerechtigkeit Halt, wo sie sich vordrängt, beschütze die heilige Kirche Gottes, hilf und verteidige Witwen und Waisen, errichte, was in Verfall geraten, bewahre, was errichtet, strafe und verhüte Unrecht und bestätige alles, was gut ist."

Aber hört! Wie sie in Whitehall rufen! Die Menge wogt, die doppelte Mauer von Soldaten wendet die Köpfe, und man erblickt die Vorreiter des Königs in phantastischen, mittelalterlichen Trachten aus rotem Stoff, ganz als sähe man den Vortrupp eines Zirkusaufzuges. Dann kommt ein königlicher Wagen mit Hofdamen und Kavalieren und mit prachtvoll galonierten Kutschern und Dienern. Mehrere Wagen mit Lords und Kammerherrn, Vicomtes, Hofdamen — alles Lakaien. Dann die Heerführer, eine königliche Eskorte, Generäle, dürr und sonnenverbrannt; aus allen Teilen der Welt sind sie hergekommen, Offiziere von Freiwilligenkorps, Miliz und regulären Truppen; Spens und Flumer, Broadwood und Cooper, der Cokiep entsetzte; Mathias von Dargay, Dixon von Vlakfontein, General Gaselle und Admiral Seymour von China; Kitchener von Khartum, Lord Roberts von Indien und der ganzen Welt — Englands große Krieger, die Herren der Vernichtung, die Ingenieure des Todes! Eine ganz andere Rasse von Menschen als die aus den Läden und Armenvierteln, eine ganz verschiedene Rasse.
Hier kommen sie in all ihrer Pracht und Machtfülle, immer mehr von diesen Männern aus Stahl, diesen Herren des Krieges, diesen Weltenbezwingern. Bunt durcheinander kommen Mitglieder des Oberhauses und Unterhauses, Prinzen und Maharadschahs,  Stallmeister  und Leibtrabanten  des Königs. Und dann kommen die geschmeidigen, abgehärteten Männer aus den Kolonien, und wieder alle Rassen der  ganzen  Welt —  Soldaten  aus Kanada, Australien,  Neuseeland;  von den Bermuda-Inseln, von Borneo, von den Fidschi-Inseln und  der  Goldküste;  aus  Rhodesien,  der  Kapkolonie, Natal, Sierra Leone und Senegambien, Nigeria und Uganda; aus Ceylon, Cypern, Hongkong, Jamaika und Wei-hai-wei; aus Lago, Malta, St. Lucia, Singapore und Trinidad. Und nun überwundene Stämme aus Indien, dunkle Reiter und Schwertschwinger, schauerlich barbarisch, mit flatternden karmoisinroten und scharlachnen Mänteln, Siks, Raipuths, Birmanen, Provinz auf Provinz, Kaste auf Kaste.
Und jetzt die reitende Garde, ein Schimmer von milchweißen Pferden und Panzerplatten; ein Orkan von Hurrageschrei, ein Donnern von Orchestern — — „Der König! Der König! Gott segne den König!" Eine Tollheit hat alle gepackt Auch ich fühle mich von der Stimmung angesteckt, auch ich fühle den Drang zu rufen: Gott segne den König! Zerlumpte Männer werfen mit Tränen in den Augen ihre Hüte in die Luft und brüllen begeistert: — Er lebe! Er lebe! Er lebe! Seht, da kommt er in der wunderbaren vergoldeten Karosse; auf seinem Haupt funkelt eine große Krone, und die weißgekleidete Dame neben ihm hat ebenfalls eine Krone auf dem Haupt. Und ich besinne mich und kämpfe mit mir, um mich zu überzeugen, daß dies Wirklichkeit und nicht ein Märchen ist. Es ist mir nicht möglich; und das ist wohl auch einerlei, denn ich will lieber glauben, daß diese Pracht und dieser Glanz, diese Herrlichkeit und naive Torheit, daß sie ein Märchen sind, lieber, als daß ich glaube, daß es die Schaustellung eines klugen und aufgeklärten Volkes ist, das sich zu Herren über den Stoff gemacht und das Rätsel der Sterne gelöst hat.
Prinzen und Prinzessinnen, Herzöge und Herzoginnen und zahllose Gekrönte aus dem königlichen Gefolge fahren vorbei — — wieder Krieger
und Lakaien und eroberte Völker — und dann ist der Zug zu Ende. Ich lasse mich mit der Menge in ein Labyrinth von engen Straßen treiben, wo die Wirtshäuser ein einziges Gebrüll von Trunkenheit sind. Männer, Frauen und Kinder ergeben sich der schamlosesten Völlerei. Und von allen Seiten ertönt, von trunkenen Stimmen gegrölt, der Gassenhauer des Krönungstages.

Es regnet in Strömen. Die Straße herab kommen die farbigen Hilfstruppen, schwarze Afrikaner und gelbe Asiaten, einige den Turban, andere den Fes auf dem Kopfe, die Kulis schwingen Maschinengewehre und Munition über den Köpfen; und all die bloßen Füße klatschen taktfest durch den Straßenschlamm. Wie auf Kommando entleeren sich alle Wirtshäuser, und die schwarzen Alliierten werden von ihren britischen Brüdern begrüßt, die gleich darauf wieder zu ihrem Gelage zurückkehren.
„Na, Kamerad! Wie hat dir die Prozession gefallen?" fragte ich einen alten Mann im Green-Park.
„Wie sie mir gefallen hat? Ich meine, sie hat uns eine verflucht gute Gelegenheit verschafft, ein bißchen Schlaf zu kriegen. Als die ganze Polente weg war, krochen ich und an fünfzig andere in die Winkel; aber ich konnte nicht schlafen, ich war hungrig und mußte daran denken, wie ich mein lebelang geschuftet habe und jetzt nicht weiß, wo ich meinen Kopf betten soll. Und dazu all die Musik und das Hurrageschrei und das Schießen; ich wurde fast Anarchist und hätte am liebsten diesem Oberkämmerer den Schädel eingeschlagen." Warum er gerade an den Oberkämmerer dachte, weiß ich nicht recht; er wußte es selbst wohl auch nicht, aber er tat es nun mal, und es war kein Anlaß, darüber zu streiten.
Als der Abend anbrach, wurde die Stadt ein Meer von Licht. Überall sah man strahlende Farben, grün, gelb, rot, und wohin man sah, leuchtete „E. R." mit großen Kristallbuchstaben im Schein der Gasfackeln. Die Menge auf den Straßen vermehrte sich um Hunderttausende, und obwohl die Polizei alle Ausschweifungen nach Kräften unterdrückte, machten sich doch Trunkenheit und Roheit überall bemerkbar. Die müden Arbeitstiere des Alltags schienen jetzt, als die Spannung ausgelöst war, vor Erregung toll geworden zu sein; sie rollten wie eine Woge durch die Straßen, tanzten, Männer und Weiber, alte und junge, in langen Reihen Arm in Arm und brüllten Lieder. Ich setzte mich auf eine Bank an der Themse-Promenade und blickte über den illuminierten Fluß hinaus. Es war beinahe Mitternacht, und vorbei strömten die besseren Leute, die sich amüsiert hatten und jetzt auf dem Heimweg die Straßen passieren mußten, wo der meiste Spektakel war. Auf der Bank neben mir saßen zwei zerlumpte Gestalten, ein Mann und eine Frau. Sie waren eingenickt. Die Frau hatte die Arme über der Brust gekreuzt und schauerte zusammen, während ihr Körper beständig hin und her schwankte, — erst nach vorn, daß es aussah, als ob sie fallen sollte, dann nach links, daß ihr Kopf fast auf dem Arm des Mannes ruhte, dann wieder nach rechts, und dann begann sie sich zu recken und zu strecken, bis die Schmerzen in ihren Muskeln sie weckten und sie aufrecht dasaß; dann sank sie wieder zusammen, bis Anstrengung und Schmerz sie wieder weckten.
Alle Augenblicke blieben einige Knaben und junge Menschen bei der Bank stehen, traten hinter sie und stießen plötzlich ein wildes Geheul aus. Das riß den Mann und die Frau jedesmal aus ihrem Schlaf heraus, und beim Anblick des nervösen Schmerzensausdrucks auf ihren Gesichtern stieß die Menge ein Gebrüll von Lachen aus.
Diese allgemeine Herzlosigkeit war auffallend; der Anblick der Obdachlosen auf den Bänken, dieser armen, elenden Menschen, die ganz ungefährlich sind, ist ja etwas ganz Alltägliches. Mindestens fünfzigtausend Menschen müssen die Bank passiert haben, während ich dort saß, und nicht einer von ihnen fühlte sich an diesem feierlichen Krönungstage des Königs so ergriffen, daß er zu der Frau ging und sagte: „Hier haben Sie Six-pence, suchen Sie sich eine Schlafstelle." Die Frauen, namentlich die jungen, machten Witze über das Nicken und brachten immer wieder ihre Begleiter zum Lachen.
Es war grausam. Ich gestehe, daß die Wut in mir zu kochen begann, als ich diese frohe Menge vorbeiströmen sah, und der Gedanke verschaffte mir eine Art Befriedigung, daß nach der Londoner Statistik von vier erwachsenen Menschen einer dazu bestimmt ist, auf öffentliche Kosten zu sterben, im Arbeitshaus, im Hospital oder in der Irrenanstalt.
Ich ließ mich in eine Unterhaltung mit dem Manne ein. Er war vierundfünfzig Jahre alt, ein verbrauchter Dockarbeiter. Er bekam nur Arbeit, wenn die Nachfrage nach Arbeitern groß war, sonst zog man jüngere und stärkere Leute vor. Er hatte jetzt eine ganze Woche auf den Bänken an der Themsepromenade geschlafen; die nächste Woche schien jedoch bessere Aussichten zu bieten, er hoffte, für ein paar Tage Arbeit zu erhalten, so daß er irgendwo ein Bett bekommen konnte. Er hatte sein ganzes Leben in London verbracht, mit Ausnahme von fünf Jahren, die er in Indien gedient hatte. Selbstverständlich wollte er gern etwas zu essen haben; und das wollte sie auch. Die Zeiten waren ungewöhnlich hart, und nur ausnahmsweise hatten die Schutzleute so viel zu tun, daß die armen Leute ein bißchen schlafen konnten. Ich weckte die Frau, die mir auf meine Frage erzählte, daß sie achtundzwanzig Jahre alt war. Dann standen wir auf, um ein Kaffeehaus zu finden.
„Welche Arbeit," sagte der Mann beim Anblick einiger Häuser, die besonders reich illuminiert waren, „all diese Lichter!" Darum drehte sich sein ganzes Dasein; er hatte sein ganzes Leben gearbeitet und konnte das ganze Universum wie seine eigene Seele nur nach dem einen Begriff „Arbeit" ermessen.
„Krönungen haben doch etwas Gutes", fuhr er fort „Sie geben einer Menge Menschen Arbeit." „Aber du hast doch einen leeren Magen", sagte ich. „Ja," antwortete er, „ich habe versucht, Arbeit zu bekommen, aber das Alter spricht gegen mich... Was arbeitest du? Du bist Seemann? Das konnte ich dir gleich an der Kleidung ansehen." „Und ich weiß, was du für ein Landsmann bist," sagte die Frau, „du bist Italiener." „Aber nein," rief der Mann eifrig, „er ist Yankee, das kann ich ihm ansehen."
„Herrgott, was ist denn das?" rief sie, als wir an den Strand kamen, entsetzt über den Anblick der lärmenden, tanzenden Krönungsschar von brüllenden Männern und singenden Mädchen. „Oha, wie ich schmutzig bin von dem Herumlaufen", sagte die Frau, als wir uns in einem Kaffeehaus gesetzt hatten. Und während sie sich Schlaf und Schleim aus den Augen rieb, sagte sie: „Den Anblick heute vergesse ich doch nie, und ich habe mich im stillen gefreut, wenn es auch ein schwerer Tag war. Und die Herzoginnen und Hofdamen hatten so herrliche weiße Kleider an. Wie schön sie waren — wundervoll!"
»Ich bin Irländerin," antwortete sie auf meine Frage, „aber ich bin in London geboren." Sie hatte ein glückliches Heim gehabt, bis ihr Vater durch einen Unfall ums Leben kam und sie plötzlich allein auf der Welt stand. Einer ihrer Brüder war Soldat, der andre schlug sich mühselig genug mit Frau und acht Kindern und einem Einkommen von zwanzig Schilling die Woche und unsicherer Arbeit durch. Ein einziges Mal in ihrem Leben war sie außerhalb Londons gewesen, da hatte sie irgendwo in Essex, zwölf Meilen von der Hauptstadt, Obst gepflückt. „Und als ich wiederkam, war ich direkt nußbraun", versicherte sie. „Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber es ist wahr."
Zuletzt hatte sie in einem Kaffeehaus Beschäftigung gehabt, wo sie von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends arbeiten mußte und dafür Kost und fünf Schilling wöchentlich erhielt. Dann war sie krank geworden, und seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie keine Arbeit wieder finden können.
Sie hieben tüchtig drein, die beiden, und erst als die Portionen, die sie zuerst verlangt hatten, verdoppelt und verdreifacht worden, waren sie satt. Einmal beugte die Frau sich über den Tisch, um den Stoff meiner Jacke und meines Wollhemdes zu befühlen, und machte eine Bemerkung über die guten Kleider, die die Yankees immer tragen. — Meine Lumpen gute Kleider!  Ich  schämte  mich ihrer; als ich sie aber genauer ansah und mit denen verglich, die der Mann und diese Frau auf dem Leibe hatten, begann ich mir direkt gut gekleidet und respektabel vorzukommen. „Was, glaubt ihr, wird das Ende sein?" fragte ich. „Ihr werdet doch mit jedem Tage älter." „Armenhaus", sagte er.
„Ich will verdammt sein, wenn ich das will", sagte sie. „Für mich gibt es nichts, ich weiß, daß ich auf der Straße sterben werde. Jedenfalls bedanke ich mich für das Armenhaus", schnaufte sie. „Wenn ihr nun so die ganze Nacht auf der Straße gegangen seid," fragte ich, „was macht ihr da, um etwas zu essen zu kriegen?"
„Wenn man keinen Penny hat, muß man sehen, einen zu erwischen", erklärte der Mann. „Dann in ein Kaffeehaus und eine Tasse Tee trinken." „Aber ich verstehe nicht, wie ihr davon leben könnt", wandte ich ein.
Das Paar lächelte vielsagend, und er fuhr fort: „Man trinkt den Tee in ganz kleinen Schlucken, daß er so lange wie möglich vorhält. Und dann paßt man auf, ob nicht jemand etwas hat liegenlassen." „Es ist kaum zu glauben, aber es gibt tatsächlich Leute, die etwas liegenlassen", warf die Frau ein. „Aber die Hauptsache," sagte der Mann nachdenklich, „daß man den Penny kriegt." Als wir aufgestanden waren, um zu gehen, suchte sie ein paar Brotkrusten von den umstehenden Tischen zusammen und stopfte sie irgendwo in ihre Lumpen.
„Man darf sie nicht umkommen lassen", sagte sie; und der Dockarbeiter nickte und steckte selbst ein paar Brotkrusten zu sich.
Gegen drei Uhr morgens ging ich die Promenade entlang. Es war eine herrliche Nacht für die Obdachlosen, denn die Polizei war anderweitig beschäftigt; und jede Bank war von schlafenden Gästen besetzt. Es waren ebenso viele Frauen wie Männer, und die meisten von ihnen waren alt. Hier und da sah man einen Knaben. Auf einer Bank sah ich eine Familie, einen Mann, der aufrecht dasaß, ein schlafendes Kind in den Armen, während seine Frau, den Kopf an seine Schulter gelehnt, schlief und auf ihrem Schoß ein zartes schlafendes Kind hielt. Der Mann saß mit weit aufgerissenen Augen da. In Gedanken verloren sah er über den Fluß hinaus. Es ist nicht gut, wenn ein Familienvater ohne Dach über dem Kopfe denkt. Es ist nicht angenehm, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen, denn das weiß ich, und das weiß ganz London, daß Arbeitslose, die Frau und Kinder töten, keine Seltenheit sind. Man kann nicht in früher Morgenstunde die Themse-Promenade entlang vom Parlamentsgebäude an der Kleopatrasäule vorbei nach der Waterloobrücke gehen, ohne an die Leiden zu denken, von denen vor siebenundzwanzig Jahrhunderten im Buche Hiob berichtet wurde: Man verrückt Grenzen, man raubt Herden und weidet sie.
Den Esel der Waisen treibt man fort; nimmt das Kind der Witwe zum Pfand.
Man stößt die Armen aus dem Wege; sämtlich verkriechen müssen sich die Bedrängten des Landes. Siehe! Wilden Eseln gleich ziehen sie in die Wüste aus, mühselig Nahrung suchend; die Wildnis gibt ihnen Unterhalt für ihre Kinder.
Auf dem Felde müssen sie ihr Mischkorn schneiden, und Nachlese halten in dem Weinberge des Bösen. Nackt übernachten sie ohne Kleidung, sind ohne Decke bei der Kälte.
Vom Regenguß der Gebirge durchnäßt, und ohne Zufluchtsort umarmen sie den Fels. Man reißt von der Brust den Waisen; und was der Arme über sich hat, nehmen sie als Pfand. Nackt gehen sie einher ohne Kleidung und müssen hungrig Garben tragen. — Siebenundzwanzig Jahrhunderte sind vergangen! Und doch ist heute noch alles wahr und treffend, heute im Herzen der christlichen Zivilisation, wo König Eduard VII. regiert.


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