Fakten zu einer Londoner Legende: Der Fall „Jack the Ripper“
geschrieben von: Ralf Julke am Montag, 27. März 2006
Im Leipziger Militzke Verlag ist frisch zur Buchmesse ein Werk erschienen, das das Zeug hätte, zum Standardwerk zu werden: „Jack the Ripper. Anatomie einer Legende“. Das erste von zwei deutschen Autoren geschriebene Buch zu einem Serienverbrechen, das 1888 das Londoner Eastend aufschreckte. Mindestens fünf Frauenmorde, die auf brutale Weise verübt wurden, machten das Thema Serientäter damals erstmals zu einer Sensationsgeschichte.
Zur Legende wurde die Geschichte aus verschiedenen Gründen. Der erste: Der Täter der so genannten Whitechapel-Morde wurde niemals gefasst. So konnten gerade in den Folgejahrzehnten die Theorien blühen, konnten Dutzende von Verdächtigen präsentiert werden, deren mögliche Täterschaft von so genannten Ripperologen heiß diskutiert wird. Ein zweiter Grund für die ins Kraut geschossenen Spekulationen ist die augenscheinlich schlechte polizeiliche Ermittlungsarbeit, flankiert durch das Verschwinden größerer Teile der Ermittlungsakten.
Was nicht bedeutet, dass die Londoner Polizei seinerzeit tatsächlich fassbaren Verdächtigen auf der Spur war. Kriminologische Untersuchungsmethoden, wie sie heute selbst in abendlichen Crime-Series die Spannung verstärken, gab es kaum. Und auch wenn sich die fünf „klassischen Ripper-Morde“ praktisch in einem Gassengewirr von nicht einmal einem Quadratkilometer Ausdehnung zutrugen, hatte es die völlig überforderte Metropolitan Police mit einem Londoner Viertel zu tun, in dem bis zu einer halben Million Menschen hauste. Unter elendsten Bedingungen hauste.
Das Eastend war verrufen. Es war der ärmste aller Stadtteile der Weltstadt, ein Viertel, in dem man strandete und selten wieder los kam. Wer ins Londoner Eastend geriet, tat alles, um die nötigsten Pennies für die Schlafstelle, das tägliche Essen oder Alkohol zu bekommen. Das Eastend war tatsächlich das Ende Londons. Und 1902, 14 Jahre nach den Morden, kam einer aus Amerika extra über den Teich, um sich in diesen Abgrund herabzulassen, ihn selbst zu erleben und später ein Buch darüber zu schreiben, das er einfach „The People of the Abyss“ nannte, „Die Menschen des Abgrunds“.
Der Bursche hieß Jack London. Und er wusste genau, dass er genau durch jene Gassen lief, in denen sich auch der „Schlitzer“ von 1888 bewegt hatte. Ein Mörder, der seinen Titel sehr wahrscheinlich dem Ulk eines Journalisten verdankte, der einen „Bekennerbrief“ mit „Jack the Ripper“ unterschrieb.
14 „Verdächtige“ listet das von Hendrik P. und Thomas Schachner geschriebene Buch auf - die namhaftesten und berühmtesten all jener Gestalten, die man verschiedentlich als mögliche Mörder der fünf oder mehr Frauen im Eastend verdächtigt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es keiner der 14 war, ist groß. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Metropolitan Police gar nicht in der Lage war, auch nur annähernd den Kreis möglicher Täter einzugrenzen und systematisch aufzuarbeiten, ist wesentlich höher.
Auch wenn die Mordserie die Gazetten der Welt beherrschte - es war immer eine Mordserie, die sich im ärmsten Stadtteil Londons abspielt. Das Eastend war - bei Tageslicht betrachtet - ein Ghetto. Und wenn manchem neuzeitlichen Kommentator das Wort „Dirnenmörder“ unterkommt, dann hat es mit der tristen Wirklichkeit der Frauen im 1888er Eastend nichts zu tun. Für Tausende von ihnen war Prostitution die einzige Möglichkeit, überhaupt zu überleben.
Jack London listet für 1902 Zahlen auf, die für 1,293 Millionen Londoner galten, die weniger als 21 Schilling die Woche für ihren Lebensunterhalt verdienten, das entsprach rund 5,25 Dollar. Und das in einer der reichsten Nationen der Erde. Es ist das gleiche „Kleinlondon“, durch das 1888 der Mann streifte, den man später immer den „Ripper“ nannte. Der sich seine Opfer suchte und leicht finden konnte, Frauen, die für ein paar Pennies verfügbar waren.
Die Mord-Serie riss im Herbst 1888 ab. Niemand weiß warum. Doch Generationen von Ripperologen versuchen seitdem, das Rätsel zu lösen, verdächtigen einmal „königsnahe Kreise“, amerikanische Quacksalber, deutschstämmige Maler. Freuen sich über jedes neue Indiz, jede auftauchende Spur im Nebel.
Thomas Schachner selbst arbeitet an der internationalen Ripper-Website casebook.org mit, hat ein eigenes deutschsprachiges Webportal zu den Whitechapel-Morden ins Netz gestellt und erfreut sich dort wachsender Besucherzahlen. Gemeinsam mit Hendrik P. hat das umfangreiche Material für das erste Buch auf dem deutschen Markt zusammengestellt, das der Legende von „Jack the Ripper“ versucht, möglichst objektiv nachzuspüren, die Taten und die Ermittlungen zu schildern und allen Pros und Kontras zu den „üblichen Verdächtigen“. Es bietet keine neue Story nach dem Motto „Der ist es!“ Es bietet einen fast kriminologischen Blick auf das vorhandene Material, wertet auch neuere Quellen aus.
Was dabei - so nebenher - deutlich wird, ist das Elend des Eastends, ist die Armut der ermordeten Frauen, ist auch ein Blick in eine Welt, die - 100 Jahre nach Jack Londons „Abgrund“ - wieder zur Wirklichkeit einer globalisierten Gesellschaft wird. Die Eastends tauchen auch in Europas Städten wieder auf. Und die Serienmörder lösen einander ab auf den Titelseiten der Zeitungen. Die Polizei kommt ihnen viel häufiger auf die Schliche und ihr Ruhm ist kürzer und glanzloser als der des Namenlosen, der 1888 durch die Whitchapel High Street strich, das Messer unterm Umhang, auf Frauen-Jagd.
Möglicherweise war er genauso langweilig, charakterlos und jämmerlich wie all diese „Ich hab es doch nicht gewollt“-Figuren, die heute vor die Augen der Kameras geraten und für die flotte Schreiber noch immer gern das Wort „blutrünstig“ verwenden, sie zu „Rippern“ und „Schlitzern“ stilisieren, als wären Mörder die finsteren Anti-Helden einer sonst lichten Gesellschaft.
Aber weder Mörder sind so, noch ist die Wirklichkeit so, in der sie agieren. Die „Jack the Ripper“-Story ist auch eine Story aus der Frühzeit des Boulevard-Journalismus - mit vielen falschen Spuren und Zeugenaussagen. Auch die werden von den Autoren zitiert, womit das Feld bereitet ist für alle, die miträtseln wollen über einen Kriminalfall, der Geschichte schrieb.
Info: Hendrik P./Thomas Schachner „Jack the Ripper. Anatomie einer Legende“, Militzke Verlag Leipzig 2006, 18 Euro
www.militzke.dehttp://www.jacktheripper.de