Autor Thema: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?  (Gelesen 76738 mal)

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Re: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?
« Antwort #90 am: 03.03.2019 15:24 Uhr »
Hallo Arthur!

Ich vergleiche hierbei in erster Linie, wie normale Mitmenschen Menschen mit Psychosen oder den klassischen Psychopathen begegnen bzw. ihn bezüglich solcher Verbrechen einschätzen. Die meisten Menschen stehen solchen Personen ganz einfach gegenüber. Du selber wirst einen Psychopathen gar nicht erkennen können, ein Mensch mit einer akuten Psychose schon eher. Wenn er unter keinen akuten Schub leidet, wirst Du ihn genauso wenig erkennen, wie den Psychopathen. Dazu kommt, wie individuell jeder von Psychosen betroffene Mensch lebt, welche Persönlichkeitsstruktur er besitzt. Ein ohnehin von Natur aus zurückgezogener Mensch, wird nicht so auffallen, wenn er sich noch weiter zurückzieht, ein temperamentvollerer Mensch, wird mit seinem plötzlichen Zurückziehen mehr Aufmerksamkeit erregen. Viele werden Menschen mit Psychosen eher wechselhaft und launisch erleben. So etwas zeigen auch Menschen ohne größere psychische Belastungen. Ein Einzelgänger wie Jack the Ripper, ein Mann mit einer Psychose, der unter grausamen Verstümmelungsfantasien leidet (etwas was fast 100% der Menschen mit einer solchen Erkrankung nicht tun), kann diese durchaus für andere sichtbar werden lassen. Aber für wen? Für Menschen mit denen er eng lebt und vielleicht für Kollegen aber für Menschen, die er zwischen Wohn- und Arbeitsort täglich begegnet, für Menschen, die er nachts beim Umherwandern trifft, bleibt es verborgen. Für solche Menschen ist es egal, ob sie Jack the Ripper treffen oder Ted Bundy. Bei beiden verbindet sie niemand automatisch mit derartigen Verbrechen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt dieser fortschreitenden Erkrankung, wird es auch für andere auffälliger. Aaron Kozminski zeigte uns das in den Jahren 1890/91 durch sein Verhalten auf der Straße. Hat er das bereits im Herbst 1888 gezeigt? Ich denke nicht, denn dort wird ein Kosminski als ruhig und harmlos beschrieben. Und das meinte ich, für Außenstehende wird Kosminski nicht viel anders gewirkt haben als ein gesunder Mensch oder ein klassischer Psychopath. Nur der engste Personenkreis könnte etwas bezüglich der Verbrechen bemerkt haben. Hat er beispielsweise Bilder mit verstümmelten Frauen gezeichnet und darüber onaniert und ist dabei von einem Familienmitglied erwischt worden, hätte das seine heimliche Fantasie verraten und ihn mit den Verbrechen in Verbindung gebracht. In Anderson´s hinterlassenen Unterlagen fand man einen einzigen Hinweis auf die Whitechapel Morde und das war der Crawford Brief indem eine Frau um seine Hilfe bittet.

Im ersten Serienkiller Profiling von Dr. Bond lesen wir 1888 folgendes:

10. The murderer must have been a man of physical strength and of great coolness and daring. There is no evidence that he had an accomplice. He must in my opinion be a man subject to periodical attacks of Homicidal and erotic mania. The character of the mutilations indicate that the man may be in a condition sexually, that may be called satyriasis. It is of course possible that the Homicidal impulse may have developed from a revengeful or brooding condition of the mind, or that Religious Mania may have been the original disease, but I do not think either hypothesis is likely. The murderer in external appearance is quite likely to be a quiet inoffensive looking man probably middle aged and neatly and respectably dressed. I think he must be in the habit of wearing a cloak or overcoat or he could hardly have escaped notice in the streets if the blood on his hands or clothes were visible.

11. Assuming the murderer to be such a person as I have just described he would probably be solitary and eccentric in his habits, also he is most likely to be a man without regular occupation, but with some small income or pension. He is possibly living among respectable persons who have some knowledge of his character and habits and who may have grounds for suspicion that he is not quite right in his mind at times.

The murderer in external appearance is quite likely to be a quiet inoffensive looking man probably middle aged and neatly and respectably dressed… He is possibly living among respectable persons who have some knowledge of his character and habits and who may have grounds for suspicion that he is not quite right in his mind at times.

Nur engste Menschen um ihn herum, hätten das Glück haben können, einen stärkeren Schub und derartige Fanatsien wahrnehmen zu können, manchmal. Und dieses Verhalten eben mit den Morden in Verbindung zu bringen. Ansonsten könnte er eben wie ein normaler Mensch gewirkt haben oder eben auch wie ein Psychopath.

Sherlock, was Aaron Kozminski tat, war die Bedrohung seiner Schwester mit einem Messer. Wir wissen nicht, wann das war und welche Umstände dazu beitrugen.
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Offline Arthur Dent 2

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Re: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?
« Antwort #91 am: 03.03.2019 16:37 Uhr »
Zitat
Ich vergleiche hierbei in erster Linie, wie normale Mitmenschen Menschen mit Psychosen oder den klassischen Psychopathen begegnen bzw. ihn bezüglich solcher Verbrechen einschätzen.
(...)
Die meisten Menschen stehen solchen Personen ganz einfach gegenüber. Du selber wirst einen Psychopathen gar nicht erkennen können, ein Mensch mit einer akuten Psychose schon eher.
(...)
Wenn er unter keinen akuten Schub leidet, wirst Du ihn genauso wenig erkennen, wie den Psychopathen.


Genau das habe ich damit ja gemeint: Dass der Durchschnittsbürger einen Psychopathen i.d.R. gar nicht erkennt, während man bei einem Mensch mit einer Psychose durchaus auffälliges Verhalten bemerkt, wenn man ihn nicht zufällig nur in seinen guten Phasen – also zwischen den psychotischen Schüben – antrifft.
Es ging mir ja nicht um zufällige Begegnungen, sondern - wie ich explizit schrieb – um sein Umfeld.

Der Psychopath bleibt vor der Welt verborgen, weil er sich selber „die Maske der Gesundheit“ aufsetzt, weil er sich bewusst die ganze Zeit über tarnt, bis er (i.d.R. ohne Zeugen) zuschlägt.
Ein Mensch mit einer Psychose hat aber eben in seinen psychotischen Schüben Phasen, in denen weder Selbst- noch Weltwahrnehmzung adäquat funktionieren, und so kann er nicht wie der Psychopath gegenüber den anderen kontinuierlich eine Fassade der Normalität wahren.

Auf diesen Unterschied wollte ich hinaus, und daher halte ich das Beispiel Ted Bundy für nicht gut gewählt, weil Bundy als voll zurechnungsfähiger Psychopath jederzeit die volle Kontrolle über sich hatte und diese Kontrolle auch die ganze Zeit über durch bewusste Manipulation auf sein Umfeld ausübte.

Da wäre m.E. wohl z.B. eher Ed Gein als Vergleich geeignet, der nach dem Tod seiner Mutter jeden Halt verlor und immer weiter psychisch abdriftete, und dessen krankhafte Entwicklung vor allem deshalb unbemerkt blieb, weil er ein absoluter Einzelgänger war.


MfG, Arthur Dent

Offline Lestrade

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Re: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?
« Antwort #92 am: 03.03.2019 17:30 Uhr »
Ich habe ganz bewusst zwei völlig unterschiedliche Typen von Serienkillern gegenübergestellt, um aufzuzeigen, dass es überhaupt nicht einfach ist, beide mit ihren Taten in Verbindung zu sehen. Bei jemand wie Ted Bundy ist das nahezu unmöglich. Du kannst mit ihm zusammenleben und nichts bemerken. Du kannst auch mit Jack the Ripper zusammenleben und über seine Probleme wissen aber ab welchen Punkt bringst Du ihn mit Morden in Verbindung? Im Gegensatz zu Ted Bundy, zeigt er psychische Auffälligkeiten, manchmal ist er stark depressiv, du siehst, wie er mit sich selbst redet, hast den Eindruck, er sieht etwas was nicht da ist. Aber außerhalb dieser Zeiten ist er ganz normal. Wenn es ihm nicht gut geht, schaffst Du es ihn in eine Einrichtung zu bringen. Wir reden ja auch von 1888, da konnte keiner die Apothekenrundschau lesen oder Google befragen. Menschen hatten eben so etwas. Solange es ging, hat man es akzeptiert. Aaron Kozminski soll ja schon 6 Jahre lang, von 1885 an, Symptome gezeigt haben. Jeder Patient hat seine eigene Geschichte mit seiner Krankheit, er unterliegt einem Prozess, an dem sein Umfeld teilnehmen muss. Natürlich wird das von Jahr zu Jahr schlechter und war damals unbehandelbar. Seine möglichen Tötungsabsichten, seine möglichen Verstümmelungsfantasien, wird man in seinem Falle jahrelang nicht bemerkt haben. Wer kommt auch auf so etwas? Und dann bist Du wieder bei Ted Bundy, warum soll er das alles getan haben? Das war, was ich meinte. Als Angehöriger hast Du keinen Grund sie mit solchen Verbrechen in Verbindung zu bringen. Egal ob äußerlich gesund oder mit Phasen, an denen jemand psychische Probleme zeigt. Warum sollte jemand der vor sich hinmurmelt oder Schatten sieht, Frauen töten und verstümmeln? Wo ist der Zusammenhang zwischen dem und Leichen auf der Straße? Es gibt erst einmal keinen. Aber seine Familie könnte etwas an ihm während der Mordserie, erst dann, bemerkt haben, dass ein Zusammenhang zu den Verbrechen bestehen könnte. Ein Beispiel habe ich geschildert. Die Wahrscheinlichkeit etwas zu entdecken, ist bei Tätern wie Jack the Ripper höher als bei Ted Bundy Typen. Als Angehöriger kommst Du dann, wenn du etwas bemerkt hast, ins Grübeln. Du machst dir Gedanken. Du verdrängst zunächst vielleicht, bis du erkennst, dass neben seiner Erkrankung auch noch etwas anderes im Background existiert. Plötzlich siehst Du das und all deine Erfahrungen mit ihm in einem anderen Licht. Das meinte ich, dass der Groschen bei jemand wie Aaron Kozminski erst nach und nach fiel. Bei der Familie und eventuell auch bei der Polizei. Für die war dieser Mann vielleicht etwas bekloppt manchmal aber ansonsten ruhig und harmlos, genau wie der klassische Psychopath keinen Grund zu einer wirklichen Verdächtigung für sie gegeben hätte.

Ich denke, es ist ein Fehler zu glauben, dass man nach den Morden an Nichols und Chapman einfach durch die Straßen gehen und auf Kosminski mit den Finger zeigen und sagen konnte: Sein ganzes Verhalten zeigt den Whitechapel Mörder, verhaften! Er hatte zunächst keinen Nachteil gegen den Bundy Typ. Aber die Zeit, dass jemand etwas bemerkt und einschätzt kam näher. Und das ist das, was ich denke, das es passiert ist. Aber an diesem Punkt musste man erst einmal kommen. Ich denke nicht, dass Kosminski der Typ war, den die Menschen noch die Polizei erwartet hatten, was immer sie auch erwartet hatten, vor, während oder nach der Mordserie. Ich denke, Jack the Ripper war eine arme Sau, der dabei war, den Verstand zu verlieren und das auch dann recht schnell geschah. Sein Fall ist letztendlich ganz einfach und er nicht spektakulär. Diese mögliche Einfachheit irritiert viele Interessierte. Die Ted Bundy Morde waren ein unvergesslicher Fall eines “großen“ Mannes, der ja fast genial war. Ihn wären wir alle auf den Leim gegangen, faszinierend. Der Jack the Ripper Fall ist eine gewaltiges Stück Geschichte eines “kleinen“ Mannes, den wir alle beim Bäcker ans Ende der Schlange geschubst hätten. Ted Bundy haben die Leute die Schuhe gebunden, Jack the Ripper hätte den Leuten die Schuhe gebunden. 
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Offline Arthur Dent 2

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Re: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?
« Antwort #93 am: 03.03.2019 18:16 Uhr »
Zitat
„Ich habe ganz bewusst zwei völlig unterschiedliche Typen von Serienkillern gegenübergestellt, um aufzuzeigen, dass es überhaupt nicht einfach ist, beide mit ihren Taten in Verbindung zu sehen.“

Nun ja, das ist ja bei vielen Verbrechern so, dass ihre Untaten nicht in ihrem Gesicht zu lesen sind. Aber ich verstehe jetzt, worauf du hinauswillst.

Du weist allerdings selber auf einen entscheidenden Unterschied hin, um den es mir ging:

Zitat
„Er hatte zunächst keinen Nachteil gegen den Bundy Typ. Aber die Zeit, dass jemand etwas bemerkt und einschätzt kam näher.“


Solange seine Erkrankung noch nicht soweit fortgeschritten war, konnte man ihn noch als einen der „normalen“ Irren ansehen, von denen es in den Straßen ja nur so wimmelte.
Aber je schwerer seine Psychose wurde, desto auffälliger wurde er natürlich – denn damals glaubte man ja noch weithin, dass so „kranke“ Taten wie die von JTR nur von einem kranken Menschen begangen werden könnten. Dass auch „normale“, „gesunde“ Menschen solche Taten vollbringen könnten, war in der damaligen Zeit nur schwer zu glauben.
Daher hat die Öffentlichkeit ja auch die Augen aufgehalten nach Menschen, die irgendwie negativ auffielen, und die Polizei hat die Irrenanstalten überprüft.

Dabei wissen wir heute, dass die weitaus meisten Gewalttaten von Menschen begangen werden, die keine psychische Erkrankung haben. Selbst für die üblen Verstümmelungen wie bei JTR würde es theoretisch ausreichen, ein Sadist zu sein und/oder eine Agenda zu haben (z.B. die Prostituierten abzuschrecken, um die Straßen „sauber“ zu bekommen).

Allerdings glaube auch ich, dass JTR ein psychotischer Täter war. Insbesondere wie schnell und extrem er eskalierte, deutet für mich auf Kontrollverlust durch fortschreitende Erkrankung hin.

Zitat
„Jack the Ripper war eine arme Sau, der dabei war, den Verstand zu verlieren und das auch dann recht schnell geschah.“

Ja, das war. er wohl.


MfG, Arthur Dent


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Re: Kosminski´s Abgang u. die Einstellung seitens der Polizei?!?
« Antwort #94 am: 03.03.2019 19:02 Uhr »
Ja, Arthur! Natürlich hat man den Irren erwartete aber vor allem Irre, denke ich, die bereits offen Gewaltpotential gezeigt haben. Man kennt ja das Gesamtverhalten und den Zustand für Aaron Kozminski nicht für 1888. Da unterschied er sich vielleicht von den erwarteten Irren bzw. Typen wie Charles Ludwig. Tumblety lief wohl auch nicht über diese Kategorie, Koslowski später auch nicht. So ganz 100%ig schien mir die Polizei nicht festgelegt gewesen zu sein. Das der Ripper immer mehr die Kontrolle verlor, scheint mir auch so. Ich denke, Du wirst mit mir übereinstimmen, dass eine paranoide Schizophrenie beim Ripper ja nicht die Ursache der Tötungsserie darstellte. Sie bestimmte nur enorm sein Verhalten in dieser Zeit mit, egal ob nun ein starker oder schwächerer psychotischer Schub aktuell war oder gar keiner. Die manifestierten Tötungs- und Verstümmelungsfantasien hatten ihren Ursprung sicherlich woanders. Ohne diese Erkrankung hätte er anders bei seinen Taten agiert. Natürlich, denke ich, hätte er Bilder seiner Taten auch vor sich gesehen, wo sie gar nicht da sein konnten. Das wäre als ob das nur vom Gehirn nach außen projiziert wurde. Ähnlich bei Stimmen, die ihm eventuell befahlen, es wieder zu tun. Gedanken, die außerhalb seines Denkens eine Tonspur bekamen. Aber vielleicht wäre er auch ohne diese Erkrankung nicht zum Täter geworden. Man weiß es vielleicht nicht wirklich. Das meinte ich mit meiner Aussage, ob er wirklich zurechnungsfähig war. Das seine Erkrankung doch am Ende der Auslöser zum handeln war aber eben nicht die Ursache, dass es soweit kam. Vielleicht auch eine Art Mittelding, teilweise unzurechnungsfähig. Er hätte ja diese pervertierten sexuellen Fantasien haben können, hätte er sie aber ohne die Schizophrenie auch umgesetzt? Wer weiß, was noch so eine Rolle spielte. Richard Trenton Chase hatte noch die irre Vorstellung, wenn er das Blut seiner Opfer trank, gesund zu werden. Dennoch waren seine Handlungen sexuell motiviert. Alles ist vielleicht ein riesiges Konvolut in einer irren Parallelwelt. Und ob darin wirklich etwas existiert, was auf ein mögliches, zurechnungsfähiges und ausreichendes Handeln hinweisen könnte. Wäre da ein Unterscheiden zwischen Richtig und Falsch möglich, wie es bei jemand wie Bundy möglich gewesen wäre? Wo kann man da eine Grenze ziehen? Ich weiß es nicht.
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