Jack the Ripper - Tatverdächtiger Aaron KosminskiIm Fall der Ripper-Morde wurde ein
Kosminski sowohl von Polizeichef Macnaghten als auch vom leitenden Ermittler Swanson als Hauptverdächtiger genannt - jedoch verzichteten beide auf die Angabe seines Vornamens, so dass zunächst unklar war, welchen "Kosminski" sie meinten.
Chief Constable Sir Melville Macnaghten stellte Kosminski als einen der drei Hauptverdächtigen in seinem am 23. Februar 1894 verfassten offiziellen polizieiinternen Memorandum vor (das allerdings erst 1959 öffentlich bekannt wurde). Und Chief Inspektor Swanson notierte in seinem persönlichen Exemplar von Assistant Commissioner Robert Andersons Memoiren zu dem Verdächtigen, den die Polizei überwachte und der schließlich in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde: "Dieser Verdächtige war Kosminski."
Durch die Recherche des Ripperologen Martin Fido wurde 1987 in den Unterlagen des "Colney Hatch Lunatic Asylum" schließlich ein Aaron Kosminski gefunden.
Bevor die o.g. Quellen mit dem Namen Kosminski gefunden wurden, waren lediglich allgemeine Informationen über einen polnischen Juden als Verdächtigen öffentlich bekannt. So schrieb Major Arthur G.F. Griffiths in seiner Reihe "Mysteries of Police and Crime" 1898 ohne Namensnennung von "a Polish Jew, a known lunatic who was at large in the district of Whitechapel at the time of the murders and who (...) was confined to an asylum" (Mysteries of Police and Crime, by Arthur G.F. Griffiths, 1898, vol. 1, London: Cassell).
Darüber hinaus schrieb der Londoner Journalist George Sims über den "Polish Jew suspect" und gab weitere Details zu dem Verdächtigen bekannt, darunter die Information, dass er zeitweise in einem polnischen Hospital gearbeitet habe (Lloyd’s Weekly News, 22. September 1907).
Erst mit der Veröffentlichung von Macnaghtens Memo und dem Fund der Swanson-Marginalien konnte eine Verbindung des "Polish Jew suspect" mit dem Namen Kosminski vorgenommen werden, und Ripperologen begannen Aaron Kosminskis Leben zu rekonstruieren.
1865: Aaron Kosminskis GeburtAaron Kosminski wurde in Osteuropa, entweder in Russland oder dem vom Zarenreich annektierten Polen, geboren - höchstwahrscheinlich als Aron Mordke Kozminski am 11. September 1865 in Kłodawa, Kongresspolen.
Mit seiner Herkunft erfüllt Kosminski einen wesentlichen Aspekt in den frühesten öffentlichen Beschreibungen des Verdächtigen im Ripper-Fall von Griffith und Sims, die beide in unmittelbaren Kontakt zur Führungsebene der Polizei standen, und von einem polnischen Juden sprachen.
1881/1882: Emigration nach LondonVermutlich um den antisemitischen Pogromen in Osteuropa zu entgehen, emigrierte Aarons Familie mit dem jungen Mann über Deutschland nach London ins Eastend.
Wann genau er seine Heimat verließ, ist unklar. Der Ripperologe Robert House: "It is not clear exactly when Aaron and his extended family left the Pale. It was certainly after 1880, and before 1882. I would argue that the pogroms in March 1881 caused the Kosminskis to decide to emigrate west. This was the case for hundreds of thousands of Jews who decided to emigrate west after the pogroms."
http://www.casebook.org/dissertations/robhouse-kosminski.html
Nähe zu den OpfernSoweit bekannt, wohnte Aaron bei seinen Verwandten, die in der Zeit der Morde bis zu Aarons Einweisung in die psychiatrische Anstalt "Colney Hatch Lunatic Asylum" am 7. Februar 1891 im Eastend von London lebten, nicht weit von den Tatorten entfernt:
Bruder Isaac Abrahams: Juni 1886 – Mai 1891 Greenfield Street 74.
Schwester Matilda und Schwager Morris Lubnowski: Dezember 1885 – Februar/März 1891 Greenfield Street 16.
Bruder Woolf Abrahams: Mitte 1887 bis Oktober / November 1888 Providence Street 25, vor März 1889 bis nach Mai 1889 Yalford Street 34 (gegenüber der Greenfield Street), im Sommer 1890 dann Sion Square 3 / Mulberry Street - diese Heimatadresse wird auch für Aaron bei seiner vorübergehenden Einlieferung ins "Mile End Old Town Workhouse" am 12. Juli 1890 angegeben.
Damit wohnte die Familie zur Zeit der Morde innerhalb der
Comfort Zone des Rippers. Sowohl für die zeitgenössischen als auch die modernen Ermittler war JTR mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Einheimischer mit guter Ortskenntnis, was es ihm ermöglichte, sich schnell und unauffällig zu bewegen und die Polizeistreifen zu meiden, um bei seinen Taten und auf der Flucht nicht erwischt zu werden und relativ schnell von der Straße zu verschwinden.
Robert House schreibt in seinem geographischen Profil:
"First, it is interesting to note that 3 of the murder sites are almost precisely equidistant from Sion Square: Buck's Row, Hanbury Street, and Dorset Street. Eddowes murder occurred about 1/4 mile further out. Also note that the Berner Street site and George Yard are also almost equidistant from the center of the circle. The Tabram site, however is closest. This is also significant as the FBI reports in Warren et al 1995 that the first attack in a serial homicide was likely to occur closest to the offender's home."
http://www.casebook.org/dissertations/robhouse-kosminski.htmlInteressant sind auch die Umzugsaktivitäten der Familie:
Woolf Abrahams zog irgendwann im Zeitraum des Double Event von der Providence Street (wenige Meter vom Stride-Tatort entfernt) in die Yalford Street, wahrscheinlich sogar kurz danach. Er nahm jedenfalls nach dem Double Event seine Tochter von der Schule in der Berner Street und meldete sie an einer anderen an. Schließlich zog er erneut um in den Sion Square 3 (vielleicht gab es dazwischen auch noch vorübergehend eine andere Unterkunft).
Die Geschwister Isaac und Matilda zogen 1891 aus der Greenfield Street weg, kurz nachdem Aaron am 7. Februar 1891 in die psychiatrische Anstalt "Colney Hatch Lunatic Asylum" eingeliefert worden war.
Diese zeitliche Folge der Ereignisse lässt einen Zusammenhang mit Aaron plausibel erscheinen.
Fachliche Kenntnisse im Umgang mit Klingen In den Akten der Nervenheilanstalt wird als Beruf von Kosminski Haarschneider angegeben, seine Brüder Woolf und Isaac waren Schneider, sein Schwager Morris Lubnowski Stiefelmacher und sein Verwandter Jacob Cohen sogar Metzger. Darüber hinaus soll der "Polish Jew Suspect" als Jugendlicher laut dem Journalisten George Sims in Polen vorübergehend in einem Hospital gearbeitet haben - als was ist allerdings unklar.
Damit hätte Aaron Erfahrung in dem Umgang mit Klingen (Scheren, Messern) gehabt und könnte möglicherweise auch etwas von medizinischen Eingriffen mitbekommen haben. Darüber hinaus hatte er mit Jacob Cohen einen Metzger als Verwandten, und seine Familie hatte vermutlich auch Bekannte im Eastend, die Metzger waren.
Ausgeprägte psychische ProblemeBereits 1885 wurde Kosminski dem Ripperologen Donald Rumbelow zufolge das erste Mal als psychisch krank diagnostiziert (so steht es auch in dem Aufnahmeformular der psychiatrischen Anstalt "Colney Hatch Lunatic Asylum" von 1891). Dies soll sich in Halluzinationen und paranoiden Wahnvorstellungen geäußert haben, und hatte zur Folge, dass Aaron schließlich bis zu seiner Einweisung in die Psychiatrie keiner geregelten Arbeit mehr nachging.
Ein Auslöser könnte gewesen sein, dass er als Jugendlicher Zeuge der Pogrome geworden war. Robert House: "So assuming Aaron was still in the Pale in March 1881, he would have witnessed these violent attacks in person. This would have had a severly damaging effect on Aaron, both psychologically and emotionally. It is likely that he witnessed violent acts, destruction of property, and possibly even murder and rape."
Aber auf Aaron Kosminski trafen laut Ripperologe Robert House noch mehrere zusätzliche Faktoren zu, die von Fallanalysten überdurchschnittlich häufig in der Jugend von Serienmördern zu finden sind und eine entsprechende psychopathologische Entwicklung befördern.
Typisch für das Profil eines Sexualmörders sind nach dem Buch "Sexual Homicide, Patterns and Motives" der Profiler Robert K. Resseler, Ann W. Burgess, and John E. Douglas folgende Erfahrungen während der Kindheit und Jugend:
- Fehlen eines stabilen Zuhauses und sozialen Umfelds, häufiges Umziehen
- Fehlender Vater / wechselnde Bezugspersonen
- Anhaltende Erfahrungen von Feindseligkeit / Ablehnung
- Erfahrungen sexueller Gewalt
- Zwanghaftes Masturbieren
- Unstetige Arbeitsverhältnisse
Der allgegenwärtige Antisemitismus und die Pogrome (dabei möglicherweise auch Fälle sexualisierter Gewalt), das Auswandern und ständige Umziehen der Familie, seine Geschwister als Ersatzeltern, die den schwierigen Jungen untereinander hin und her schoben, möglicherweise obsessive Selbstbefriedigung (laut Macnaghten) und seine Unfähigkeit, geregelter Arbeit nachzugehen - damit treffen wesentliche Gefährdungsaspekte bei Aaron zu und er erfüllt die meisten Risikofaktoren im Profil eines künftigen Serienmörders.
Ein einziges Hauptmerkmal fehlt: Über eine frühe Delinquenz Aarons ist bisher nichts bekannt.
Die MordserieDienstag, 7. August 1888: Martha Tabram im George YardTabram wurde im Treppenhaus des George Yard Buildings 37 vermutlich das erste Opfer von JTR.
Tabram war auf einer Kneipentour mit ihrer Bekannten Mary Ann Connely ("Pearly Poll") und zwei Soldaten. Gegen 0 Uhr trennten sich die Pärchen um Sex zu haben, Connely ging mit dem Corporal zur Angel Alley, und Tabram verschwand mit dem Private in den George Yard.
Gegen 1.40 Uhr stieg das Ehepaar Elizabeth und Joseph Mahoney das Treppenhaus zu ihrem Zimmer hinauf und sah nichts. Auch als Elizabeth Mahoney es kurz darauf wieder durchquerte, um in einem Shop in der Thrawl Street etwas zu Essen zu kaufen, lag Tabram noch nicht da.
Tabram wurde mit einem Stich ins Herz getötet und mit insgesamt 39 Messerstichen in Brust und vor allem Unterleib traktiert. Sie lag auf dem Rücken, ihre Kleider waren hochgeschoben und ihre Beine gespreizt, ebenso wie bei den kanonischen Ripper-Opfern.
Gefunden wurde die Leiche auf dem Absatz des ersten Stocks gegen 4.45 Uhr durch Bewohner John Saunders Reeves, nachdem bereits Bewohner Alfred George Crow gegen 3.30 Uhr Tabram für einen schlafenden Obdachlosen gehalten hatte. Damit muss die Tatzeit zwischen 1.45 Uhr und 3.30 Uhr liegen. Reeves suchte eine Polizeistreife und fand Constable Thomas Barrett auf seiner Runde.
Der Soldat dürfte wohl der Letzte gewesen sein, der Tabram lebend gesehen hat, konnte aber weder von "Pearly Poll" noch von Constable Barrett bei Gegenüberstellungen identifiziert werden, obwohl letzterer auf seiner Streife durch die Wentworth Street gegen 2 Uhr einen Private der Grenadier Guard am Nordende des George Yard stehen sah und ihn ansprach. Der Private sagte dem Polizisten, er warte auf einen Kameraden, der mit einem Mädchen unterwegs sei, darauf ging Barrett weiter seine Streife, bis er drei Stunden später von Reeves zum Tatort gerufen wurde.
Der unbekannte Soldat könnte also den Mord verübt haben, dennoch war er aber wahrscheinlich nicht der Täter: Rund zwei Stunden für Sex mit einer älteren, unattraktiven Prostituierten an einem öffentlich zugänglichen Ort erscheint doch ein ziemlich langer Zeitraum. Wenn sie so lange im Treppenhaus von Nr. 37 gewesen wären, wäre wohl auch das Ehepaar Mahoney oder ein anderer Bewohner auf beide gestoßen.
Zudem hätte ein blutbefleckter Mörder wohl kaum in unmittelbarer Nähe des Tatorts auf seinen Kameraden gewartet und so entspannt auf Polizist Barrett reagiert. Barrett jedenfalls kam nichts an ihm und seinem Verhalten verdächtig vor.
Wahrscheinlicher ist, dass sich Tabram nach 1.45 Uhr noch mit einen anderen Mann - eben dem Ripper - in den George Yard zurückgezogen hat.
Erkenntnissen der modernen Kriminologie zufolge stammt das erste Opfer eines Serientäters oft aus seinem näheren räumlichen Umfeld.
Tabrams letzte bekannte Adresse war Satchell's Lodging House in der George Street, und die Kneipentour endete vor den George Yard Buildings.
Die Adressen von Aaron Kosminski, Sion Square 3 / Mulberry Street (falls er 1888 schon dort wohnte), und seiner Familie in der Greenfield Street 16 und 74 liegen nur rund 200 bzw. 300 Meter oder etwa 2-4 Minuten Fußweg von beiden Orten entfernt.
Freitag, 31. August 1888: Marie Ann Nichols in der Buck's RowNichols übernachtete zuletzt im White House Nachtasyl in der Flower and Dean Street 56.
Gegen 2.30 Uhr wurde Nichols zuletzt lebend gesehen von ihrer Bekannten Emily Holland an der Ecke Osborn Street / Whitechapel High Street, fast einen Kilometer vom Tatort entfernt, bevor sie betrunken auf der Whitechapel Road weiter Richtung Osten wankte.
Bis ca. 3.20 Uhr kamen nacheinander die Polizisten Neil, Thain und Kirby auf ihren Runden durch die Buck's Row, ohne etwas Verdächtiges zu sehen.
Gegen 3.45 Uhr fanden dann Charles Andrew Cross und Robert Paul auf ihrem Weg zur Arbeit die Leiche von Nichols vor einem verschlossenen Tor (vermutlich hatte der Täter vergeblich versucht, mit ihr in den Hof zu gelangen). Die Tatzeit muss also zwischen 3.20 Uhr und 3.45 Uhr betragen.
Cross war als erster und allein am Tatort, bis Paul kurz darauf dazustieß. Somit könnte Cross der Täter gewesen sein, zumal die Informationen zu seinen Zeitangaben nicht stimmen können: Er gehe gewöhnlich gegen 3.30 Uhr von zuhause los, sagte er aus, habe diesmal aber sogar zehn Minuten früher das Haus verlassen. Von seiner Adresse in der Doveton Street bis zum Tatort brauchte man aber gerade mal 10 Minuten - es fehlt eine ganze Viertelstunde. Zudem liegen alle Tatorte JTRs auf den Wegen zwischen der Wohnung von Cross, seiner Arbeit als Fleisch-Auslieferer in der Broad Street und dem Wohnort seiner Mutter in der Berner Street.
Allerdings hätte Cross, als er die Schritte von Paul hörte, einfach nach Westen verschwinden können, ohne erkannt zu werden, statt auf ihn zu warten: Es sind rund 100 Meter vom östlichen Ende der Buck's Row bis zum Tatort und es war noch dunkel. Bis zu den Querstraßen im Westen als Fluchtwege sind es nur wenige Meter. Stattdessen wartete er auf Paul, wies ihn erst auf den am Straßenrand liegenden Körper hin und ging mit Paul einen Polizisten suchen.
Außerdem lebte er noch mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Morde als unbescholtener und gesunder Bürger weiter. Daher war Cross wohl eher nicht der Ripper.
Die Ecke Osborn Street / Whitechapel High Street ist nur rund 100 Meter von Kosminskis Adresse Sion Square 3 / Mulberry Street bzw. 200 Meter von der Adresse seiner Familie in der Greenfield Street entfernt. Darüber hinaus ging Nichols nach Osten, kam also direkt an den Einmündungen auf die Hauptstraße vorbei, die Kosminski genutzt hätte.
Der Tatort Buck's Row ist nur etwa 400 bis 500 Meter oder 5-7 Minuten Fußweg von beiden Adressen entfernt.
Interessant ist, dass sich laut den Polizeiakten und in der Presse (5. bis 10. September) schon nach diesem Mord ein Gerücht bildete und umging, ein gewisser "Leather Apron" solle der Täter gewesen sein. Nach dem Chapman-Mord (s.u.) geriet dann der aus Polen stammende jüdische Schuhmacher John Pizer vorübergehend unter Verdacht, der diesen Spitznamen getragen haben soll.
Parallelen zu Kosminski sind vorhanden: auch er war ein polnisch-stämmiger Jude, und sein Schwager Morris Lubnowski war Bootmaker. Der keiner regelmäßigen Arbeit nachgehende Aaron könnte zeitweise für seinen Schwager tätig gewesen sein.
Samstag, 8. September 1888: Annie Chapman in der Hanbury StreetChapman verbrachte ihre letzten Nächte in der Crossingham's-Unterkunft in der Dorset Street 35.
Gegen 1.50 Uhr verließ sie das Asyl Richtung Norden in die Brushfield Street.
Gegen 5.30 Uhr am frühen Morgen wurde Chapman zum letzten Mal lebend gesehen, und zwar von der Zeugin Elizabeth Long. Unmittelbar vor dem Tatort in der Hanbury Street 29 nur etwa 300 Meter vom Asyl entfernt soll sie laut Longs Aussage mit einem Freier gesprochen haben: "Willst du?" - "Ja."
Long beschreibt den Verdächtigen wie folgt: Knapp 40 Jahre alt, etwas größer als Chapman, dunkler Mantel und tief ins Gesicht gezogener dunkler Hut, fremdländisches Aussehen.
Etwa zur selben Zeit geht Albert Cadosch aus dem Nachbarhaus Nr. 27 in seinen Hinterhof zur Toilette, als er danach ins Haus zurück will, hört er vom Hof nebenan zunächst ein leises "No" und wenige Minuten später bei seinem Aufbruch zur Arbeit etwas gegen den Zaun stoßen.
Gegen 6 Uhr wurde Chapmans Leiche im Hinterhof vom Bewohner John Davies entdeckt.
Die Tatzeit liegt also zwischen 5.30 Uhr und 6 Uhr, und die Zeugin Long hat damit wohl den Ripper bei Chapman gesehen.
Laut Zeugenaussagen der Anwohner soll einige Zeit vor dem Mord auch schon ein Unbekannter im Hinterhof genächtigt haben. Dies könnte einfach ein Obdachloser gewesen sein, der nichts mit der Tat zu tun hatte - oder es war der nachts umherstreifende Ripper, der so einen guten Ort für seine nächste Tat gefunden hatte. Kosminski soll in seinem geistigen Verfall durch die Straßen gestrichen sein und könnte auch in Hinterhöfen genächtigt haben.
Da die Tatzeit bereits nahe der beginnenden Morgendämmerung und dem wieder einsetzenden "Berufsverkehr" in den Straßen liegt, hatte JTR nicht viel Zeit, aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, bevor es richtig hell wurde.
War Kosminski der Ripper: Der Tatort ist rund 700-800 Meter oder etwa 8-10 Minuten Fußweg von den Wohnadressen seiner Familie entfernt.
Was nicht zu passen scheint, ist das von Zeugin Long geschätzte Alter des Verdächtigen: Kosminski war erst 23 Jahre. Aber vielleicht sah er durch die drei Jahre Krankheit älter aus. Zu den Verdächtigen, die von den Zeugen zuletzt bei den Ripper-Opfern gesehen wurden, gab es jedenfalls stark differierende Altersangaben von etwa 30 bis rund 40 Jahre.
Sonntag, 30. September 1888: Nacht des Double EventMord an
Elizabeth Stride in der Berner Street 40/42, etwa 45 Minuten später an
Catherine Eddowes auf dem Mitre Square.
Stride übernachtete bis zu ihrem Tod im Armenasyl in der Flower and Dean Street.
Zwischen 0.35 und 0.45 Uhr sahen mehrere Zeugen (Polizist William Smith, Anwohner James Brown, Zeuge Israel Schwartz) Stride mit einem Mann in der Nähe des Berner Street Clubs. Beschrieben wird er übereinstimmend als knapp 1,70 groß, etwa 30 Jahre alt, heller Teint, Schnauzbart, dunkler Mantel und Schirmmütze. Polizist Smith bemerkte zudem ein Päckchen in seiner Hand.
Der aus Norden von der Commercial Road vorbeikommende Israel Schwartz will sogar eine Auseinandersetzung wahrgenommen haben, weswegen er schnell weitergegangen sei, sagte er später der Polizei. Der Mann habe die Frau am Tor zum Dutfields Yard zu Boden geworfen, die Frau habe kurz aufgeschrien. Als er zurückgeblickt habe, sei gerade ein anderer Mann mit einer Pfeife aus dem nahen Pub gekommen und es habe eine kurze verbale Auseinandersetzung mit dem Verdächtigen gegeben, bis der Verdächtige "Lipski" gerufen habe. Da sei der andere auf Schwartz zugegangen und Schwartz sei aus Angst weggelaufen.
Gegen 1 Uhr dann wurde Strides Leiche vom Verwalter des Clubs, Louis Diemschütz, im Torweg des Dutfield Yard neben dem Club gefunden. Im Gegensatz zu den anderen Opfern wurde ihr nur die Kehle durchgeschnitten, aber offenbar wegen der Störung durch die Zeugen keine Verstümmelungen des Unterleibs mehr vorgenommen.
Als plausibelste Interpretation dieser Szene scheinen Schwartz und der Mann mit der Pfeife mitten in den Angriff des Rippers hineingeplatzt zu sein. Weil Schwartz schon auf der Flucht war, als der Pfeifenraucher auf die Straße kam, tat der Mörder offenbar so, als sei er ein unschuldiger Helfer und konnte den anderen Mann mit dem Ausruf "Lipski" davon überzeugen, dass der nach Süden flüchtende Schwartz der Angreifer gewesen sei, so dass "Pipeman" die Verfolgung von Schwartz aufnahm (leider konnte "Pipeman" nie identifiziert werden).
Lipski war ein Jude aus der Parallelstraße Batty Street, der 1887 wegen Mordes verurteilt worden war - und sein Name war in antisemitischen Kreisen zum Schimpfwort gegen Juden im allgemeinen und zum Synonym für Mörder im speziellen geworden.
Indem der Mörder den einen Zeugen so auf den anderen hetzte, konnte er vom Tatort (vermutlich über die Passage zur Batty Street - s.u.) schließlich nach Norden in die Commercial Road fliehen.
Er wollte angesichts der Beinahe-Entlarvung mit ziemlicher Sicherheit zuerst zu seinem Versteck zurück - und dies führte ihn Richtung Norden.
War Aaron Kosminski der Ripper, so könnte sein Ziel Sion Square 3 / Mulberry Street, oder die Adresse seiner Familie in der Greenfield Street gewesen sein, nur rund 200 oder 300 Meter bzw. 3-4 Minuten Fußweg nach Norden.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sein Bruder Woolf Abrahams Anfang der 1880er neben dem Dutfields Yard gewohnt hatte, so dass Aaron den Hinterhof gut gekannt haben könnte, auch als Platz für Schäferstündchen mit Prostituierten. Ebenso dürfte Aaron die Geschichte des Lipski-Mordes gekannt haben.
Da JTR sein eigentliches Ziel - die Verstümmelung - bei Stride nicht mehr umsetzen konnte, suchte er jedenfalls, als er sich wieder sicher fühlte, schließlich ein weiteres Opfer.
Eddowes und ihr Mann John Kelly lebten überwiegend im Armenhaus "Cooney's" in der Flower und Dean Street 55.
Gegen 1 Uhr wurde Eddowes aus der Ausnüchterungszelle der Polizeistation Bishopsgate Street entlassen und ging Richtung Süden, höchstwahrscheinlich die Houndsditch entlang zurück zur Aldgate High Street, wo sie den frühen Abend verbracht hatte.
Gegen 1.30 Uhr checkte Constable Edward Watkins auf Streife den Mitre Square, ohne etwas Verdächtiges festzustellen.
Etwa um diese Zeit verließen Joseph Lawende, Harry Harris und Joseph Hyam Levy den Imperial Club, Duke Street, schräg gegenüber der Church Passage zum Mitre Square, und sahen einen Mann und eine Frau am Eingang der Passage in einem leisen Gespräch.
Der Zeuge Lawende beschrieb den Mann wie folgt: Etwa 30 Jahre alt, knapp 1,70 Meter groß, blasser Teint, heller Schnauzbart, durchschnittlicher Körperbau, graue Jacke, graue Stoffkappe und rötliches Halstuch, sah wie ein Seemann aus (wobei aber Seemänner selten "blassen Teint" haben).
Gegen 1.35 Uhr ging Constable James Harvey durch die Church Passage und schaute in den dunklen Mitre Square, sah jedoch nichts und kehrte auf seine Runde zurück.
Gegen 1.45 Uhr kam Constable Edward Watkins von der anderen Seite (Mitre Street) wieder durch den Hauptzugang in den Mitre Square und entdeckte beim Herumleuchten mit seiner Lampe die tote Eddowes in einer dunklen Ecke liegen.
Laut Inspector Robert Sagar von der City Police soll ein Polizist kurz zuvor gesehen haben, wie ein Mann aus der Mitre Street in östliche Richtung verschwand. Aufgrund der Sichtung dieses Mannes liefen anschließend Polizisten durch Gravel Lane und Stoney Lane, um Hinweise auf den Fluchtweg des Mörders zu finden - dieser Weg führt in die Middlesex Street und weiter in die Goulston Street.
Einer davon war Detective Constable Daniel Halse, der mit zwei Kollegen gegen 1.55 Uhr an der Ecke Houndsditch bei St. Botolph's Church stand und aufgrund der Alarmierung in den Mitre Square kam. Nachdem Halse Instruktionen zur Befragung der Anwohner gegeben hatte, eilte er zuerst in die Middlesex Street und, weil er dort niemanden sah, weiter in die Wentworth Street, wo er zwei Passanten überprüfte. Gegen 2.20 Uhr checkte er die Goulston Street, um nach vergeblicher Suche zum Mitre Square zurückzukehren.
Gegen 2.55 Uhr schließlich fand Constable Alfred Long auf seiner Runde ein Stück der blutigen Schürze von Eddowes im Hauseingang der Wentworth Dwellings 108-119, Goulston Street. Darüber an der Wand stand mit Kreide der Satz: "Die Juden sind die Menschen, die nicht grundlos beschuldigt werden." Long zufolge soll die Schürze auf seiner vorherigen Runde gegen 2.25 Uhr noch nicht dort gelegen haben. Ob das antisemitische Graffiti zuvor schon da gewesen war, wusste er nicht.
Die Strecke zwischen Berner Street und Mitre Square beträgt auf direktem Weg rund 1000 Meter oder etwa 12-15 Minuten Fußweg.
War Kosminski der Ripper, hätte er damit vor dem Eddowes-Mord sogar einen Zwischenstopp zuhause einlegen können.
Die Strecke vom Mitre Square zur Goulston Street beträgt nur rund 500 Meter oder 6-7 Minuten.
Entweder haben die Polizisten Halse und Long die Schürze gegen 2.25 Uhr übersehen, oder JTR hat sich zeitweise in einer Zuflucht versteckt, bevor er sie ablegte. Ein Umweg von rund einer dreiviertel Stunde durch die Straßen voller alarmierter Polizisten ist eher unwahrscheinlich - daher dürfte die Rückzugsmöglichkeit des Rippers in unmittelbarer Nähe gewesen sein.
Falls Kosminski der Ripper war: Der Fluchtweg führt in Richtung von Aarons Heimatadressen. Die Strecke bis zur Adresse Sion Square 3 / Mulberry Street beträgt etwa 1000 Meter, die Adresse seiner Familie in der Greenfield Street etwa 1100 Meter.
Aber vielleicht hatte Kosminski auch eine andere, nähere Rückzugsmöglichkeit...
Der Batty Street-ZwischenfallNach dem Stride-Mord entdeckte in der Batty Street 22 die Vermieterin und Wäscherin Mrs. Kuer in einem Wäschestapel, der ihr von einem Kunden abgegeben worden war, ein blutiges Hemd. Das Haus war vom Tatort in der Berner Street unmittelbar über eine schmale Passage schräg gegenüber der Einfahrt zum Dutfields Yard durch die Hinterhöfe zu erreichen.
"The police then called on Mrs. Kuer and took possession of the shirt and set up surveillance on the house for when the man returned. The matter was considered of considerable importance by Inspector Reid, Inspector Abberline and other senior officers.
The man returned on Saturday, 13 October, and was promptly taken into custody where he was held for about 36 hours until the morning of the 15th. The blood was explained by a friend who got it on the shirt while cutting his corn. It obviously took quite a while to satisfy the police, but eventually they believed the incident had an innocent explanation."
http://forum.casebook.org/showthread.php?p=339051 Der Vorfall bleibt mysteriös: Die Polizei hielt ihn für verdächtig genug, um den Kunden immerhin 36 Stunden lang festzuhalten und zu verhören. Leider ist nicht bekannt, wer dieser Kunde war.
Es besteht die Möglichkeit, dass es ein Familienangehöriger Aarons war, der die Wäsche abgab, da die Familienangehörigen nur rund 100 Meter (Providence Street) bzw. 200 Meter (Greenfield Street) von Mrs. Kuer weg wohnten.
Polizei-Razzia im Oktober: Die Polizei führte in den folgenden Wochen (3.-18. Oktober) in der Umgebung des Mitre Square und der Berner Street Haus-zu-Haus-Befragungen durch. Der stellvertretende Polizeipräsident Robert Anderson schrieb, dass man alle Männer des Viertels überprüft habe, die den Zeugenaussagen entsprachen und sich blutbefleckter Kleidung entledigen konnten.
Interessanterweise folgte nach dem Double Event die längste Pause zwischen den Ripper-Morden von fast sechs Wochen. Ursache dafür könnte der Ermittlungsdruck durch die Behörden gewesen sein, was für die Annahme spricht, dass die Polizei durch ihre Ermittlungen dem Ripper näher kam, so dass er vorerst pausieren musste, bis die polizeilichen Aktivitäten in seinem Umfeld wieder zurückgingen. Möglich ist auch, dass die Angehörigen von JTR zum ersten Mal Verdacht schöpften und nun begannen, ihn intensiver zu beaufsichtigen.
Da Aarons Brüder Woolf und Isaac Schneider waren, gab es in der Familie wahrscheinlich immer genug Kleidungsstücke zum Wechseln. Und wenn Aaron sich in schlechten Phasen seiner zunehmenden psychischen Erkrankung sowieso öfter mal gehen ließ, dürfte er wohl auch regelmäßig frische Kleidung gebraucht und bekommen haben, so dass Aaron als Ripper anfangs nur wenig Probleme mit dem Ersetzen blutverschmierter Sachen gehabt haben dürfte, ohne dass es besonders auffiel - zumindest bis zum Batty Street-Zwischenfall mit dem Fund des blutigen Shirts bei Mrs. Kuer.
Freitag, 9. November 1888: Mord an Mary Jane Kelly im Miller's CourtKelly verließ in ihrer letzten Nacht mehrmals ihr Zimmer im Miller's Court, Dorset Street 26, und kehrte mit verschiedenen Freiern wieder dorthin zurück, nachdem sie den frühen Abend mit ihrem Exfreund Joseph Barnett verbracht hatte.
Gegen 23.45 Uhr sah ihre Nachbarin Mary Ann Cox, wie Kelly mit einem Kunden auf ihr Zimmer ging. Zwischen 0.30 Uhr und 1 Uhr hörten Cox und Nachbarin Catherine Picket sie singen.
Ihre Nachbarin Elisabeth Prater kehrte gegen ein Uhr zurück, wartete erst 20 Minuten vor dem Eingang zum Court auf ihren Freund und ging, als er nicht kam, noch für zehn Minuten in McCarthys Laden nebenan. Gegen 1.30 Uhr stieg sie die Treppen zu ihrem Zimmer direkt über Kellys hinauf, ohne dort Licht zu sehen oder etwas zu hören, und ging zu Bett.
Der Zeuge George Hutchinson, ein Bewohner des Victoria Home in der Commercial Street, ging am 12. November zur Polizei und sagte aus, dass er seine Bekannte Mary Jane Kelly am 9. November gegen 2 Uhr in der Commercial Street getroffen habe.
Kurz darauf sei sie mit einem Kunden an ihm vorbei zurück auf ihr Zimmer gegangen. Weil der Mann sein Gesicht vor ihm habe verbergen wollen, sei er beiden gefolgt und habe rund eine dreiviertel Stunde den Hof beobachtet, jedoch ohne etwas Verdächtiges wahrzunehmen. Gegen 3 Uhr sei er schließlich gegangen.
Hutchinson beschrieb den Mann als etwa Mitte 30, knapp 1,70 Meter groß, blasser Teint, dunkle Augen und Haare, dünner gezwirbelter Schnurrbart, jüdisches Erscheinungsbild, mürrisches Aussehen, dunkler Mantel, dunkler Hut, kleines Päckchen in seiner Hand.
Sarah Lewis, die gegen 2.30 Uhr zu ihrer Bekannten Mrs. Keyler im Miller's Court ging, um dort zu übernachten, sah gegenüber dem Hofeingang einen Mann stehen - dabei handelte es sich vermutlich um Hutchinson.
Zwischen 3.15 Uhr und 3.45 Uhr hörten sowohl Lewis wie auch Elizabeth Prater einen leisen, unterdrückten Schrei vom Hof her: "Mord!"
Gegen 6.15 Uhr hörte Nachbarin Marie Ann Cox Schritte im Hof und sah dort einen Mann Mitte 30 mit dunkler Kleidung (schränkt jedoch ein, es könnte auch ein Polizist gewesen sein).
Gegen 7.30 Uhr klopfte Nachbarin Catherine Picket an Kellys Tür, um sich einen Schal zu leihen, aber nichts regte sich.
Gegen 10.45 Uhr wurde Kellys Leiche von Hausverwalter Thomas Bowyer entdeckt, der die Miete eintreiben sollte.
Theoretisch könnte Hutchinson der Täter gewesen sein, der nach dem Verschwinden des Kunden gegen 3 Uhr selbst zu Kelly ging - nur: warum hätte er dann bei der Polizei auftauchen und sich mit dem Geständnis seines "Stalkings" verdächtig machen sollen? Inspektor Abberline hielt ihn für glaubwürdig.
Plausibel wäre aber, dass der von Hutchinson beschriebene Kunde nach 3 Uhr ging - und dass erst der nächste Besucher Kellys der Ripper war. Dann wäre Hutchinsons Beschreibung unbrauchbar.
Bemerkenswert ist jedoch, dass Hutchinson aussagte, er glaube denselben Mann später noch einmal gesehen zu haben, und zwar am 11. November in der Petticoat Lane / Middlesex Street - wo es viele Schneider und den Straßenmarkt für Bekleidung gab. Aarons Brüder waren Schneider, so dass es durchaus möglich ist, dass es Kosminski war, den er dort gesehen hat.
Auch die auffällig höherwertige Bekleidung des Kelly-Kunden, die Hutchinson beschrieb, ließe sich mit dem Schneiderhandwerk von Kosminskis Familie erklären.
Merkwürdig war nach den Coroner-Untersuchungen zum Double-Event auch die Anhörung im Fall Kelly: Sie wurde im Distrikt Shoreditch vom dort zuständigen Richter vorgenommen und nicht in Whitechapel, mit der seltsamen Begründung, zuständig sei der Ort der Aufbahrung, nicht der Tatort. Sie wurde bereits am 12. November eröffnet, mit sich nicht zuständig fühlenden Geschworenen, in hohem Tempo durchgepeitscht und schon am selben Tag wieder abgeschlossen. Richter Roderick Macdonald sagte: "Wenn die Geschworenen allein zu der Todesursache zu einem Ergebnis kommen, so ist das alles, was sie zu tun haben."
Zeugen oder Beweismittel zur Strafverfolgung sollten nicht weiter öffentlich thematisiert werden - wahrscheinlich aus ermittlungstaktischen Gründen, weil man einen Tatverdächtigen nicht warnen wollte, während er unter Beobachtung stand, um ihn auf frischer Tat stellen zu können.
In H. L. Adam's Serie "The People on Scotland Yard and its Secrets" von 1912 zitiert der Autor Assistant Commissioner Anderson: "Sir Robert Anderson has assured the writer that the assassin was well known to the police, but unfortunately, in the absence of sufficient legal evidence to justify an arrest, they were unable to take him. It was a case of moral versus legal proof. The only chance the police had, apparently, was to take the miscreant red-handed…"
"Butcher's Row Suspect"Nach dem Kelly-Mord begann die City Police laut den Aussagen verschiedener Polizisten damit, mehrere Monate lang einen Tatverdächtigen in dem "Butcher's Row" genannten Abschnitt der Aldgate High Street zu observieren.
In Zeitungsinterviews sagte Robert Sagar von der City Police Jahre später, dass man nach dem Kelly-Mord einen Verdächtigen unter Beobachtung gestellt habe, der in der Butcher's Row arbeite und von dem man annehme, dass er der Ripper sei, und dass dieser Mann letztendlich von seinen Leuten in ein Irrenhaus eingeliefert worden sei.
Auch Detective Inspector Henry Cox von der City Police erzählte Jahre später in einem Zeitungsartikel (Thomson’s Weekly News, 1. December 1906) von Observationen, jedoch ohne einen Zeitraum zu nennen oder Ortsangaben zu machen.
Cox: "The man we suspected was about five feet six inches in height, with short, black, curly hair, and he had a habit of taking late walks abroad.
He occupied several shops in the East End, but from time to time he became insane, and was forced to spend a portion of his time in an asylum in Surrey. (...) While the Whitechapel murders were being perpetrated his place of business was in a certain street, and after the last murder I was on duty in this street for nearly three months."
Dass der Verdächtige an verschiedenen Adressen zu finden war (es ist nicht ganz klar, ob Cox mit "occupy" nun "bewohnte" meinte oder ob er in den Shops "beschäftigt" war), passt zur Geschichte Kosminskis: Seine Familie hatte mehrere Adressen und Shops, und sie zogen in der Zeit der Ermittlungen auch um.
Mögliche Verbindung Aaron Kosminskis zur Butcher's Row: Sein Verwandter Jacob Cohen war ein erfolgreicher Metzger und Geschäftsmann aus Manchester, der für rund zwei Jahre in einer geschäftlichen Angelegenheit in London wohnte: Er gründete 1890 die Firma "Davies, Cohen & Company" in der Carter Lane 51, St. Pauls (City of London), wo er gemeinsam mit Thomas Coughtrey Davies und Aarons Bruder Woolf Abrahams Mäntel herstellte und verkaufte. Interessanterweise wurde die Firma im Juli 1891, wenige Monate nach Aarons dauerhafter Einweisung in Colney Hatch, wieder aufgelöst.
Interessant daran ist, was Detective Inspector Henry Cox über die Verschleierungstaktik der polizeilichen Überwachungsarbeit schrieb, die der jüdischen Gemeinde nicht verborgen blieb: "We told them we were factory inspectors looking for tailors and capmakers who employed boys and girls under age, and pointing out the evils accruing from the sweaters' system asked them to co-operate with us in destroying it."
Dies könnte zu Aaron als Ripper-Verdächtigen passen, dessen Brüder Schneider in der von zahlreichen Schneidern bewohnten Greenfield Street waren, und dessen Verwandter Cohen wahrscheinlich Verbindungen in die Butcher's Row hatte. Vielleicht hatte Jacob Cohen Mitverantwortung für Aaron übernommen und/oder ihm vielleicht eine einfache Tätigkeit in der Butcher's Row besorgt, so dass er dadurch unter Aufsicht stand.
Für diese Interpretation spricht auch der Zwischenfall mit dem Hund im Dezember 1889 und die Tatsache, dass es Cohen war, der Aaron schließlich 1891 ins Mile End Workhouse brachte, von wo es weiter in die Irrenanstalt ging (s.u.).
Über Kosminski ist leider nur bekannt, dass er in Colney Hatch eingeliefert wurde, es gibt bisher keine Hinweise auf eine vorübergehende Unterbringung in Surrey. Jedoch wäre es plausibel, dass sich zunächst seine Angehörigen um ihn kümmerten, bis sich sein Zustand so weit verschlechterte, dass er für sie nicht mehr zu bewältigen war (möglicherweise entzog er sich ihrer Aufsicht und tötete Alice McKenzie), worauf sie ihn unter falschem Namen in ein privates Sanatorium steckten, bevor er von der Polizei entdeckt und identifiziert wurde.
Auch eine Verwechslung der Kliniken oder mit einem anderen Ripper-Verdächtigen wäre möglich.
Mittwoch, 17. Juli 1889: Mord an Alice McKenzie in der Castle AlleyPolice Constable Walter Andrews entdeckte gegen 0:50 Uhr in der Castle Alley den leblosen Körper von Alice McKenzie, etwa eine halbe Stunde, nachdem er das letzte Mal auf seiner Runde dort gewesen war. Zeugen der Tat gab es keine. Ihre linke Halsschlagader war durchtrennt, ihr Rock war hochgeschoben und der Unterleib mit einem Messer traktiert worden, allerdings waren die Verletzungen eher oberflächlich.
Die Polizisten und die untersuchenden Ärzte waren uneinig darüber, ob es sich um ein weiteres Ripper-Opfer handelte. Einiges passte ins Schema: McKenzie übernachtete in einem Armenhaus, war rund 40 Jahre alt, Prostituierte und Trinkerin - und wurde im Zentrum von JTRs Aktivitäten getötet. Allerdings wurde ein anderes Messer benutzt, und vermutlich war dieser Täter anders als JTR Linkshänder. Zudem wurde sie nicht gewürgt, es gab keinen vollständigen Kehlenschnitt, die Wunden waren nicht so tief und der Unterleib war nicht ausgeweidet.
Der Täter hätte wahrscheinlich durchaus genug Zeit für weiterreichende Verstümmelungen gehabt, denn er war wohl diesmal nicht gestört worden. Indiz dafür: Obwohl es kurz geregnet hatte, war der Gehweg unter McKenzies Körper trocken, was bedeutet, dass sie wohl schon vor dem Schauer getötet wurde und somit einige Zeit unentdeckt dagelegen hatte. Möglicherweise war es ein Nachahmungstäter, der dem Ripper diesen Mord in die Schuhe schieben wollte.
Falls es doch JTR war, deutet alles darauf hin, dass er nicht mehr auf der Höhe seiner physischen und/oder psychischen Kräfte war.
Auch der große zeitliche Abstand zu den übrigen Taten fällt auf: JTR hatte eine sehr kurze Abkühlphase, so dass längere Pausen wohl nur durch widrige Umstände wie Krankheit, Einweisung oder Überwachung durch Familie und/oder Polizei zu erklären sind.
Die Adressen von Aaron Kosminski, Sion Square 3 / Mulberry Street (falls er 1888 schon dort wohnte), und seiner Familie in der Greenfield Street liegen nur rund 400 bzw. 500 Meter oder etwa 5-6 Minuten Fußweg von der Castle Alley entfernt.
Dezember 1889: Der Hunde-ZwischenfallIm Dezember 1889 stand Aaron Kosminski vor einer behördlichen Anhörung. Er sollte ein Bußgeld bezahlen, weil er einen Hund ohne Maulkorb mit sich geführt hatte. Er sagte aus, dass er manchmal unter dem Namen seines Bruders "Abrahams" unterwegs sei, und dass der Hund einem "Jacobs" gehöre: "I goes by the name of Abrahams sometimes, because Kosminski is hard to spell… I cannot pay, the dog belongs to Jacobs, it is not mine…"
Mit Jacobs meinte er vermutlich seinen Verwandten Jacob Cohen oder vielleicht einen Nachbarn, den Butcher Aaron Jacobs. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach dem Mord an Frances Coles im Februar 1891 im East End ein Gerücht die Runde machte, der Mörder sei ein jüdischer Butcher namens "Jacobs".
Benjamin Leeson schrieb in "Lost London: The Memoirs of an East End Detective" (1934):
"... a story circulated that the Ripper was a butcher, who wore blue overalls and a leather apron, and an English Jew named Jacobs, a perfectly harmless man, somehow attracted suspicion to himself. Possibly because, working in a slaughter house, he always wore a leather apron. People would point Jacobs out in the street as a suspected man, and more than once he had to run for it. I myself was often obliged to take him to the police station for protection. The thing so preyed on the poor fellow's mind that it finally caused him to lose his reason."
Wenn Aaron öfter die Namen seiner Verwandten als Alias benutzte, könnte dies die Ermittlungen der Polizei behindert und zu manchen der bekannten Unstimmigkeiten geführt haben, weil dadurch einige Verbindungen nicht gleich aufgedeckt werden konnten.
12. Juli 1890: Vorübergehende Einweisung ins KrankenhausAaron Kosminski wurde von seinem Schwager Woolf Abrahams aus der Providence Street zur Behandlung in das "Mile End Old Town Workhouse" Krankenhaus eingewiesen. Aus dem Aufnahmeregister geht hervor, dass er schon seit mindestens zwei Jahren als geisteskrank galt.
Als seine Wohnadresse wurde Sion Square 3 / Mulberry Street bei seinem Bruder Woolf, und sein Beruf als Haarschneider angegeben.
Schon drei Tage später wurde er wieder entlassen und in die Obhut seines Schwagers Morris Lubnowski, wohnhaft Greenfield Street 16, übergeben.
Interessant ist, dass eine zweijährige psychiatrische Vorgeschichte angegeben wird: Dies deutet darauf hin, dass Kosminski bereits 1888/1889 in einer Anstalt gewesen sein könnte.
Die Polizei soll jedenfalls laut einem Pressebericht alle privaten Sanatorien auf der Suche nach dem Ripper überprüft haben:
"The Dublin Express London correspondent on Thursday gave as the latest police theory concerning the Whitechapel murderer, that he has fallen under the strong suspicion of his near relatives, who to avert a terribly family disgrace, may have placed him out of harm's way in safe keeping. As showing that there is a certain amount of credence attached to this story, detectives have recently visited all the registered private lunatic asylums, and made full inquiries as to the inmates recently admitted."
War Kosminski der Ripper, würde dies den Zeitraum bis zu seiner offiziellen Einweisung nach Colney Hatch 1891 erklären.
4. Februar 1891: Endgültige Einweisung in die PsychiatrieNach der Bedrohung seiner Schwester mit einem Messer wurde Kosminski erneut in das "Mile End Old Town Workhouse" Krankenhaus eingewiesen, und von dort aus am 7. Februar weiter in die psychiatrische Anstalt "Colney Hatch Lunatic Asylum" verlegt.
Sein Verwandter, der Metzger Jacob Cohen, gab folgende Beschreibung über Kosminski ab: "Er läuft durch die Straßen und hebt Brotkrümel aus dem Rinnstein auf um diese zu essen. Er trinkt Wasser aus der Tränke und weigert sich Essen aus den Händen von Leuten anzunehmen.
Er hob ein Messer auf und bedrohte damit seine Schwester sie umzubringen. Er ist sehr dreckig und weigert sich, zu waschen. Er versuchte in all den Jahren kein einziges Mal Arbeit zu finden."
Das Einweisungsformular weist ihn als bereits "seit sechs Jahren irrsinnig" aus. Weiterführende Notizen in seiner Akte: "Er behauptet, dass er von einer inneren Stimme gelenkt werde und die Aufenthaltsorte aller Menschen kenne."
In den medizinischen Unterlagen steht auch: "he is guided and his movements altogether controlled by an instinct that informs his mind" und "he refuses food because he is told to do so". Er hatte also akustische Halluzinationen und hörte befehlende Stimmen, die ihn zu seinen Taten zwangen - dies wird laut der forensischen Psychiatrie immer wieder von wahnkranken Mördern erzählt.
Während seines Aufenthalts in den psychiatrischen Einrichtungen wurde Aaron Kosminski zwar als harmlos angesehen. Laut Ripperologe Donald Rumbelow wurde er aber zweimal gewalttätig: Er soll einen Pfleger mit einem Stuhl beworfen und einmal gar eine Krankenschwester mit einem Messer bedroht haben.
Dass Aaron Frauen mit einem Messer bedrohte und behauptete, von einer inneren Stimme gelenkt zu werden, ist ein gutes Indiz für eine mögliche Täterschaft.
Der Journalist George Sims schrieb über den Ripper-Fall:
"He was a Polish Jew of curious habits and strange disposition, who was the sole occupant of certain premises in Whitechapel after night-fall. This man was in the district during the whole period of the Whitechapel Murders, and soon after they ceased certain facts came to light which showed it was quite possible that he might have been the Ripper. He had at one time been employed in a hospital in Poland. He was known to be a lunatic at the time of the murders, and some-time afterwards he betrayed such undoubted signs of homicidal mania that he was sent to a lunatic asylum."
Dies passt auf Kosminski. Sims schrieb auch:
"A curious story has got out here that if true explains the long rest which Jack the Ripper has been taking from his diabolical work in the Whitechapel district, London. A lady from this city visiting a distinguished official in London, states in a letter written to friends here that the Ripper has been under arrest in the London metropolis for some time. He is a medical student and was arrested on the strength of information given by his own sister.
The authorities, the letter states, have kept the matter a strict secret in order to work up the case against the prisoner, and they are said to have a very complete chain of evidence."
Auch diese Aussage würde gut auf Kosminski passen, der ja offenbar vor allem wegen des Angriffs auf seine Schwester eingeliefert wurde.
Freitag, 13. Februar 1891: Mord an Frances Coles in Swallow Gardens Gegen 1:45 Uhr traf eine Bekannte, die Prostituierte Ellen Callagher, in der Commercial Street auf Coles. Sie liefen gemeinsam Richtung Minories und begegneten einen "brutalen Mann mit einer Baskenmütze", an den Callagher sich als einen früheren Kunden erinnerte. Sie will Coles gewarnt haben, dass der Mann ihr vor einiger Zeit ein blaues Auge geschlagen habe, und sie solle sich nicht mit ihm abgeben. Coles befolgte den Rat ihrer Freundin allerdings nicht und unterbreitete dem Mann ein Angebot, worauf die beiden ohne Callagher in Richtung Minories gingen.
Carmen Friday und die Brüder Knapton gingen kurz nach 2 Uhr morgens durch die Eisenbahn-Unterführung Swallow Gardens. Sie sahen eine Frau und einen Mann, die an der Ecke der Royal Mint Street standen. Gegen 2:15 Uhr entdeckte Police Constable Ernest Thompson auf seiner Runde unter der Eisenbahnbrücke die Prostituierte Frances Coles mit durchschnittener Kehle.
Verdächtigungen wie im Automn of Terror mit den Gerüchten um "Lether Apron" verbreiteten sich unter den Bewohnern des Eastends, diesmal sollte laut Mundpropaganda ein gewisser "Jacobs" (!) der Mörder gewesen sein (s.o.). Die Justiz klagte später Coles gewalttätigen Freund Thomas Sadler an, der jedoch freigesprochen wurde, weil er ein Alibi hatte.
Coles war auch eine Prostituierte, der die Kehle aufgeschlitzt wurde, allerdings wurde sie nicht zuvor gewürgt, sondern einfach zu Boden gerissen, das Messer soll ebenfalls ein anderes gewesen sein - der obduzierende Dr. Phillips hielt jedenfalls JTR nicht für den Täter.
Interessant ist allerdings, dass in gewissen Teilen der Bevölkerung der Name "Jacobs" die Runde machte, was doch sehr nach "Jacob" klingt. Der Metzger Jacob Cohen war eben jener Verwandte von Aaron Kosminski, der Aaron in der Woche vor dem Mord in die Anstalt einlieferte.
Auch hatte Kosminski beim Hunde-Zwischenfall gesagt, dass das Tier einem "Jacobs" gehöre (s.o.). Könnte hier ein Verdacht an die Öffentlichkeit durchgesickert sein, der sich nach dem Stille-Post-Prinzip verselbständigt hat?
1892: Ermittlungs-Ende Die Akte Jack the Ripper wird von der Polizei offiziell geschlossen.
Dies passt zeitlich gut zu Kosminskis Einlieferung: War Aaron der Ripper-Hauptverdächtige, so konnte der Fall ad acta gelegt werden, nachdem klar war, dass er die Psychiatrie nie mehr verlassen würde.
23. Februar 1894: Das Macnaghten-MemorandumChief Constable Sir Melville Macnaghten verfasst sein polizeiinternes Memorandum, indem Kosmiski als einer der drei Hauptverdächtigen genannt wird:
"Kosminiski war ein polnischer Jude und Einwohner in Whitechapel. Dieser Mann verfiel dem Wahnsinn, da er sich über viele Jahre hinweg dem Laster der Selbstbefriedigung hingegeben hatte. Er hatte einen großen Hass auf Frauen, besonders auf Prostituierte und hatte starke mörderische Neigungen. Er wurde etwa im März 1889 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Es gab viele Sachverhalte in Verbindung mit diesem Mann, die ihn zu einem überzeugenden Verdächtigen machten."
Dass ein Teenager durch Selbstbefriedigung irrsinnig würde, ist zwar überholter Aberglaube - jedoch weiß die forensische Psychiatrie, dass es manchmal umgekehrt ist: So gilt zwanghafte Masturbation als ein Symptom von mangelnder Impulskontrolle und sexueller Obsession bei einer psychischen Erkrankung.
Über eine (vorübergehende) Einweisung Aaron Kosminskis im März 1889 ist jedoch leider nichts bekannt, er kam erst im Februar 1891 nach Colney Hatch.
Allerdings betonte Macnaghten, dass es "viele Sachverhalte" gäbe, die den Verdacht gegen Kosminski begründeten.
19. April 1894: Überführung nach Laevesden Kosminski wurde aus der psychiatrischen Anstalt "Colney Hatch" nach Laevesden, einem Heim für "ältere Schwachsinnige", gebracht und wurde dort als "chronisch harmlos geisteskrank und als Idiot oder geistesschwach" in der Kartei geführt. In Aufzeichnungen wird über ihn berichtet: "Hat den Bezug zur Realität komplett verloren. Kann sich nicht mehr an sein Alter erinnern und wie lange er schon in dem Heim wohnt. Hat Halluzinationen, sieht Erscheinungen und hört Stimmen. Zeitweilig verhält er sich sehr stur. Er ist unordentlich, aber sauber. Er arbeitet nicht". In diesem Heim verbrachte er die nächsten 25 Jahre bis zu seinem Lebensende.
Interessant ist die zeitliche Nähe zu Macnaghtens Memorandum: Könnte die Verlegung von Kosminski von Colney Hatch nach Leavasden vielleicht eine Folge der Erwähnung in dem Memorandum im Februar gewesen sein, vielleicht aus Sorge um ein mögliches Durchsickern des Inhalts an die Öffentlichkeit?
24. März 1919: Kosminskis TodAb Anfang 1919 verschlechterte sich Aaron Kosminskis Gesundheitszustand drastisch, bis er dann am 24. März in Laevesden starb.
FazitDie Theorie, dass JTR ein psychisch kranker jüdischer Haarschneider war, der im Irrenhaus endete, erklärt den ansonsten merkwürdigen Schluss im Ripper-Fall: Nach dem Ende der Mordserie laufen die Ermittlungen angeblich ergebnislos aus, die Akte wird geschlossen - aber Jahre später erklären hochrangige Polizisten in ihren Memoiren oder Zeitungsartikeln, der Ripper wäre eigentlich identifiziert worden.
Nach dem Mord an Mary Ann Nichols verdichteten sich im Eastend schnell Gerüchte, dass die Morde von einem Juden mit dem Spitznamen "Leather Apron" verübt worden sein sollten, was so auch in den Zeitungen verbreitet wurde und schon zu ersten antisemitischen Aufwallungen und Kundgebungen führte.
Superintendent Thomas Arnold ordnete daher nach dem Double Event mit Erlaubnis von Polizeichef Charles Warren an, das Goulston Street Graffiti auf der Stelle zu entfernen, explizit aus dem Grund, um mögliche Pogrome gegen Juden zu verhindern. In seinem Bericht vom 9. November 1888 schreibt Arnold: "Ich bitte darum berichten zu dürfen, dass am Morgen des 30. September, dem Letzten, meine Aufmerksamkeit auf eine Aufschrift an der Wand des Eingangs zu Behausungen in der Goulston Street 108, Whitechapel gerichtet wurde, welche aus folgenden Worten bestand: 'Die Juwes sind [nicht] die Menschen, die nicht grundlos beschuldigt werden'.
Ich wusste, dass aufgrund der Verdächtigung eines Juden namens John Pizer, genannt ‚Leather Apron‘, der beschuldigt wurde, den kürzlich in der Hanbury Street verübten Mord begangen zu haben, ein starkes Gefühl gegen die Juden im Allgemeinen aufkam. Da das Gebäude, auf dem sich die Aufschrift befand, mitten in der Lokalität liegt, die hauptsächlich von dieser Religions-gemeinschaft bewohnt wird, war ich besorgt darüber, dass wenn die Aufschrift verbleibt, diese für einen Aufstand verantwortlich sein könnte. Daher habe ich erwogen, dass es wünschenswert sei, sie aufgrund der Tatsache zu entfernen, dass sie sich an einer Stelle befand, die gut von den Menschen einsehbar war, die dort hinein- und hinausgehen."
Falls man den Ripper tatsächlich durch einen Zeugen als einen verrückt gewordenen jüdischen Haarschneider identifizierte, hätte die Bekanntgabe demnach zu schrecklichen Übergriffen bis hin zum Pogrom gegen die jüdische Gemeinde in Whitechapel im Allgemeinen und seine Familie im Besonderen führen können. Denn an die Eröffnung eines Prozesses wäre schon wegen des Gesundheitszustands des Tatverdächtigen nicht zu denken gewesen. Und selbst wenn: Ob die dünnen Beweismittel für eine Verurteilung ausreichend gewesen wären, darf bezweifelt werden - ein Freispruch aus Mangel an Beweisen wäre aber verheerend gewesen.
Wegen der sowieso schon explosiven sozialen Lage, einem weitverbreiteten Antisemitismus und der aufgestauten Wut durch den Ripper-Terror wäre wohl zu erwarten gewesen, dass viele Menschen dann ihre Aggressionen an Sündenböcken ausgelassen hätten.
Die Behörden könnten daher zu dem Schluss gekommen sein, es sei angesichts der explosiven Situation im Eastend sicherer, den todkranken Irren stillschweigend in einer Anstalt verrotten zu lassen und lieber weiter zähneknirschend vor der Öffentlichkeit wie Versager in diesem Fall dazustehen, als eine Katastrophe im Viertel zu riskieren.
Hier noch der Link zum geographischen Profil Kosminkis von Robert House:
http://www.casebook.org/images/robhouse_fig4.gif