Luxemburger Wort
13 November 1888
Wo das Laster weilt.
Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten London's *)
Das Loos eines Journalisten ist mitunter kein beneidenswerthes, besonders wenn er plötzlich, um seiner Pflicht zu genügen, Kreise und Personen aufzusuchen hat, welche den untern lichtscheuen Schichten der Gesellschaft angehören und ihm nur unwillig und ungern Mittheilungen machen, die nachher ein neugieriges Publikum mit fieberhafter Begierde verschlingen dürfte. Argwohn und der Trieb der Selbsterhaltung machen es ungemein schwierig, von den Mitgliedern der dunkeln Zunft, dem Verbrecherthum London's, genaue Angaben und Einführungen in die Plätze zu erhalten, in denen das Laster und das Verbrechen seine Schlupfwinkel so lange findet, bis die eiserne Hand des Gesetzes es packt und in den Zuchthäusern des Inselkönigthums zum Schütze der ehrlichen Unterthanen Ihrer Majestät festhält.
Ein Zufall machte mich auf einer Ferienreise in Schottland mit einem der bekanntesten englischen Detectives bekannt. In einer längern Unterhaltung ließ er die vielsagende Bemerkung fallen, daß es kaum glaublich wäre, wie weit die englische Gesellschaft an dem Wachsen des hiesigen Verbrecherthum« schuldig sei; daß in 9 Fällen aus 15 Fällen Kinder in den untern Schichten den Pfad des Verbrechens einschlagen, weil der Engländer vielfach nur große sittliche Entrüstung vor dem Laster, großen Abscheu vor dem Elende, aber wenig Mitleid mit dem Verkommenen spürt, und von thätiger Liebesarbeit und praktischer Nächstenliebe wenig weiß. „Errichtet gute und reine Gebäude mit lichten Fenstern. Haltet sie unter strenger Aufsicht und zwingt die Kinder zum regelmäßigen Schulbesuche. Das wird die Verbrecherzahl unter der Jugend vermindern und bald die Gefängnisse leeren." Wie wahr dieser Mann gesprochen, dessen Namen ich vorläufig auf seinen ausdrücklichen Wunsch geheim halte, werden die hier geschilderten Spaziergänge, die ich in seiner Gesellschaft nach meiner Zurückkunft im Osten Londons unternahm, zur Genüge beweisen.
An einem Samstag-Abend traf ich den Detective an der Ecke des Piccadllly Circus zufällig wieder an. Einem feingekleideten Herrn, der in einer Restauration des Guten viel zu viel genossen halte, so daß er sich damals weder seines Namens noch seiner Adresse erinnern konnte, war die Uhr, angeblich von einem Frauenzimmer, aus der Tasche gerissen morden. Er verursachte einen Auflauf, indem er eine Anrede an die sich um ihn drängenden Personen lichtete, welche von Beleidigungen gegen die Obrigkeit wahrhaft strotzte, von welcher er verlangte, daß sie auf seine Uhr hätte aufpassen müssen. Der Detective arbeitete sich durch die Menschenmasse, betrachtete mit einem raschen Blick die Westentasche, welche in eigenthümlicher Weise zerrissen war und murmelte: „Es ist der rothe Johnson, der es gethan," übergab den Angetrunkenen einem Polizisten zur Erforschung weiterer Einzelheiten über den Diebstahl und verschwand in dem Auflauf. Einige Minuten später war er auf seiner alten Stelle, woselbst ich ihn nun begrüßte. „Wenn Sie mich hier um 12 Uhr aussuchen wollen", bemerkte er mit einem kräftigen Händedruck, „so will ich Ihnen Ihren seiner Zeit in Schottland geäußerten Wunsch erfüllen und Sie in einige Diebesküchen (Thieveskitchens) mitnehmen; ich bin au der Fährte eines gewiegten Taschendiebe», dem sich erst vor drei Wochen nach siebenjährigem Aufenthalte im Zuchthause die Thore des Pentonville Prison geöffnet haben und bei jetzt bereits wieder seinem alten Gewerbe, Betrunkenen Uhr und Börse zu entwenden, nachgeht." Das war nun eine Gelegenheit, einen tiefen Blick in menschliches Elend und Verbrechen zu thun, welche ich mir nicht entgehen lassen wollte, und sobald die Glocke der Kirche in Piccadilly die zwölfte Stunde verkündete, war ich zur Stelle und wanderte langsam mit meinem Detectiv nach der Richtung von Long Aere zu.
London bietet in diesem Theile der Stadt einem Fremden nach 12 Uhr Nachts genügendes Material für fortwährendes Erstaunen. Die Publikhäuser und Restaurants senden ihre Kunden in die Straße, Equipagen und Droschken jeder Beschreibung rasseln auf dem Pflaster. Die Omnibusse sammeln ihre letzten Fahrgäste, um sie nach den fernern Stadttheilen zu entführen. Jungen rufen die letzten Nachrichten aus, um ihre Zeitungen zu verkaufen. Horrible murder in Whitechapel (Schrecklicher Mord in Whitechapel) tönt es hier. Dreadful Railway Accident (Furchtbares Eisenbahnunglück) schallt es dort. Die Damen der Demimonde wandeln auf und ab in den geschmackvollsten und geschmacklosesten Toiletten. Ab und zu öffnet sich die Thüre einer Schenke und ein Angetrunkener wird von starken Armen unfreiwillig in die Luft befördert. Aus den Portalen der nahe gelegenen Alhambra und des Empire-Theaters, zwei in großartigem Stile angelegten Tingeltangeln, strömen Menschenmassen, von denen einige so eben gehörte Gassenhauer pfeifen oder singen. Der Polizisten stereotyper Ruf: «More on, Gentlemen" — Vorwärts, meme Herren — hallt in allen Richtungen. Auf dem Damme weilen noch immer Obstverkäufer, während an vielen Ecken Kaffeeverkäufer und „heiße Kartoffelhändler" ein gutes Geschäft machen. Kinder in dem zartesten Alter betteln die Vorübergehenden um Almosen an.
„Wen suchen Sie?" fragte ich meinen freundlichen Führer, der alle Augenblicke von Polizisten militärisch begrüßt wurde. „Einen Mann, der den Namen: "der rothe Johnson" führt, den wir aber noch unter einigen dreißig andern Namen kennen. Sahen Sie den alten Herrn, dem die Uhr entwendet wurde?" „Ich meinte ja ein Frauenzimmer hätte die That begangen," warf ich ein. „Unsinn," erwiderte der Detektive, «Sie können sich darauf verlassen, daß das Frauenzimmer nur die Deckung war, deren der Hallunke sich bediente. Die Uhr hat er selber abgeschnitten; er hat eine besondere Methode, die Vordermand der Westentasche mit einem spitzen Instrumente zu zerschneiden und dann die Uhr von dem Bügel mit einer Zange abzukneifen, eine Methode, welcher sich kein anderer Taschendieb bedient. Wenn Sie die zerschnittene Tasche gesehen hätten, so würden Sie bemerkt haben, daß ein Dreieck Tuch aus derselben fehlte. So arbeitet nur der rothe Johnson." — „Glaub» Sie, ihn jetzt in einer der Spelunken zu finden?" fragte ich wieder. „Das nicht," meinte mein Mann lächelnd; „er ist nicht so dumm, sich dort früher sehen zu lassen, bis ihm seine Cumpane mitgetheilt haben, daß wir bereits da waren. So dürfte es leicht möglich sein, daß wir drei oder vier Mal in ein und derselben Küche erscheinen werden. Vielleicht ist er auch nach Walworth gegangen. Die Uhr wird wohl übrigens nicht wieder gefunden werden. Aber kommen Sie, was auch vorkommt, halten Sie sich auch kühl und besonnen; Sie haben bei mir nichts zu befürchten."
Wir gingen in ruhigem Gespräche in dieser Weise ungefähr zehn Minuten unseres Weges weiter, da bemerkte ich eine Passage, welche von der Hauptstraße durch ein eisernes Gitter abgeschnitten war. Wir betraten dieselbe; sie führte in eine schmutzig: Sackgasse. Zu beiden Seiten waren schmutzige, einstöckige Häuser, denen man ihr Gewerbe von außen ansah. Dort, wo früher Fensterglas gewesen, war in den meisten Fällen braunes Packpapier zum Schutze gegen die Witterung angebracht. Die Rinnen enthielten allerhand Speisereste, welche, im Zustande der Verwesung befindlich, schauderhafte Dünste von sich gaben, was die in der Gasse ohnehin schon unreine Atmosphäre noch mehr vergiftete. Am Ende derselben war ein Moderhaufen, welcher aus allerhand Unrath bestand. Die» schien eine Art Müllgrübe zum Gebrauche der ganzen Gasse zu sein. Die einzige Beleuchtung bestand aus den Strahlen der in den verschiedenen Zimmern befindlichen Petroleumlampen, welche, da die Fenster weder Vorhänge noch Klappen hatten, erleuchtend in die Gasse fielen, und das trübe Bild noch trüber beschienen.
(Fortsetzung folgt.)
*) Angesichts der wiederholten geheimnißvollen Morde in Whitechapel gewinnen die nachstehenden Schilderungen eines Londoner Mitarbeiters der "K. Ztg" ein aktuelles Interesse.
(D. Red.)