Luxemburger Wort
14 September 1889
Die Frauenmorde in London.
Dr. med Archer B. Lillingfoote
Von
London, 13. September.
Wie phrasenhaft das klingt, wenn man liest ober sagt: »Ganz London ist unter dem Eindrucke des Schreckens". Eine Stadt von fünf Millionen! Pah, wie kann die unter einem gleichmäßigen Einbrucke stehen! Und doch ist es wahr, buchstäblich wahr. Ganz London schaudert, ganz London fürchtet sich ...
Seit einem Jahre geht ein Ungethüm in London um, eines von jenen grausigen Fabelwesen der Sage, die das Blut des Unglücklichen erstarren machen, welchem das Gespenst erscheint. Neun Frauen sind bis jetzt feiner Blutgier zum Opfer gefallen. Die entsetzliche Lifte lautet:
3. April 1888: Emma Elisabeth Smith. 45 Jahre alt, todt aufgefunden in Osborn-Street, Whitechapel, mit durchgeschnittenem Halse und einem eisernen Pfahl durch den Leib gebohrt;
7. August 1888: Martha Tabram, 35 Jahre alt, todt aufgefunden in Georg-Yard-Buildings, Commercial-Street, mit durchschnittenem Halse und 39 Wunden im Leibe.
31. August 1888 : Mary Anne Nichols, 47 Jahre, alt, todt aufgefunden in Bucks Row, Whitechapel, mit durchschnittenem Halse und vollständig ausgeweidet.
8. September 1888: Annie Chapmann, 37 Jahre alt, todt aufgefunden in Hanbury-Street, Spitalfields, mit durchschnittenem Halse und gräßlich verstümmeltem Unterkörper.
30. September 1888: Elisabeth Strick, 26 Jahre alt, todt aufgefunden in Berner-Street, Whitechapel, mit durchschnittenem Halse, aber unverstümmelt, da der Mörder während der Blutthat durch einen heimkehrenden Händler überrascht wurde. Das Pferd des Wagens, in welchem der Händler fuhr, stieß an die Leiche der Frau, wodurch der Händler, welcher schlief, aufgeweckt wurde. Er hatte, wie er später sagte, die Empfindung, als habe er in dem Augenblicke Aufwachens einen Schatten fliehen sehen. Offenbar war dies der Mörder, der nunmehr, da er bei dem ersten Opfer sein Werk nicht vollenden konnte, in derselben Nacht noch einen zweiten Mord beging.
30. September 1888 : Catherine Eddowes, 45 Jahre, todt aufgefunden in Mitre Square, Albgate, mit durchschnittenem Halse und verstümmeltem Unterkörper.
9. November 1888: Mary Jane Kelly, 23 Jahre, todt aufgefunden in Millers Court, Commercial-Street, mit durchgeschniltenem Halse, abgeschnittenen Ohren und völlig ansgeweidet.
Nach mehr als Monatlicher Pause erfolgte dann am 17. Juli, Nachts zwischen 12 1/4 und 12 3/4 Uhr, der Mord an der 40jährigen Alice Mackenzie, in Castle-Alley, welche mit durchschnittenem Halse, ausgeweidet und verstümmelt gefunden wurde.
Abermals vergingen 2 Monate, da erfolgte heute eine neue Entdeckung. Unter den Eisenbahnbogen an Pinchin - Street, Whitechapel, wurde der ausgeweidete Leichnam einer Frau gefunden. Beine und Kopf fehlten.
Der District, in welchem alle diese Mordthaten verübt wurden, ist ein verhältnißmäßig kleiner: der Stadttheil Whitechapel. Nachstehenbe Karte gibt ein Bild der Oertlichkeit:
Der Theil von London, in welchem diese 9 Morde verübt worden sind, geholt zu den belebtesten Vierteln der Weltstadt; er liegt sozusagen im Herzen derselben. Ueber jeden Begriff arme Arbeiter; verworfene Dirnen; Gast- und Schankwirthe niedrigster Ordnung; Schiffknechte, Matrosen, kurzum arme Teufel aller Art bilden die Bewohner dieser Straßen, während kaum einen Büchsenschuß weiter, in den Comptoirs der City, über Millionen von Pfund Sterling verhandelt wird.
Aber ich lese schon in aller Augen eine Frage, welche weit wichtiger ist, als alles andere, die Frage nach dem Mörder! Wer hat diese graueneregenden, in der Geschichte der Verbrechen aller Zeiten einzig dastehenden Mordthaten begangen? Düsteres Schweigen... Es ist weder der Polizei, noch dem Zusammenwirken der Bürger, welche ein freiwilliges Polizeicorps mit nächtlichen Runden u.f.w. bildeten, noch endlich dem Zufall, diesem glücklichsten und erfolgreichsten Detectiv, gelungen, eine Spur zu finden. Noch immer hat man, trotz aller Anstrengungen, keine Ahnung davon, wer der Verbrecher sein könne.
Dr. Forbes Winslow, der bekannte Psychiater, vertritt die Ansicht, der Mörder sei ein Wahnsinniger, der von Zeit zu Zeit von einer „Mordmanie" ergriffen werbe und dann wie ein Rasender wüthe. In den Zwischenzeiten zwischen diesen Anfällen habe der Verbrecher — so führt Winslow aus — vielleicht gar keine Ahnung von seinen gräßlichen Thaten. Diese Theorie findet nur wenig Gläubige. Mehr Anhänger hat eine andere Ansicht, nach weicher der Mörder ein hochgestellter Mann sein soll, der in feinem Wagen daherkommt, schnell sein blutiges Handwerk verrichtet und dann wieder fortfährt. Aber auch in diesem Falle hat man es offenbar nur mit einer ganz unhaltbaren Annahme zu thun. Auch die weiteren Vermuthungen, der Mörder sei ein Arzt, ein Schiffer, ein Metzger u.s.w., sind durchaus unbegründet. Man steht vor einem ebenso unheimlichen, als dunkeln Räthsel. Ob es jemals gelöst werben wird? *) ('Str. P')
*) Es gibt Leute, welche behaupten, der Mörder sei unter der Polizei selbst zu suchen.