Autor Thema: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...  (Gelesen 6481 mal)

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KvN

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Wir schreiben das Jahr 1888...
Vom goldenen viktorianischen Zeitalter rieselt das Blattgold herunter, und das heftig. Dank BP - Britischer Präpotenz - hat man es ziemlich überzeugend geschafft, den wirtschaftlichen Aufschwung der ersten Jahrhunderthälfte nachhaltig zu vergeigen, das Land hängt in einer tiefen Rezession fest. Das Bevölkerungswachstum ist nur mehr als explosiv zu bezeichnen, das Warum ist bis heute ein Rätsel. Die Kolonialpolitik muss herbe Rückschläge in Kauf nehmen, in Nordafrika wird die glorreiche britische Armee von Aufständischen schwer gezüchtigt.
Die soziale Situation gleicht einem Pulverfass mit brennender Lunte, der Funke wird allerdings entgegen aller Prognosen von Marx und Engels die Sprengladung nie erreichen. Die Lage der arbeitenden Bevölkerung ist katastrophal. 30% leben knapp über dem Existenzminimum, weitere 30% kämpfen um das tägliche Überleben. Arbeitskraft ist, dank der massiven Überbevölkerung, eine sehr billige Ware, um die Ernährung einer Familie sicher zu stellen müssen selbst Kleinkinder körperlich extrem belastende Tätigkeiten ausüben, die Lebenserwartung in dieser sozialen Schicht ist entsprechend. Der Adel pflegt die Tradition, das Bürgertum huldigt einer Art spießigem Biedermeier. Geistig sucht man Wege aus dieser verkrampften Stimmung auszubrechen, es ist kein Zufall dass Jekyll und Hyde in dieser Zeit entsteht und Stoker an seinen Horrorgeschichten schreibt.
Und hier kommt Jack the Ripper ins Spiel.
Ich behaupte nun nicht dass die Morde eine literarische Erfindung seien, aber die Aufmerksamkeit und das mediale Design, das man den Taten verpasste, entsprach zu 100% dem Zeitgeist. Die Zeitungen, die über die Taten berichteten, verkauften sich wie die warmen Semmeln, die Menschen, die nicht in den Elendsvierteln dahinvegetieren mussten, liebten wohl die angenehme Gänsehaut.
Abgesehen von den Gewalttaten und den Tötungsdelikten, die an sich schon niemanden mehr aufregten, die Leute in den Elendsvierteln müssen ja auch an natürlichen Ursachen gestorben sein wie die Fliegen. Die erst junge Polizei hatte die Situation überhaupt nicht mehr im Griff, die extrem fehlerhaften Statistiken zeigen nur, dass die Geschehnisse eigentlich niemanden interessierten.
In der Zeit der K5 Morde starben wahrscheinlich in Whitechapel hunderte Menschen an Unterernährung oder auf Grund der hygienischen Bedingungen oder fehlender medizinischer Versorgung. Aber man hatte IHN gefunden, den Schuldigen, den Mutanten. Man konnte alle Aufmerksamkeit auf ihn fokussieren, die Polizei konnte ihre Unfähigkeit hinter ihm verstecken und Menschen, die vielleicht am nächsten Tag dem Hungertod preisgegeben waren, regten sich über Jack the Ripper auf. Kein wirklich originelles Phänomen, in anderen Ländern und zu anderen Zeiten erfüllten die Räuber Grasel, Babinski, Karasek oder der "Dienstbotenmörder" Hugo Schenk eine vergleichbare Aufgabe.
Fazit: Die Rippermorde waren in keiner Weise das singuläre Ereignis als das sie dargestellt wurden und werden. Sie geschahen in einem Umfeld aus Not, Tod und Gewalt. Der Mörder und die Opfer existierten, keine Frage, aber Jack the Ripper ist ein Produkt der Medien.

Grüße   

Offline Anirahtak

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #1 am: 11.05.2010 22:18 Uhr »
Guten Abend.

Zitat
Man konnte alle Aufmerksamkeit auf ihn fokussieren, die Polizei konnte ihre Unfähigkeit hinter ihm verstecken und Menschen, die vielleicht am nächsten Tag dem Hungertod preisgegeben waren, regten sich über Jack the Ripper auf.
Ein wenig überspitzt, aber ich verstehe, was du meinst. Für diejenigen, die es schwer hatten, sich durchzuschlagen, könnte das ein geeignetes Ablenkmanöver gewesen sein. Ich halte das auch für denkbar (Massenmedien können die öffentliche Aufmerksamkeit ja auch heute noch auf etwas hin- oder davon weglenken).

Allerdings ging der Schuss doch nach hinten los, nicht? Entstand nicht irgendwann eine noch mehr angespannte Atmosphäre mit einer Art "Volkszorn" auf die Polizei?

Was ich gestern im anderen Strang auch noch zum Ausdruck bringen wollte und mir nicht so recht gelungen ist: Die Ripper-Morde wurden/werden vielleicht auch deshalb als "einzigartig" herausgestellt, weil es eine Serie -obendrein mit merkwürdigen Details- war, im Gegensatz zu den vielen einzelnen Morden bzw. Todesfällen. Zudem ist bei ihm das Motiv noch weniger "nachvollziehbar" als bei bspw. Raubmord (Habgier) oder Totschlag im Affekt. Selbst heute ist es ja noch nicht möglich, Serienmörder vollständig zu enträtseln und damals war man mit Psychologie allgemein noch weniger vertraut, umso aufsehenerregender ein solche Mordserie in jener Zeit.

Womit ich deinen urpsprünglichen Gedanken aber nicht abschwächen möchte, man könnte schon versucht haben, damit von grundlegenden Problemen abzulenken. Wäre auch nicht das letzte Mal gewesen.

KvN

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #2 am: 12.05.2010 00:51 Uhr »
Klar hast du recht, ein Serienmörder ist allemal interessanter, vor allem einer mit so einer rätselhaften Aura. Betrachtet man die Ripper - Causa klischeehaft, so finden wir ja alle notwendigen Ingredenzien für einen Publikumsmagneten...

Grüße 

Offline panopticon

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #3 am: 12.05.2010 02:04 Uhr »
Hi.

Wäre der wahnsinnige Serienkiller mit dem Mord an Polly Nichols nicht tatsächlich (spätestens) in Erscheinung getreten, hätten die Medien ihn mit dem nächsten extrem brutalen Gewaltverbrechen im East End wohl ohnedies erfunden. Die große Frage diesbezüglich ist: Wer war nun die eigentliche ´Inspiration´ für ´Jack the Ripper´: Der Irre für die Medien oder vielleicht sogar die Medien für den Irren, oder eben anders formuliert: Wann und warum fing die tatsächliche Mordserie nun wirklich an?


Grüße,
panopticon

KvN

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #4 am: 12.05.2010 08:14 Uhr »
@Katharina: Nochmal eine kurze Anmerkung...Ob der Schuss tatsächlich soooo nach hinten losging ist eine gute Frage. Wenn man Warrens verhalten am Bloody Sunday bedenkt, da hätte es sich ohne entsprechende Ablenkung noch ganz anders abspielen können. Nein, ich denke dass die Polizei dank JtR noch recht glimpflich davongekommen ist...

@Panopticon: Das ist der Punkt. JtR war in jedem Fall ein Produkt seiner Zeit, aber wie weit ging die wechselseitige Einflußnahme tatsächlich? Und wann begann die Mordserie, war es überhaupt tatsächlich eine? Nicht dass ich jetzt unserem Hobby die Basis entziehen will, aber streng betrachtet würde ich nur Chapman und Eddowes zweifelsfrei dem selben Täter zuordnen...

Grüße

Offline panopticon

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #5 am: 12.05.2010 15:27 Uhr »
Nun ja, die Basis entziehst Du diesbezüglich keineswegs, denn irgendjemand hat diese Morde ja begangen und dadurch zur Erschaffung des Rippers beigetragen – und ganz egal, wer nun wen warum umgebracht hat: Alle Opfer hätten das Recht auf die Aufklärung (wie auch die Vermeidung) ihrer Ermordung gehabt, leider ist da aber einiges schief gelaufen, und, so unwahrscheinlich es auch ist: Es bleibt zu hoffen, dass sich einiges vielleicht doch noch eruieren lässt.

Bei Chapman und Eddowes gebe ich Dir auch völlig recht, wenngleich ich persönlich Nichols und Kelly auch auf jeden Fall noch dazuzähle. (Nichols wegen der erstmaligen Verstümmelungen und dem kurzen zeitlichen und irgendwie auch örtlichen Abstand zu Chapman, und Kelly primär wegen einiger bestimmter Verletzungen, die denen an  Eddowes doch ziemlich zu gleichen scheinen.) Auszuschließen ist wohl kaum ein Mordopfer, aber die ursprünglich von den Zeitungen erwähnte ´3-er Serie´ Smith-Tabram-Nichols ist doch ziemlich fragwürdig. Was ja auf jeden Fall auffällig (wenn auch nicht verwunderlich) ist, ist dass die ganze Sache die Gewaltbereitschaft im East End doch noch um einiges erhöhte, und die Hemmschwelle zur Gewalt sogar noch um einiges sinken ließ, was man an diversen Spinnern feststellen kann, die sich als ´Jack the Ripper´ bezeichneten, die neue Morde ankündigten, oder die anderen drohten, sie aufzuschlitzen wie der Serienmörder.  Es ist schlimm, wie viele sich scheinbar irgendwie (aus welchen perversen ´Gründen´ auch immer) mit dem Mörder identifizieren konnten, letztendlich war dies alles aber das Produkt der vorherrschenden Politik. Und die Medien haben das ´Mr. Hyde-Syndrom´ wohl noch stark begünstigt.


Grüße,
panopticon
« Letzte Änderung: 12.05.2010 16:43 Uhr von panopticon »

Floh82

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #6 am: 12.05.2010 16:10 Uhr »
Der Mörder und die Opfer existierten, keine Frage, aber Jack the Ripper ist ein Produkt der Medien.

Absolute Zustimmung! Das kann ich gar nicht oft genug sagen. Die Medien haben eine "Teilschuld" an "Jack the Ripper", denn ohne Medien ist Jack the Ripper wie wir ihn "kennen" nicht denkbar.

Saturn

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Re: Ein paar unwichtige Gedanken zu den Zeitumständen...
« Antwort #7 am: 18.05.2010 11:46 Uhr »
Der Mörder und die Opfer existierten, keine Frage, aber Jack the Ripper ist ein Produkt der Medien.

Absolute Zustimmung! Das kann ich gar nicht oft genug sagen. Die Medien haben eine "Teilschuld" an "Jack the Ripper", denn ohne Medien ist Jack the Ripper wie wir ihn "kennen" nicht denkbar.

Hallo,

und diese "mediale Mythos-Erschaffung" wurde auch noch lange nach den Ripper-Morden munter weiter betrieben und dauert auch immer noch an. Denkt nur mal an das Bild von JtR in der heutigen Zeit. Ein hochgewachsener Gentleman in schwarzem Cape mit Zylinder und Stock. Quasi der "Mephisto des 19./20. Jhd". Ich glaube kaum, daß in 100 Jahren heutige, ähnliche Serienmörder wie z.B. Charles Manson, regelrecht "glorifiziert" werden, wie das bei JtR in Film, Funk und Fernshen geschieht.

Grüße
Saturn