Hallo!
Einer der wenigen Fakten, die im Fall der Morde in Whitechapel als gesichert gelten, ist der, dass es sich bei dem, den man später „
Jack the Ripper“ nannte und bis heute nennt, zumindest um den Mörder von
Mary Ann „Polly“ Nichols handelt.
Leider sind ja gerade in diesem Fall nicht allzu viele Hinweise und Fakten zu finden, umso wichtiger jedoch scheint es mir, jedem einzelnen davon nachzugehen....
Wenn man nun diverse Zeugenaussagen mal zur Seite lässt: Was lässt sich über die Situation in Whitechapel in jener Nacht noch sagen? Was war das für eine Nacht, in der die arme Polly Nichols sterben musste?
Was weiß man noch über die Bedingungen in jener Nacht, außer, dass am Tag zuvor auf einen klaren Morgen ein Gewittersturm am Nachmittag folgte, der Rest des Tages „showery“ verlief, die Sonne um 19.24 Uhr unterging, der Himmel zu 30% bewölkt und der Mond nur zu 41% beleuchtet war?
Gibt es noch irgendetwas anderes, das Einfluss auf den Mörder gehabt haben könnte? Nun ja, es war garantiert keine Nacht wie jede andere:
Es war die Nacht der Feuer in den Londoner Docks.Gleich vorweg: Zu behaupten, dass es sich bei dem „
Teufel von Whitchapel“ auch um einen „
Feuerteufel“ gehandelt hat, der extra die Docks in Brand steckte, um ungestörter seinem kranken „Werk“ nachgehen zu können, wäre jetzt natürlich komplett absurd, aber die
hypothetische Frage, die ich mir gestellt habe, war,
ob auch der Ripper (und damit die Ausführung der Tat) in irgendeiner Art und Weise von den Feuern in den Londoner Docks beeinflusst worden/gewesen sein könnte (vor allem, wenn man davon ausgeht, dass er gerade in dieser Nacht zum ersten Mal „zuschlug“), und ich denke, dass sie definitiv mit „ja“ zu beantworten ist.
In Folge habe ich mal einiges zusammengetragen, das uns bei der Frage weiterhelfen könnte, in wie weit diese Feuer in den Docks (es sollen 2 gewesen sein) Einfluss auf den Mörder gehabt haben könnten:
Zunächst einmal ein
Artikel vom East London Advertiser über eines der Feuer (ich habe mir die Mühe gemacht, ihn für hier zu übersetzen):
East London Advertiser,
Samstag, 1. September 1888
GROßES FEUER IN DEN LONDONER DOCKS
Donnerstag Nacht brach kurz vor 21 Uhr ein Feuer in einem der großen Lagerhäuser der Londoner Docks aus. Die Docks wurden wie üblich um 16 Uhr nachmittags geschlossen, und mit Ausnahme der Nachtpolizisten bleiben dann nur wenige Personen in den Betriebsräumen. Um etwa 20.30 wurde der Geruch von Feuer bemerkt und kurz danach loderten immense Flammen vom Dach eines der gewaltigen Gebäude direkt im Zentrum der Docks. Das Ausmaß des Feuers war furchteregend, aber um 21 Uhr hatten die Obrigkeiten der Feuerbrigaden noch immer nicht von dem Ereignis gehört.
Kurz danach wurde in der Whitechapel Station Alarm ausgelöst, die Beamten der Brigade beorderten umgehend jedes Löschfahrzeuge zum Ort des Geschehens und das Kursieren der Nachricht unter den anderen Feuerwachen sorgte dafür, dass Feuerwehrwagen aus allen Bezirken Londons entsandt wurden.
Beim Eintreffen der Maschinen wurde festgestellt, dass ein Feuer von enormer Kraft in den oberen Stockwerken eines großen Gebäudes von 150 Yards Länge und halber Breite wütete. Die Flammen hätten in keinem gefährlicheren Teil der Docks ausbrechen können, als am Ort dieses Feuers - dem South Quai Lagerhaus. Die oberen Stockwerke waren mit Kolonialprodukten angeräumt, während in den unteren Brandy und Gin gelagert waren. Durch die großen, mit Eisen-Gitter versehenen Fenster konnte man das Feuer wie in einem Hochofen lodern sehen, und die enormen Zungen von bläulichen und gelblichen Flammen, die konstant mit lautem Getöse emporschossen, wiesen auf den Fakt hin, dass die Spirituosen dem Fortschreiten der Flammen hilfreich waren.
Allmählich ging Feuerwehrwagen nach Feuerwehrwagen ans Werk, da absehbar war, dass nur eine große Wassermasse in der Lage wäre, das Feuer zu bändigen, und um 22 Uhr war das komplette, beachtliche Aufgebot von 12 Löschfahrzeugen, neben einigen Hydranten, mit den Flammen beschäftigt.
In den Pausen wurden im großen Gebäude, in das Güter mittels Dampfkränen befördert werden, Ausgänge durchbrochen, Türen eingeschlagen und dem Feuer von Angesicht zu Angesicht begegnet. Das Vorgehen von Mitgliedern der Brigade war immer dann besonders aufregend, wenn sie den Versuch unternahmen, riesige Tore aufzubrechen, durch deren Risse man ein heftiges Feuer wüten sehen konnte. Das Szenario um 22.30 war ein imposantes. In den riesigen mit Waren von unberechenbarem Wert gefüllten Docks mit gewaltigen Gebäuden an jeder Seite und großen Schiffen in den geschlossenen Hafenbecken halfen Polizisten, Feuerwehrleute und Dockaufseher den Bemühungen, das Feuer zu löschen, oder sahen dabei zu, während sich eine Menschenmenge ernormen Ausmaßes um die großen Tore versammelte und das Fortschreiten des Feuers aus der Ferne beobachtete. In einem großen Lagergebäude nahe des Feuers wurden die Löschfahrzeuge in kleinen Zweier- oder Dreier-Gruppen aufgestellt, und pumpten fortlaufend mit ohrenbetäubendem Lärm, während die Pferde, die man ausgespannt hatte, ruhig und in Paaren an jeder Ecke standen.
Das Wasser ergoss sich in Sturzbächen über die Granitsteine der Docks, und die gesamte Szene wurde vom Feuer darüber hell beleuchtet.
Die große Frage war, wie weit sich das Feuer ausbreiten würde, aber die Meinung von einem der Experten, dass, „wenn sich ein Loch direkt hineinschlagen ließe, alle Feuerwehrwagen ans Werk gehen könnten“, ließ sich mit fortschreitender Nacht langsam, aber sicher erfüllen. Gegen 23 Uhr nahm die Heftigkeit, mit der das Feuer brannte, ab, und die Feuerwehrleute konnten sogleich die offizielle „Stop“-Nachricht kursieren lassen und bekannt geben, dass die beiden oberen Stockwerke des Vorratlagers nahezu ausgebrannt, und Teile des Dachs zerstört sind. Um Mitternacht jedenfalls war das große Aufgebot an Feuerwehrleuten und Löschkräften nach wie vor im Einsatz.(Wer den englischen Originaltext lesen will, findet ihn hier:
http://www.casebook.org/press_reports/east_london_advertiser/ela880901.html )
Das Feuer und alle damit in Verbindung stehenden Phänomene waren, wie ich auch anderen Berichten (die ich leider nicht mehr finden kann) entnehmen konnte, in einem großen Umfeld wahrzunehmen: Vom Rauch über die Färbung des Himmels, bis hin zu dem hohen Aufgebot an Einsatzkräften und einer Masse von Schaulustigen, die sich alle nach Süden bewegten -
man weiß zumindest von 2 für die späteren Ermittlungen in der Mordserie interessanten Personen, die in jener Nacht aufbrachen, um das Feuer in den Docks aus der Nähe zu sehen, und die erst spät des nächtens heimkehrten:
Zum einen ist da Mary Ann Nichols Zimmerkollegin
Ellen „Emily“ Holland. Sie war gerade am Rückweg vom zweiten Feuer an den Shadwell Dry Docks zu ihrer Unterkunft in der Thrawl Street, als ihr Polly um 2.30 Uhr an der Ecke Osborn Street und Whitechapel Road begegnete.
Zum anderen
John „Leather Apron“ Pizer, für den das Feuer sogar sein Alibi für die Mordnacht lieferte. Beim I
nquest zum Mord an Annie Chapman äußerte er sich wie folgt (habe ich auch schon mal übersetzt, der Originalwortlaut ist hier zu finden:
http://www.casebook.org/official_documents/inquests/inquest_chapman.html )
Zeuge: Ich wohnte in einem Common-Lodging-Haus, das „the Round House“ genannt wird, und sich in der Holloway-Road befindet.
Coroner: Haben Sie in dieser Nacht dort geschlafen?
Zeuge: Ja.
Coroner: Um welche Uhrzeit haben Sie es betreten?
Zeuge: In der Nacht des Londoner Dock Feuers ging ich in etwa um 2 Uhr oder Viertel nach hinein. Das war am Freitagmorgen.
Coroner: Wann haben Sie das Lodging-Haus wieder verlassen?
Zeuge: Um elf Uhr vormittags am selben Tag. Auf den Plakaten las ich: „Ein weiterer schrecklicher Mord!“.
Coroner: Wo waren Sie am Freitagmorgen vor 2 Uhr?
Zeuge: Donnerstag nahm ich gegen 23 Uhr mein Nachtmahl im Round House ein.
Coroner: Sind Sie ausgegangen?
Zeuge: Ja, bis zur Seven-Sister-Road, und dann ging ich die Holloway-Road in Richtung Highgate-Way zurück. Als ich abbog, sah ich die Reflektion eines Feuers. Als ich bei der Kirche in der Holloway-Road ankam, sah ich zwei Constables, die sich mit dem Aufseher des Lodging-Houses unterhielten. Da könnten ein oder zwei Constables gewesen sein, kann ich nicht sagen. Ich fragte einen Constable, wo denn das Feuer war, und er sagte, es wäre schon ein weites Stück entfernt. Ich fragte, wo er denn dachte, dass es sei, und er antwortete: „Unten, bei den Albert Docks.“ Meiner Erinnerung nach war das in etwa um 1.30 Uhr. Ich ging bis zur Highbury Rail Station auf der gleichen Straßenseite, kehrte dann um und ging dann ins Lodging House.Objektiv betrachtet macht der Miteinbezug des Feuers in den Docks den Fall leider eher noch ein wenig komplizierter, als er ohnedies schon ist: Viele Aspekte der Tat könnten in irgendeiner Art und Weise davon beeinflusst worden sein: Die Wahl des Tages, der Uhrzeit, die Wahl des Ortes, im Falle eines Wiederholungstäters (soll heißen: eines Täters, der bereits vor dem Mord an Nichols zu Werke schritt, woran ich nicht wirklich glaube) sogar die Änderung des Modus Operandi. Ich habe die Rückschlüsse, die sich auf einen vom Feuer beeinflussten Täter selbst, auf sein Motiv und seine Vorgehensweise in Hinblick auf verschiedene Theorien ziehen lassen, ursprünglich sehr weit durchdacht, im Endeffekt blieben aber nur die eigentlich ohnedies wahrscheinlichen Feststellungen übrig, (1.) dass die Tat dann zumindest mit Vorsatz verübt worden sein muss, und (2.) dass der Täter sein Opfer aufgrund der Gegebenheiten "aussuchte", also davor nicht kannte. Dennoch könnten weitere Überlegungen zumindest hilfreich sein, die Ursache bestimmter Faktoren, die manch absolut formulierte Theorie irgendwie anders zu erklären versucht, auch im London Dock Fire zu finden, bzw eigene Theorien auch in Bezug auf das Feuer zu reflektieren.
Da der Mord ja stattgefunden hat, ist eher davon auszugehen, dass,
wenn der Mörder vom Feuer beeinflusst worden ist, er die
Bedingungen in dieser Nacht als eher „günstig“ einstufte, zumindest an dem Ort nördlich der Whitechapel Road, an dem er seine Tat letztendlich verübte. Interessant wäre es nun noch genauer zu wissen, wie etwaige "spezielle" Konditionen an diesem Tatort und seiner Umgebung zur Tatzeit tatsächlich ausgesehen haben könnten?
- Waren da mehr Menschen (potentielle Opfer/Zeugen) zu späterer Stunde auf den Straßen als üblich, oder sogar weniger?
- Gibt es andere Berichte, bzw Berichte über vergleichbare Ereignisse, bei denen die Auswirkungen auf die Stadt näher beschrieben werden? (Ja, aber wo hab ich die gelesen?
)
- In wie weit hatte das Feuer nun konkret Einfluss auf das Polizeiaufgebot in Whitechapel (in Bezug auf Verfügbarkeit, Überschaubarkeit, Frequenz der Kontrollgänge, Konzentration und Ermüdung) und war dieser tatsächlich zu bemerken oder nur anzunehmen?
- Wann wurde das Feuer nun tatsächlich komplett unter Kontrolle gebracht? (Waren da noch immer Schaulustige anwesend?)
In
Bezug auf die anderen Verbrechen wäre ferner interessant:
- Gab es auch bei späteren Morden irgendwelche „
Events“, aufgrund derer sich der Täter in besagten Nächten sicherer fühlen konnte, als an ereignislosen Tagen?
(Tabram, die ich persönlich eher nicht zu den Opfern des Nichols-Mörders zähle, wurde ja an Bank Holiday getötet. Dass der Ripper aber eventuell auch die Aufregung um den Mord eines Trittbrettfahrers (= Stride´s Ermordung, vorausgesetzt, sie wäre ein solcher gewesen) als günstige Ablenkung von einem nördlicheren Gebiet ansah, ist wohl ausgeschlossen, zudem hätte er sich ja dann auch gewaltig im District geirrt – vielleicht aber wurde Eddowes´s „Auftritt“ als Sirene eines Löschfahrzeuges von eben einem solchen am Weg zu einem Einsatzort inspiriert?)
Und dann sind da noch ein paar Fragen, die mir in den Sinn kamen:
Wie hoch ist eigentlich die Chance, dass Emily Holland nicht die letzte Person war, die gerade vom Feuer in den Londoner Docks zu ihrer Unterkunft zurückkehren wollte, als ihr Polly Nichols zufällig begegnete? Wo könnte die Unterkunft einer angenommenen Person gelegen haben, die aus Richtung der Docks kommend an der Whitechapel Road so etwa in Höhe der Buck´s Row auf Polly Nichols traf (unter anderem unter dem Aspekt, diese müsse sich auch vom Mitre Square in Richtung Goulston Street erreichen lassen)?
Welche bekannten Verdächtigen wären dort zu finden, welche nicht?
Eine Menge offener Fragen, jedenfalls....wie überall in diesem Fall.
best regards,
panopticon
P.S.: Ich habe dies hier gepostet (und nicht unter Mary Ann Nichols), da sich in diesem Zusammenhang auch Fragen bezüglich anderer Morde, bzw dem Täter im Allgemeinen ergeben könn(t)en.