Hallo zusammen!
Hier ein paar Überlegungen zur geheimnisumwobenen misslungenen Identifizierung von Andersons Verdächtigem und dem Macnaghten Memorandum:
Am 13. Februar 1891 wird Frances Coles ermordet. Die Polizei versucht Thomas Sadler als Mörder seiner Ex-Freundin zu überführen. Im Zuge ihrer Ermittlungen greift sie u.a. auch wieder auf Zeugen der Ripper-Morde zurück, um zu überprüfen, ob Sadler nicht vielleicht der Ripper war. Dabei wäre es plausibel, dass sie diese nicht nur zur Gegenüberstellung eines einzelnen Mordverdächtigen heranzogen, sondern aus praktischen Gründen gleich für mehrere, die sie noch auf ihrer Liste hatte. Diese Vorgehensweise dürfte sie auch schon nach dem Mord an Alice McKenzie am 17. Juli 1889 praktiziert haben - sie hatte ja wieder einen konkreten Anlass und guten Grund, sich alte Zeugen und Verdächtige erneut vorzunehmen.
Jedenfalls erscheint es gut möglich, dass die mysteriöse Seaside Home Identifizierung, auf die Anderson und Swanson sich bezogen, im Zuge einer dieser beiden Ermittlungen mit neuen Gegenüberstellungen geschah - also irgendwann zwischen Juli 1889 und Mitte 1891.
Allzuviel später kann es schwerlich gewesen sein, denn ab 1892 wurde die Ripper-Akte nicht mehr weiter geführt, und der Verdächtige soll ja schließlich nach der misslungenen Gegenüberstellung erst vorübergehend zurück zum Bruder gebracht (überwacht von der CID) und dann schon bald in die Anstalt gekommen sein, was ein plausibler Grund dafür wäre, dass die Ermittlungen 1892 ausliefen.
Daraus ergibt sich jetzt nur das Problem, warum Macnaghten in seinem Memorandum vom 23. Februar 1894 lediglich so vage von "besseren" Verdächtigen als Cutbush schreibt und gleich drei Personen auflistet, von denen zwei zudem recht weit hergeholt scheinen: Ostrog wurde nie offiziell wegen der Ripper-Morde zur Fahndung ausgeschrieben und Druitt wurde unseres Wissens von den Ermittlern nie ernsthaft verdächtigt, lediglich von Macnaghten wegen irgendwelcher "privater Informationen". Nur "Kosminski" kann darin ernst genommen werden. Das erscheint doch ziemlich seltsam.
Wenn die mysteriöse "Identifizierung" so eindeutig gewesen wäre, wie Anderson das später darstellte, wieso hat Macnaghten sich dann im Memorandum nicht einfach auf den sicher in der Anstalt verwahrten Hauptverdächtigen "Kosminski" beschränkt? Und wieso gab es so viele Jahre lang unter den Ermittlern noch so viele verschiedene Theorien?
Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich Anderson nicht mag. Er fuhr während der Ripper-Morde zuerst mal gemütlich in Urlaub und musste zurückbefohlen werden, um seine Arbeit zu machen, und seine Äußerungen über Juden deuten auf antisemitische Vorurteile hin. Inspector Reid sah sich gar genötigt, die jüdische Gemeinde gegen Andersons pauschalisierende Äußerungen zu verteidigen. Dies wirft m.E. schon mal ein eher unerfreuliches Licht auf seine Einstellung, Objektivität und Glaubwürdigkeit.
Alle anderen Beamten äußerten sich wesentlich vorsichtiger über ihre Verdächtigen, nur er tat so, als wäre die Identität des Rippers eigentlich gelüftet und es hätte lediglich nicht genügend gerichtsfeste Beweise zur Eröffnung eines Prozesses gegeben. Dem widersprechen aber nicht nur die Formulierungen im Macnaghten-Memorandum, sondern auch die ganzen unterschiedlichen Theorien der anderen am Fall beteiligten Polizisten.
Ob Swanson nun ganz hinter Anderson stand oder er in seinen Marginalien nur dessen Geschichte detaillierter darstellte, bleibt m.E. offen. Es kann gut sein, dass Swanson dort lediglich Andersons Erzählung weiter ausgeführt hat: Er machte diese Randnotizen ja allein für sich. Wenn er die Aussagen Andersons vollständig geteilt hätte - wären dann solche "Erinnerungshilfen" notwendig gewesen? In so einem spektakulären Fall?
Es gibt nun vier alternative Erklärungsmöglichkeiten dafür, warum Anderson sich so sicher zeigte, während der Rest der Polizei eher vorsichtig formulierte und auch zum Teil unterschiedliche Ansichten hatte:
1. Anderson hat seine Vorurteile für Tatsachen gehalten. Zu dieser Interpretation würden seine pauschalisierenden Äußerungen über Juden passen.
2. Er hat Vermutungen als Tatsachen hingestellt, damit er und/oder die Polizei besser dasteht. Auch dazu würden gewisse seiner Verhaltensweisen und Äußerungen passen.
3. Er wusste etwas, das die anderen nicht wussten. Dies würde bedeuten, dass er gegenüber anderen Teilen des Polizeiapparats gewisse Informationen zurückgehalten hat.
4. Ein bisschen von allen drei Punkten.
Wenn es mehrere Gegenüberstellungen gab, so kann es natürlich sein, dass sie tatsächlich einen Zeugen fanden, der eine Person wiedererkannte, die - aus welchen Gründen auch immer - in Tatortnähe gewesen war. Inwieweit die Reaktion des Zeugen und des Verdächtigen aber eindeutig waren oder nur Interpretation der beteiligten Polizisten, und wie nahe der Zeuge diese Person tatsächlich an eine mögliche Täterschaft brachte, können wir schlecht einschätzen. Vielleicht war der Zeuge sich einfach nicht sicher genug, um jemanden eines so schwerwiegenden Verbrechens zu bezichtigen, vielleicht stimmt aber auch Andersons Behauptung, dass der Zeuge sich aus einer Verbundenheit zum Verdächtigen heraus weigerte.
Wenn Anderson selbst bei der Gegenüberstellung dabei war, könnte das zumindest seine Sicherheit erklären, weil er die Reaktion mit eigenen Augen sah (oder sie einfach falsch interpretierte).
Jedenfalls könnte ich mir gut vorstellen, dass ein Mensch von der offensichtlichen Eitelkeit Andersons selbst dabei sein wollte und als es dann schiefging, nach seinen Vorstellungen umdeutete, dass er diese vorübergehende Niederlage unter den Teppich zu kehren versuchte, es bei der geringen Anzahl von Mitwissern über die misslungene Gegenüberstellung beließ, die Ermittlungen gegen "seinen" Verdächtigen weiter betrieb, und hoffte den Fall vielleicht schließlich doch noch zum Erfolg führen zu können.
Infolge dessen hätten nur die unmittelbar Beteiligten genaueres von dieser Gegenüberstellung gewusst, und für die anderen im Polizeiapparat wäre Andersons Hauptverdächtiger lediglich als ein weiterer Verdächtiger unter mehreren weiter gelaufen, und die anderen hätten weiter ihre eigenen Theorien verfolgt.
Als Andersons Verdächtiger dann schließlich in der Irrenanstalt landete und keine weiteren Ripper-ähnlichen Morde mehr passierten, konnte er sich in seinen Ansichten bestätigt fühlen.
Da Macnaghten ja nie an den Ermittlungen beteiligt und stattdessen weitgehend auf seine Kollegen und die Akten angewiesen war, die man ihm vorlegte, hätte Anderson seinen Verdächtigen schließlich auch mit ins Macnaghten-Memorandum bringen können. (Vielleicht sogar absichtlich mit so schlechten anderen "Verdächtigen", dass "seiner" am plausibelsten erschien?) Angesichts der Selbstsicherheit, mit der er später über seinen Verdächtigen schrieb, würde es mich jedenfalls nicht wundern, wenn er ihn auch für das Memorandum "gepusht" hätte. Auffallend ist ja, dass in Macnaghtens Entwurf noch konkret Bezug auf den mysteriösen Zeugen vom Mitre Square genommen wird, aber in der Endfassung schließlich nur noch vage von "many circs" die Rede ist, was ja schon eine gewisse Abschwächung von Macnaghten bedeutet.
Jedenfalls erzählte Anderson dann später bei jeder sich bietenden Gelegenheit: "Ja, eigentlich hatten wir ihn entlarvt, leider ist der Zeuge eingeknickt, dadurch hatten wir keine ausreichenden Beweise für eine Anklage, aber immerhin haben wir ihn überwacht, so dass er nichts mehr anstellen konnte, und kurze Zeit später wurde er in einer Anstalt weggeschlossen." So steht man dann nicht mehr als vollständiger Versager da, denn Schuld waren ja andere.
Worauf ich hinaus will:
Möglicherweise sind die scheinbar unabhängig voneinander auftauchenden Hinweise auf Andersons Hauptverdächtigen gar nicht so unabhängig voneinander, sondern stammen in Wirklichkeit nur aus der Quelle Anderson selbst, der seine persönliche Täter-Theorie pushte - und der Verdächtige, auf den er sich fokussiert hatte, war nur einer von mehreren, mit denen es damals Gegenüberstellungen gab.
Hier übrigens noch ein interessanter Artikel mit dem Titel "Anderson's fairy tales":
http://www.jtrforums.com/showthread.php?p=164681#post164681MfG, Arthur Dent