Gedanken zu Mary Jane Kelly † 09.11.1888
Sie bleibt das größte Rätsel in der Geschichte des „Autumn Of Terror“ von London 1888.
Mary Kelly war deutlich jünger als die vorherigen Opfer und wurde als einzige nicht auf der Straße, sondern in ihrer eigenen Wohnung ermordet. Im Laufe der Zeit wurde sie vermutlich immer idealisierter dargestellt: jung, attraktiv, singend. Kelly jedoch lebte in der übelsten Straße eines Slums und hatte hohe Mietschulden für ihr schäbiges Quartier. Einzig, sie war noch kein Wrack, wie es z.B. Eddowes oder Nichols waren. Die Mietschulden (trotz Prostitution) lassen einen hohen Alkoholkonsum vermuten. Tatsächlich war sie oft betrunken gesehen worden und galt in diesem Zustand als streitsüchtig. Auch in der Mordnacht erschien sie den späteren Zeugen betrunken.
Die letzten Tage vor ihrem Tod lebte sie scheinbar allein in ihrem trostlosen Loch im Miller's Court 11, Dorset Street, obwohl vorher oftmals eine Freundin bei ihr übernachtete.
Ob sie auch eine lesbische Tendenz hatte, bleibt unbeantwortet. Vielleicht ließ sich zu zweit einfach mehr verdienen. Ihr Partner, Joseph Barnett, verließ deshalb im Streit die gemeinsame Wohnung. Zu dritt im Bett in einem winzigen Zimmer, das konnte er nicht verkraften.
Barnett gab der Polizei später an, dass im Streit mit Kelly eine Fensterscheibe der ebenerdigen Wohnung zu Bruch ging (siehe das berühmte Miller's Court Foto) und deshalb mit einem Vorhang überdeckt wurde. Auch sprach er vom Verlust des einzigen (?) Schlüssels der Wohnung kurze Zeit vor dem Mord. Die Aussagen einiger Zeugen der Mordnacht sind nicht weiter von Belang, zum Teil ohnehin unglaubwürdig (insbesondere Hutchinson).
Die Möglichkeit, der Täter wäre durch das Fenster eingestiegen, wird immer wieder kolportiert.
Ein Griff durch das Loch im Fenster.....aber ganz in der Nähe des Fensters stand ein kleiner Tisch. Konnte das ohne Lärm gelingen? Die Tür war nicht verschlossen! Das konnte der Mörder natürlich nicht wissen – oder etwa doch?! Denn die Tür war nach dem Mord rätselhafterweise verschlossen und musste aufgebrochen werden!
Stieg der Mörder durchs Fenster ein, wobei er über einen Tisch hinweg musste?
Nicht sehr wahrscheinlich, zudem er im Hof hätte gesehen werden können.
Brachte Kelly den Mörder selbst mit ins Haus?
Möglich, doch der Zeuge Hutchinson ist sehr unglaubwürdig. Auch mordete der Ripper bislang in den Straßen.
Betrat der Mörder tief in der Nacht das unverschlossene Zimmer und ermordete Kelly im Schlaf?
Das halte ich für die wahrscheinlichste Variante.
Und hier betritt nun Joseph Barnett die Bühne.
Barnett, nicht Jack The Ripper! Joseph Barnett galt als anständiger Mann, hatte als Fischträger am Markt eine recht gut bezahlte Arbeit. Er muss Kelly einst geliebt haben. Nicht lange vor dem Mord jedoch, verlor Barnett seine Arbeit am Markt, was viele als Folge eines Diebstahls auslegen.
Brauchte er Geld für Kelly? Mary Kelly trank viel und ging immer wieder der Prostitution nach. Das Leben des Joseph Barnett geriet aus den Fugen. Insbesondere zerstritten sich Barnett und Kelly wegen der anderen Prostituierten, die bei ihr übernachten durften.
Der scheußlichste Mord Jack The Rippers war in Wirklichkeit eine Beziehungstragödie - oder vielleicht sogar noch mehr......
Die Zeugin Prater, ebenfalls Mieterin im Miller's Court 11, hörte gegen 04.00 Uhr den Ruf
„Oh, Murder“, kümmerte sich aber bekanntlich nicht weiter darum, weil Rufe dieser Art in jener Gegend oft vorgekommen wären. Ich rätselte oft darüber, warum die Leiche Kellys derart entstellt wurde. Das bis zur Unkenntlichkeit zerschnittene Gesicht der Frau könnte jedoch einen Sinn haben – dazu später mehr.
Ihre „Identifizierung“ (durch Barnett!) an Hand der Augen und Ohren kann man schon als Farce bezeichnen – siehe Foto der Leiche!
Ob er den Mordgedanken bereits hatte, als der Schlüssel „verloren“ ging? Den Schlüssel hatte Barnett, da bin ich mir sicher. Ging es ihm (zuerst) nur darum, Zutritt zur Wohnung zu behalten?Oder gehörte der verlorenen Schlüssel gar zu einem noch raffinierteren Plan?
Barnett wurde von der Polizei intensiv verhört, seine Kleidung kontrolliert, sein Alibi überprüft.
Der Polizei erschien er nicht verdächtig. Allerdings verschließt sich eine Tür nicht von selbst, was einen Fremden als Täter praktisch ausschließt. Die Polizei erfuhr durch Barnett von diesem verlorenen Schlüssel, es gibt nichts, was die Richtigkeit dieser Angabe bestätigt.
War das alles ein Versuch, die allgemeine Verwirrung zu erhöhen? Den Beamten erschien Barnett glaubwürdig, zumal die Polizei nach einer „Bestie in Menschengestalt“ fahndete, dem Barnett bestimmt nicht entsprach. Als Täter sah ihn niemand, da er nicht für einen Serienmörder gehalten werden konnte. Doch der Mord im Miller's Court gehörte nicht zu einer Reihe von Morden!
Kellys Leiche wurde das Herz entnommen. Einem Serienmörder kann man „Trophäensammeln“ unterstellen, was oft vorkommt. Welche Bedeutung konnte es bei Kelly haben? Unbekannt!
Oder verbrannte das Herz gar in dem Kessel über dem offenen Feuer, welches so heiß war, dass gelötete Nähte des Kessels schmolzen? Da bliebe nur ein kleiner Klumpen übrig, unidentifizierbar.
Die verbrannte Stoffreste im Feuer, blutige Kleidung des Täters? Unbekannt.
Oft wird von dem „großen Risiko“ des Mörders gesprochen. Wer immer den Stoff beiseite geschoben hätte, der das Loch im Fenster verdeckte, er hätte „Jack The Ripper“ bei seiner furchtbaren Arbeit gesehen! Hätte, könnte, würde haben..... Blödsinn! Mal im Ernst, Du gehst des nachts spazieren und bemerkst irgendwo ein Loch in einer Fensterscheibe. Versuchst Du nun das Fenster zu öffnen, um in die Wohnung hinein zu sehen? Quatsch! So etwas macht man einfach nicht – schon gar nicht, wenn Licht hinter dem Fenster zu bemerken ist (offenes Feuer in Kellys Zimmer). Also, wenn jemand zu Hause sein müsste. Bestenfalls Einbrecher verhalten sich derart, wo war also bitte das „große Risiko“ für den Mörder?
Jetzt kommen wir aber zu der entscheidenden Weichenstellung des Mordes im Miller's Court,11.
War das Opfer überhaupt Mary Jane Kelly?
Dieser Gedanke ist ja nicht völlig neu, wird aber viel zu wenig Ernst genommen. Vermutlich, weil er viele Theorien über das Mysterium „Jack The Ripper“ gefährden würde.
Das Opfer war vielleicht eine der Prostituierten, die Kelly in letzter Zeit bei sich übernachten ließ. Der Mörder war Barnett und der Mord eine Art letzter „Liebesdienst“ für Kelly oder auch Teil eines raffinierten Plans. Kelly wurde ein neues Leben ermöglicht!
Der nächtliche Ruf „Oh, Murder“ - was „Mord“ bedeutet und der, wie die Zeugin aussagte, nicht sehr laut war. Also, vor Dir im Zimmer steht ein Mann mit einem Messer bewaffnet und Du schreist in diesem Moment nicht einfach drauflos? Dieses „Mord“ mit gedämpfter Stimme passt nicht.
Die Zeugin Prater wohnte übrigens direkt über der Wohnung von Kelly.
Mir drängt sich seit jeher der Verdacht auf, in diesem Augenblick wurde nicht etwa getötet, sondern der Mord entdeckt – und zwar von Kelly!
War Barnett noch im Raum? Ich vermute es. Er wird mit Kelly gesprochen haben. Gut möglich, dass Kelly beim Anblick der verwüsteten Leiche auch ohnmächtig wurde.
Mary Kelly hatte über drei Monate hinweg hohe Mietschulden angehäuft, die sie auch durch Prostitution nicht begleichen konnte. 35 Schilling, eine große Summe damals für Menschen in Whitechapel. Die Lebensbedingungen dort waren knallhart. Wer nicht zahlen konnte, flog raus. Egal, ob der Schuldner krank oder alt war oder Kinder hatte. Gerade diese herzlose „Grundordnung“ in Whitechapel macht die hohen Mietschulden Kellys so unverständlich.
Warum durfte sie trotzdem im Miller's Court wohnen bleiben?
Noch recht jung, halbwegs gesund und attraktiv, hätte sie woanders neu beginnen können, aber dafür musste sie erst einmal ihrem Gläubiger entkommen. Der „Tod“ half ihr dabei, in Person des Joseph Barnett natürlich. Dieser zerstörte auch Kelly in dieser Nacht, symbolisch.
Seine Wut und Frustration entluden sich. Deshalb diese unzähligen Verletzungen im Gesicht des Opfers. Niemand konnte wirklich sagen, wer die Tote war. Den Umständen nach musste es Mary Kelly sein, wer denn sonst? „Identifiziert“ wurde sie von Barnett.
Aber, Kelly wurde Stunden nach der errechneten Mordzeit gesehen – und nicht nur einmal!
Die Zeugin Maxwell sagte unter Eid aus, Kelly am nächsten Morgen gegen 8.00 vor dem Eingang zum Miller's Court gesehen und mit ihr gesprochen zu haben!
Es war der Tag der Lord Mayor's Show, ein bedeutender Feiertag, da ist nicht viel Platz für einen Irrtum. Kelly sprach davon, dass ihr übel war und sie sich übergeben hatte. Als Maxwell später zurückkehrte, sah sie Kelly ein zweites Mal, nun vor der Gaststätte „Britania“, wie sie mit einem Mann redete.
Der Schneider Lewis gab später an, Kelly an diesem Tag gegen 8.00 morgens gesehen zu haben, wie sie das Haus verließ. Auch will er sie später gegen 10.00 in einer Kneipe gesehen haben.
Auch eine andere Frau, namentlich nicht mehr bekannt, gab der Polizei gegenüber an, Kelly an diesem Tag kurz nach 8.00 gesehen zu haben.
Seltsam, dass man sich diesen Aussagen gegenüber so desinteressiert zeigte. Drei Personen, die Kelly fast zur gleichen Zeit (Stunden nach ihrem angeblichen Tod) gesehen haben, das klingt nicht nach Wichtigtuerei oder Irrtum.
Ihr Vermieter McCarthy gab an, dass Kelly Briefe aus Irland erhielt, die seinem Wissen nach von Kellys Mutter stammten. Barnett bestritt diese Briefe.
Die Leiche im Bett war unidentifizierbar. Half der „Tod“ Kelly, ihr Leben als Prostituierte hinter sich zu lassen und nach Irland zurück zu kehren?
Das hört sich heute kompliziert an. Frauen wie Kelly (siehe auch die anderen Opfer) besaßen nicht viel. In der Regel nicht einmal ein zweites Kleid oder ein zweites Paar Schuhe. Ihr Hab und Gut trugen sie ständig bei sich. Der Mord an einer „Kollegin“, vielleicht auch einer Geliebten Kellys sollte Barnett möglich gewesen sein. Er musste diese anderen Frauen hassen, zerstörten sie doch sein Leben mit Kelly und rissen diese immer tiefer in die Prostitution. Er war seit langem ein gedemütigter Mann.
Tot und damit auch schuldenfrei, konnte Kelly neu beginnen. Alles, was sie dafür benötigte, hatte sie. Jugend und eine gewisse Attraktivität. Befreit von ihrem bisherigen Vorleben, konnte sie auch im erzkatholischen Irland von vorn beginnen.
McCarthy – ihr Vermieter wird in letzter Zeit auch als Mörder Kellys gehandelt. Der „richtigen“ Kelly wohlgemerkt. McCarthy hatte es in Whitechapel zu etwas gebracht. Er war einer der „Macher“ dort und wusste mit Sicherheit seine Ellenbogen zu benutzen, um sich in der harten Welt des Slums durch zu setzen. So etwas wie Mieterschutz gab es damals nicht. Wer die Miete schuldig blieb, flog gnadenlos auf die Straße, egal, ob alte Menschen, kranke Menschen oder Familien. Hunderte, tausende schliefen nachts auf Parkbänken, auf Treppen, überall.
In dieser hartherzigen Welt brachte Kelly es fertig, die Miete für 3 Monate schuldig zu bleiben, ohne auf der Straße zu landen! Viele gehen seit jeher davon aus, dass Kelly ihrem Vermieter gefällig war, dieser gegen Sex bereit war, von einem Rauswurf abzusehen.
Wusste Kelly vielleicht mehr über ihn und seine Geschäfte? Versuchte sie, ihn zu erpressen?
McCarthy musste als Vermieter einen weiteren Schlüssel gehabt haben – verschlossene Tür!
Über den verlorenen Schlüssel war McCarthy sicher nicht informiert, denn es hätte Kellys Schulden ihm gegenüber noch erhöht. Drei Monate Mietrückstand – und ausgerechnet an Tag ihrer Ermordung, einem Feiertag, schickt dieser McCarthy einen seine Eintreiber, Bowyer, los, um das Geld einzufordern. Fast könnte man geneigt sein zu glauben, dieser Bowyer sollte den Mord entdecken – was er auch tat.
McCarthy als Mörder von Mary Kelly? Der Gedanke ist gar nicht absurd. Vielleicht sagte Barnett einfach die Wahrheit?
Vier Jahre nach dem Mord, also 1892, besuchte die kanadische Journalistin Kit Watkins den Miller's Court. Dort traf sie u.a. die damalige Zeugin Prater, die sie mit der Nachmieterin des Zimmers von Mary Kelly bekannt machte. Eine Frau namens Lottie Owen, die gerade eine gebrochene Nase kurierte, die von einem Stiefeltritt ihres Ehemannes herrührte..….
Frau Owen zeigte keine Scheu oder Beklemmung in dem Raum zu leben, in dem eine Frau geschlachtet wurde und an dessen Holzwänden noch deutlich eingetrocknete Blutflecke zu erkennen waren. McCarthy hatte den Raum in keinster Weise renovieren lassen und es ist durchaus wahrscheinlich, dass das Ehepaar Owen an dem Tisch zu Mittag aß, auf dem einst die abgeschnittenen Brüste einer Frau lagen.