Autor Thema: Wir basteln uns einen Verdächtigen  (Gelesen 10333 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Offline Shadow Ghost

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 624
  • Karma: +3/-0
Wir basteln uns einen Verdächtigen
« am: 12.10.2014 22:13 Uhr »
Ich denke, es ist an der Zeit, dass unser Forum auch einen neuen Verdächtigen produziert. Wir werden den Fall so sicherlich nicht lösen, aber vielleicht lernen wir auf diese Weise etwas über bestimmte Mechanismen und Kriterien.

Ausgangspunkt soll folgende Meldung sein:

Daily News
12 October 1888

AN EAST-END SUICIDE.- The particulars of a case of suicide, which took place at No. 65, Hanbury-street, Spitalfields, a house a few doors away from the spot where the unfortunate woman Annie Chapman was murdered, reached Dr Macdonald, the coroner for North-east Middlesex, yesterday. It appears that the top floor of the address is occupied by a silk weaver named Sodeaux, his wife, and child aged eight years. For some time past Mrs Sodeaux has been depressed, and since the perpetration of the horrible murders which have taken place in the district she has been greatly agitated. On Sunday she was found to have a razor in her possession, and it was taken from her, as it was thought she meditated suicide. The following day she appeared to be more cheerful, and was left alone with her child. On Wednesday, however, she left her room, saying she was going on an errand; but when some time had elapsed, and she did not return, her daughter went in search of her, and was horrified to find her hanging with a rope round her neck to the stair banisters. The child ran for assistance, but no one would go up to the body, and eventually the police were called in and the body cut down. Life was then extinct, but as the body was quite warm it is believed that, had assistance been rendered immediately on the discovery being made, the woman's life might have been saved.

Diese Meldung zog folgende nach sich:

North Eastern Daily Gazette
8 January 1889

FATAL RESULTS OF THE WHITECHAPEL PANIC
Information was conveyed to the coroner for North-East Middlesex yesterday that a weaver, named Joseph Sodeaux, living in Hanbury-street, Spitalfields, had hanged himself. He had been very despondent since the suicide of his wife, who hanged herself in the same way. The revolting murders and mutilations in the neighbourhood preyed upon her mind and she was afraid to go out. When the woman Chapman was murdered a few doors away Mrs Sodeaux took her own life.


Da haben wir also einen Menschen, der kurz nach dem Mord an Mary Kelly Selbstmord beging, womit wir das Ende der Mordserie erklären könnten.
Er wohnte im Herzen des East Ends und sogar in unmittelbarer Nähe zu einem Tatort. Gerade nach dem Mord an Annie Chapman in der Hanbury-street war es schon ziemlich hell, so dass der Mörder mit seiner blutverschmierten Kleidung nicht lange unbemerkt durch die Straßen wandern konnte. Da er aber in der Nähe wohnte, hatte er auch nur einen entsprechend kurzen Heimweg.
Zudem käme er auf dem Weg von Mitre-square zur Hanbury-street an der Goulston-street vorbei, wo er das Stück Schürze von Catherine Eddowes hinterließ.
Seine Frau war ihm nach dem double event darauf: The revolting murders and mutilations in the neighbourhood preyed upon her mind und hat sich das Leben genommen. Daraufhin ging es auch mit Mr Sodeaux bergab; bei dem Mord an Mary Kelly drehte er völlig durch, nur um sich daraufhin in den Selbstmord zu flüchten.

Also ich denke, da gab es schon schlechtere Kandidaten.

Ein hübscher side-kick ist noch, dass Sodeaux ein silk weaver war; vielleicht hat er also auch noch den Eddowes-Schal selbst hergestellt.

Offline Lestrade

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 2949
  • Karma: +14/-3
  • Watson, fahr schon mal die Kutsche vor...
Re: Wir basteln uns einen Verdächtigen
« Antwort #1 am: 13.10.2014 00:36 Uhr »
Ich hatte mir ja das 2014er “Jack The Ripper“- The Forgotten Victims“ Buch von Paul Begg & John Bennett zugelegt und bereits etwas darin gelesen. Gleich zum Anfang (Seite 3) zählte man dort Mary Burridge, Elizabeth Sodo und Fanny Hill (New York) zu den “vergessenen Opfern“ des Rippers. Durch eine körperliche Vorbelastung sowie durch Selbstmord starben Burridge und Sodo, Hill drehte durch. Alles geschah, weil ihnen die Ripper Morde offenbar große Angst machten. Als ich dann über Sodo etwas in Erfahrung bringen wollte, stieß ich auf deine Mrs. Sodeaux und Joseph Sodeaux. Dabei handelte es sich offensichtlich um Elizabeth Sodo und John Sodo aus der 65 Hanbury Street, die wenigstens 6 Kinder hatten. Sie nahm sich am 11. Oktober 1888 das Leben, er dann wohl am 6. Januar 1889. Hier, in den Postings Nummer 20 und 21, kann man einiges über die Untersuchungen erfahren:

 http://forum.casebook.org/showthread.php?t=1683&page=3&highlight=sodo

Zu Elizabeth Jessie Sodo:

“Her sister has attempted suicide and her uncle was insane”.

Sie wurde 50 Jahre, er 52 Jahre alt.

Was mich wunderte war, dass Paul Begg und John Bennett in ihrem Buch jedoch schrieben:

“She left behind an 8-year-old daughter and a widower, John, who was to die almost a year to the day later”.

Das “John Sodo died on 6th October 1889” findet man dann auch hier, mit Bezug auf die Ancestry Members Family Tree:

http://wiki.casebook.org/index.php/Elizabeth_Sodo#cite_note-2

Paul Begg ist ja für seine Sorgfältigkeit bekannt und deshalb wundert mich dieser Gegensatz. Da waren ja mehrere Kinder, u.a. ein Charles, und so einer machte ja auch bei der Untersuchung von John Sodo´s Tod seine Angaben. Es kann ja nur sein, dass der 6. Januar 1889 mit dem 6. Oktober 1889 verwechselt worden ist. Almost a year, wie von Begg/Bennett angegeben, kann doch einfach unter den Umständen nicht stimmen.

Aber meinst Du wirklich, dass ein 52jähriger Mann der Ripper war und blutbeschmiert zu seiner Frau und seinen Kindern nach Hause ging (okay, da gab es wohl einige Verwandte, zu denen diese am Wochenende oder am Feiertag hingegangen sein könnten aber dafür waren es wohl einfach zu viele)? Emma, wenn noch daheim, wäre 20 Jahre alt gewesen, Charles, der ja die gleiche Adresse angab, wäre 17 gewesen, John 14, Walter 12, Arthur 11 und Ada 8 Jahre. Ich meine, das war Hanbury Street, viel Privatsphäre wird John dort nicht genossen haben können. Klar, der Tatort von Chapman war nur 100 Meter weit weg, sicherlich machte das seiner Frau eine Heidenangst, gerade dann, wenn sie eh vorbelastet war. Auch nach Eddowes wäre er wohl ziemlich mit Blut befleckt gewesen, bei Kelly wohlmöglich auch. Dann müsste er schon ein Versteck irgendwo gehabt haben.

Sein Sohn sagte wohl aus:

“He has been very desponding since his wife hung herself in the same house in October last year. He said we should some day find him dead, as he could not live without his wife”.

Ein Jack the Ripper, der ohne seine Ehefrau nicht leben kann?
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Offline Shadow Ghost

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 624
  • Karma: +3/-0
Re: Wir basteln uns einen Verdächtigen
« Antwort #2 am: 13.10.2014 02:24 Uhr »
Aber meinst Du wirklich, dass ein 52jähriger Mann der Ripper war und blutbeschmiert zu seiner Frau und seinen Kindern nach Hause ging (okay, da gab es wohl einige Verwandte, zu denen diese am Wochenende oder am Feiertag hingegangen sein könnten aber dafür waren es wohl einfach zu viele)? Emma, wenn noch daheim, wäre 20 Jahre alt gewesen, Charles, der ja die gleiche Adresse angab, wäre 17 gewesen, John 14, Walter 12, Arthur 11 und Ada 8 Jahre. Ich meine, das war Hanbury Street, viel Privatsphäre wird John dort nicht genossen haben können. Klar, der Tatort von Chapman war nur 100 Meter weit weg, sicherlich machte das seiner Frau eine Heidenangst, gerade dann, wenn sie eh vorbelastet war. Auch nach Eddowes wäre er wohl ziemlich mit Blut befleckt gewesen, bei Kelly wohlmöglich auch. Dann müsste er schon ein Versteck irgendwo gehabt haben.

Sein Sohn sagte wohl aus:

“He has been very desponding since his wife hung herself in the same house in October last year. He said we should some day find him dead, as he could not live without his wife”.

Ein Jack the Ripper, der ohne seine Ehefrau nicht leben kann?


Nein, eher unwahrscheinlich!

Es sollte vielmehr auf eine Fingerübung hinauslaufen, wie man sich einen guten Verdächtigen basteln kann.

Wenn man nämlich noch von der Schreibweise Sodeaux ausgeht, könnte man auf einen französischen Ursprung schließen, womit man dann sagen könnte, dass der eigentliche Wortlaut des Goulston Street Graffito doch

The Juives are the men...

hätte lauten können.
Und durch seinen Job als silk weaver hätte man die Batty Street-Lodger Geschichte von wegen "arbeitete für einen Schneider im West End" usw mit einarbeiten können.

Letztlich aber ist das blutverschmierte heimkommen für jeden Ripper-Verdächtigen, der nicht gänzlich alleine wohnte, ein Problem; ebenso die mangelnde Privatsphäre. Mein Hinweis auf die örtliche Nähe war eher auf den Fluchtweg auf der öffentlichen Straße bezogen; und seine Familie hätte ja vielleicht noch geschlafen als er heim kam.

Ich wollte dem guten Mr Sodeaux sicherlich nichts böses unterstellen, er bot sich für diese Art von Spinnerei nur gerade an. Und zumindest wäre er ein besserer Verdächtiger geworden als van Gogh, Lewis Caroll, Prince Eddy und viele andere.

Offline Anirahtak

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 243
  • Karma: +0/-0
Re: Wir basteln uns einen Verdächtigen
« Antwort #3 am: 18.10.2014 12:23 Uhr »
...

Ich wollte dem guten Mr Sodeaux sicherlich nichts böses unterstellen, er bot sich für diese Art von Spinnerei nur gerade an. Und zumindest wäre er ein besserer Verdächtiger geworden als van Gogh, Lewis Caroll, Prince Eddy und viele andere.
:biggrin:

Dann mache ich mal weiter.

Der Selbstmordanlass des Mr Sodeaux ist ja noch nachvollziehbar, aber der seiner Gattin...? Das bisschen Depression sollte man im East End jener Zeit doch wegstecken können und dann noch and since the perpetration of the horrible murders which have taken place in the district she has been greatly agitated. Sehr verdächtig. Und wer sich so aufhängt, dass er bzw. sie vom eigenen Kind aufgefunden wird, ist doch auch zu allem anderen fähig.

Verdächtige gebastelt.

Offline Shadow Ghost

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 624
  • Karma: +3/-0
Re: Wir basteln uns einen Verdächtigen
« Antwort #4 am: 18.10.2014 14:01 Uhr »
Dann wäre Mary Kelly zwar von einem anderen ermordet worden, aber warum denn nicht.

Prinzipiell geht schon auch noch Mr Sodeaux. Sein Selbstmord hat weniger etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun, sondern mit seiner "Lebenskrise"; aber irgendetwas muss er ja den Kindern erzählen, warum er so schlecht drauf ist.

Diese Lebenskrise - deren Art und Ursache noch geklärt werden müsste - veranlasst ihn, Prostituierte im East End zu ermorden. Dort kennt er sich aus, dort wohnt er selbst. Nach dem double event kommt ihm seine Frau dahinter, hegt einen schlimmen Verdacht, stellt ihn womöglich zur Rede. Jedenfalls verkraftet sie das alles nicht und begeht Selbstmord. Danach verschärft sich die Lebenskrise des Mr Sodeaux und es kommt zum Höhepunkt im Mord an Mary Kelly. Was danach weiter mit seinem Verstand passiert, müsste man mit einem Psychologen klären, aber vielleicht verschaffte ihm das Morden von Frauen mehr Befriedigung, solange seine eigene Frau noch lebte. Bei Mary Kelly - die allein vom Opfertyp schon von den anderen Opfern abwich - merkte er dann, dass sich trotz des Auslebens seiner Maximal-Phantasie kaum eine Befriedigung oder eine Beruhigung seines getriebenen Verstandes einstellte, wodurch sich seine Krise so weit verschärfte, dass es in seinem Selbstmord endete.

Mrs Sodeaux war ja um die 50 Jahre alt, als sie sich das Leben nahm. Die Jack the Ripper-Opfer waren, in dem Zeitraum als Mrs Sodeaux noch lebte, in einem ähnlichen Alter. Das könnte ein Hinweis auf eine Art Stellvertreter-Morde sein. Vielleicht war sie ihm untreu, und er hat das gewusst.
Erst nach dem Tod von Mrs Sodeaux änderte sich dann der Opfertyp. Diese unmittelbare Bedrohung durch das Stellvertreter-Motiv könnte auch die Angst der Mrs Sodeaux erklären, die sich letztlich in den Selbstmord getrieben hat.
Der Opfertyp der Mary Jane Kelly würde vom Alter her vielleicht der ältesten Tochter Emma (20) entsprechen, so dass sich das Stellvertreter-Motiv eventuell weiter vererbt hätte. Psychologisch könnte man vielleicht noch ein Inzest-Motiv andenken.

Anything goes...

Offline Anirahtak

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 243
  • Karma: +0/-0
Re: Wir basteln uns einen Verdächtigen
« Antwort #5 am: 21.10.2014 22:50 Uhr »
Dann wäre Mary Kelly zwar von einem anderen ermordet worden, aber warum denn nicht.
Ja, die Freunde von Barnett als Täter bei Kelly sollen auch was davon haben.

Zitat
Prinzipiell geht schon auch noch Mr Sodeaux. ...
Und wie! Du musst unbedingt noch ein Buch dazu schreiben!