Autor Thema: Ein interessanter Online-Artikel vom "Spiegel"  (Gelesen 5491 mal)

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Andromeda1933

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Ein interessanter Online-Artikel vom "Spiegel"
« am: 15.05.2013 22:43 Uhr »
Die Fotos zum Artikel finden sich hier, sehenswert!

http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a25024/l0/l0/F.html



Aus SPIEGEL online
Verbrecherfotos aus dem 19. Jahrhundert Die traurigen Augen Englands
Sie schauen betrübt, stoisch, manchmal wütend: Eine britische Grafschaft hat ihr Gefängnisarchiv mit Verbrecherfotos aus dem 19.Jahrhundert digitalisiert. Die Bilder der Gefangenen zeigen das erschütternde Ausmaß der Kriminalität unter Königin Victoria - aber auch das Elend der Menschen. Von Danny Kringiel
Die Geschichten, die in ihren schwarzweiß fotografierten Gesichtern geschrieben stehen, sind voll Zorn, Verzweiflung und Resignation. Grimmige alte Herren, deren verwitterte Züge hinter dichten Seemannsbärten verschwinden. Junge Männer in abgetragenen Anzügen, deren Blick trotzig an der Kamera vorbeizielt. Gramgebeugte Frauen, aus deren leeren Gesichtern die ganze Schwere ihres armseligen Daseins spricht. Direkt darunter: ihre Namen. Und die Nummern, zu denen sie wurden, als ihr Leben als unbescholtene Bürger endete - und sie im Gefängnis des südenglischen Dorchester landeten.

Schicksale, in die das Internetarchiv Ancestry.co.uk nun völlig neue Einblicke bietet: Das Portal, eigentlich eine Datenbank zur Familienforschung, macht erstmals über 67.000 Fotografien und detaillierte Gefängnisakten von Tausenden Inhaftierten, die während des 19. Jahrhunderts im Gefängnis von Dorchester einsaßen, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Zu jener Zeit erlebte England unter Königin Victoria eine Explosion der Kriminalität: Von nur 5000 Gesetzesbrüchen im Jahr 1800 stieg die Zahl der Verbrechen auf rund 20.000 im Jahr 1840.

Hinter den imposanten Verbrechensstatistiken verbergen sich Tausende Einzelschicksale - mitunter kuriose, wie jenes des hartnäckigen Trunkenboldes Charles Wood, der 1872 für einen Monat im Gefängnis landete, weil er sich standhaft geweigert hatte, die Kneipe zu verlassen. Meist aber sind es tragische Fälle, geprägt von der Armut und Arbeitslosigkeit, die sich im viktorianischen England ausbreiteten. So wie der Fall der 54-Jährigen Louisa Salisbury, die am 16. Januar 1878 hinter Gittern landete, weil sie ein Kissen und ein paar Handtücher entwendet hatte. "12th time" steht knapp hinter ihrem Namen, und man ahnt, aus welcher Ausweglosigkeit heraus selbst ältere Menschen damals einfachste Dinge des täglichen Bedarfs entwendeten.

Derartige Unterlagen seien von unschätzbarem Wert für die Stammbaumforschung, so Ancestry-Content-Managerin Miriam Silverman - selbst dann, wenn es sich um Kriminelle wie diese handele: Denn im 19. Jahrhundert hätten in England noch keine Ämter im Personenstandsregister die Lebenswege britischer Bürger nachverfolgt, so dass die Gefängnisakten Historikern "faszinierende Informationen zu vergessenen Mitgliedern der Gesellschaft" liefern.

Das Königreich mühte sich damals nach Kräften, dieser Welle der Kriminalität Herr zu werden, indem es seine Polizei von Grund auf reformierte: Waren bisher vielerorts nur vereinzelte, ehrenamtliche Ordnungshüter am Werk gewesen, so verpflichtete der County and Borough Police Act 1856 jede Kommune dazu, offizielle Polizisten zu stellen - und schrieb vor, dass diese einer regelmäßigen zentralen Prüfung unterzogen werden mussten. Es entstand erstmals eine straff strukturierte Polizeiorganisation, die Übeltäter ohne Umschweife hinter Schloss und Riegel brachte.
Doch das Hunderte Bilder umfassende Fotoarchiv auf Ancestry.co.uk zeigt auch: Die Notlage der Bevölkerung Großbritanniens ließ sich nicht einfach per Gesetz verbieten.