Autor Thema: Nelly Bly – Bericht aus einer New Yorker Irrenanstalt 1887  (Gelesen 5528 mal)

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Andromeda1933

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Aus „Die Welt“ vom 31.10.2011
Girl Stunt Reporter in New Yorker Irrenanstalt
1887 schmuggelte sich Nellie Bly in eine New Yorker Heilanstalt ein. Ihre Reportage über die katastrophalen Zustände begründete den investigativen Journalismus. Von Eva Sudholt
Eigentlich war es ganz einfach. Sie musste nur immer wieder dasselbe sagen. Dass sie aus Kuba komme zum Beispiel. Dann sagte sie ein paar Worte auf Spanisch, "Si, Señor" und so, und dass sie nicht wisse, wie sie nach New York gekommen sei, nur, dass sie irgendwo ihre Koffer verloren habe. Im Übrigen habe sie das Gefühl, dass alle Leute um sie herum verrückt geworden seien. Wie die sie anguckten! Und dann fragte sie nach ihrem Gepäck. "Wo sind meine Koffer?", rief sie, "ich brauche meine Koffer zurück!" Einen Tag später saß Nellie Bly in der Irrenanstalt.
Damals nannte man das so, der Ausdruck galt sogar als fortschrittlich gegenüber Narren- oder Tollhaus . Im Englischen sollte der Ausdruck Mad-House schon im frühen 19. Jahrhundert durch ein neutraleres Asylum ersetzt werden. Die Reportage "Ten Days in a Mad-House", die vor mehr als 120 Jahren in New York veröffentlicht wurde und nun erstmals auf Deutsch erschienen ist ("Zehn Tage im Irrenhaus – Undercover in der Psychiatrie", Aviva Verlag), zeigt allerdings, wie hartnäckig sich der Begriff weiterhin halten konnte.
Sie wollte zu Pulitzers "New York World"
Nellie Bly hatte sich vorbereitet, hatte sich nachts vor den Spiegel gestellt, die Augen weit aufgerissen und ohne zu blinzeln ihr eigenes Spiegelbild angestarrt. So lange, bis sie sich selbst nicht mehr geheuer war. Dann hatte sie Nacht für Nacht traurig vor sich hingesehen, hatte eines dieser, wie sie schrieb, "Ganz weit weg"-Gesichter gemacht, bis sie irgendwann zu Nellie Brown, dem geisteskranken Fräulein, wurde.
Es war das Jahr 1887, Nellie Bly war gerade erst aus Pittsburgh nach New York gezogen, sie war 23 Jahre alt und fest entschlossen, eine richtige Reporterin zu werden. Sie wollte zu Pulitzers "New York World". Seit vier Jahren war die Zeitung in den Händen des ungarisch-amerikanischen Verlegers. Das selbstbewusste Fräulein kam ihm gerade recht.
Sie habe die Stimme eines Täubchens, heißt es in dem amerikanischen Volkslied "Nelly Bly", ihr Herz sei so warm wie eine Tasse Tee und größer als die süßen Kartoffeln von Tennessee. Elizabeth Cochran gefiel dieses Lied, diese Frau und ihr kurzer, hübscher Name. Elizabeth Jane Cochran aus Cochran's Mills in Pennsylvania ersetzte das "y" durch ein "ie" und nannte sich ab dem Zeitpunkt, als sie zu schreiben begann, fortan selbst so.
Eine unerzogene, unwillige Schülerin
Elizabeth war das 13. Kind von Michael Cochran, der nicht nur ein wichtiger Unternehmer seiner kleinen Heimatstadt war, sondern auch beisitzender Richter des County. Am Ende seiner Amtszeit wurde sein Wohnort in Cochran's Mills umbenannt. Doch der plötzliche Tod des Vaters veränderte die Verhältnisse, das Erbe wurde aufgeteilt unter den vielen Kindern und für die sechsjährige Elizabeth blieb nicht viel.
Elizabeth war eine unerzogene, unwillige Schülerin, an einen Collegebesuch war gar nicht zu denken. Nur an Selbstbewusstsein hatte es ihr nie gefehlt. Sie war mutig und kämpferisch und machte aus ihrer Meinung nie einen Hehl. Über jenen Artikel im "Pittsburg Dispatch" zum Beispiel, der gegen Frauen wetterte, die sich nicht an den Herd verbannen ließen und ein selbstbestimmtes Leben führten. Elizabeth schrieb einen Leserbrief, und sie hinterließ einen bleibenden Eindruck beim Chefredakteur. Über eine Annonce im "Dispatch" machte er die Schreiberin ausfindig – und kurz darauf zu einem festen Mitglied der Redaktion.
Doch das Spektrum ihrer Themen schränkte sie schnell ein, sie wollte nicht nur über Mode und Gartenarbeit schreiben. Ihr Selbstbewusstsein wiederum machte sie frei – sie kündigte, ging auf Reisen und verbrachte ein halbes Jahr in Mexiko. Im Frühjahr 1887 machte sie sich auf nach New York. Sie hatte sich ein paar Geschichten überlegt, als sie eines Tages bei der "New York World" vorstellig wurde, doch der Chefredakteur hatte andere Pläne mit ihr.
"Wie werden Sie mich herausholen?"
Er drängte sie nicht, er fragte sie einfach: Ob sie sich in die psychiatrische Anstalt auf Blackwell's Island einweisen lassen und über die dortigen Zustände berichten wolle. "Ich sagte, dass ich es zu können glaubte", schrieb sie Wochen später in ihrem Artikel. Eine Frage aber hatte sie doch: "Wie werden Sie mich herausholen, wenn ich einmal drin bin?" Und Joseph Pulitzer sagte : "Das weiß ich nicht, aber wir werden Sie herauskriegen. Schaffen Sie es nur hinein."
Nellie Bly übte also die Gesichter des Irrsinns oder das, was sie dafür hielt. Als sie sich bereit fühlte, suchte sie im Telefonbuch nach einer Unterkunft und fand ein Behelfsheim für Frauen in der Second Avenue. Sie stellte sich vor als Nellie Brown und bat darum, ein paar Tage bleiben zu können, und dann spulte sie ihr kleines Wahnsinnsprogramm ab, schaute mit angstvollem Blick vor sich hin, fragte nach ihren Koffern und erklärte alle um sich herum für verrückt.
Wer einmal in der Anstalt war, kam nicht wieder heraus
Die Frauen wandten sich von ihr ab, tuschelten über sie, manche fürchteten sich, sagten, sie blieben nicht eine Minute allein mit ihr. Sie kam ihrem Ziel, den Fluss zu überqueren, wie man damals sagte – die Irrenanstalt Blackwell's Island lag inmitten des Hudson River – immer näher. Schon nach einer Nacht verständigte die Heimleitung die Polizei, die brachte sie zu einem Richter, der über ihre geistige Gesundheit entscheiden sollte. Nellie Bly redete wirr, gab sich orientierungslos und widersprach sich permanent selbst.
Der Richter sagte: "Was für ein armes Kind", und ließ sie zur Untersuchung ins Hospital Bellevue bringen, die Ärzte sollten entscheiden, ob sie auf die Insel gehöre oder nicht. Sie entschieden dafür. Und das wirklich Verrückte war: Ab dem Moment, in dem sie auf der Insel ankam, benahm sie sich wieder normal. Wenn sie mit den Ärzten und Wärterinnen sprach, sprach sie vernünftig und erklärte sich selbst für geistig gesund. Es war nur so: Es interessierte sich niemand für sie. Wer einmal in der Anstalt war, war praktisch gefangen.
Verdorbene Lebensmittel, dreckiges Wasser
Zu dieser Zeit hatten nicht einmal zehn Prozent der amerikanischen Ärzte einen medizinischen Abschluss, in der Psychiatrie sogar noch weniger. Und die Wärterinnen, die die Patientinnen quälten mit stundenlangen Bädern in dreckigem, eiskaltem Wasser, mit verdorbenen Lebensmitteln, Schlägen und menschenverachtenden Schikanen, waren keine Pflegekräfte, das Personal setzte sich zum Teil sogar aus Strafgefangenen zusammen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in den USA schon 150.000 Menschen geschlossen untergebracht. Auf Blackwell's Island lebten teilweise doppelt so viele Menschen wie vorgesehen.
In Deutschland hatte sich zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts die Zahl der Patienten verzehnfacht. Das Sozialistengesetz von 1878 spielte nach Ansicht des Berliner Medizinhistorikers Gerhard Baader eine entscheidende Rolle: Die Polizeipräsenz erhöhte sich, im Arbeitermilieu, das unter ständiger Beobachtung stand, wurde es immer schwieriger, geisteskranke Angehörige unbemerkt in der Familie zu betreuen. Die Ausgrenzung des Auffälligen wurde zur Maßgabe, psychisch Kranke, das war die Meinung der Nervenärzte, gehörten ins Heim.
Zehn Tage des Wahnsinns
Auch in Deutschland wurde teils unqualifiziertes Personal eingesetzt, ausgediente Unteroffiziere zum Beispiel, sogenannte Zwölfender, die nach zwölf absolvierten Dienstjahren irgendwo untergebracht werden mussten. Die Mediziner allerdings, anders als in den USA, spezialisierten sich zunehmend auf psychiatrische Erkrankungen.
Der 1817 geborene Wilhelm Griesinger wurde zum Vorreiter der modernen, wissenschaftlichen und so auch sozialen Psychiatrie, die der aggressiven Behandlung mit Dauerbädern und Schlägen ein Ende machen wollte – im Sinne der "No Restraint"-Bewegung (keine Bestrafung), die sich in Großbritannien schon einige Jahre vorher herausgebildet hatte. Doch erst mit der Einführung des Sedativums Chloralhydrat wurde die körperliche Züchtigung deutlich eingeschränkt.
Blackwell's Island war (trotz Verwendung von Chloral) von menschlicher Behandlung weit entfernt. Zehn Tage erlebte Nellie Bly den ganzen Schrecken einer amerikanischen Irrenanstalt. Sah, wie sich Wärterinnen an Patientinnen vergingen, bekam keinen Bissen von dem Fraß runter, während sich die Angestellten vor den Augen der Frauen die köstlichsten Speisen gönnten, und wurde fast verrückt vor Langweile.
Die Staatsanwaltschaft wurde aktiv
Die Frauen hatten keinerlei Beschäftigung, um die Tage rumzubekommen. Und vor den Toren lauerten die Reporter, die Geschichten schrieben über die nächsten Verrückten, die man auf die Insel geschickt hatte. Auch über Nellie Bly, das rätselhafte, gut gekleidete, geisteskranke Mädchen, hatten sie ausführlich berichtet.
Nach zehn Tagen hatte sie genug gesehen. Anders als für einige ebenfalls zu Unrecht für geisteskrank erklärte Frauen, war es für Nellie Bly am Ende einfach, die Anstalt zu verlassen. Ihr Chef musste den Fall nur aufklären. Nach Abdruck des Artikels nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf.
Im ganzen Land zeigten sich die Menschen schockiert, die Stadt New York jedoch schien sich über die Verhältnisse schon im Klaren gewesen zu sein – vier Tage vor Abdruck wurde der Etat für die Pflege von Geisteskranken um eine Million Dollar erhöht.
Es entstand der Girl Stunt Reporter
Mit Nellie Bly veränderte sich jedoch auch eine ganze Branche, Ende der 1880er-Jahre entstand in den großen US-Zeitungen das Phänomen der Girl Stunt Reporter, die sich – unauffällig und unschuldig, wie sie sich gaben – undercover einschleichen und Missstände in verschiedenen Gesellschaftsbereichen aufdecken konnten. Auf die Stunt Girls folgten die Muckrackers, die Ausbeutung in der Industrie aufdeckten. Und dann erschien schließlich der Reporter Lincoln Steffens auf der Bildfläche, der 1906 endgültig den Ausdruck "investigativer Journalismus" prägte .
Aber da war Nellie Bly längst weitergezogen. Inspiriert von Jules Verne war sie zum Beispiel in 72 Tagen um die Welt gereist. Hatte reich geheiratet und das Schreiben aufgegeben, dann wieder angefangen mit Berichten von der Ostfront und all das unbeschadet überstanden. Nur eine Lungenentzündung überlebte sie nicht, 1922 starb Nellie Bly im Alter von nur 57 Jahren in New York.

Hier ist Ihr Bericht aus der Irrenanstalt im Original:

http://digital.library.upenn.edu/women/bly/madhouse/madhouse.html