Hi!
Seit ich mich mit dem Fall „Jack the Ripper“ befasse (bescheidene – und das meine ich ernst – 6 Jahre), habe ich stets bei einer Sache ein seltsames, mulmiges Gefühl gehabt. Anfangs konnte ich es nie genau greifen, doch mit der Zeit und der immer intensiveren Beschäftigung mit Täterpsychologie lichtete sich der Nebel und ich fing an, diese Ahnung konkreter fassen zu können: Es ging um den Mord an Mary Jane Kelly – und darum geht es immer noch.
Von Anfang an glaubte ich an die Täterschaft des Rippers, und von Anfang an hatte dieser Mord einige Besonderheiten, denen ich inzwischen eine Schlüsselrolle zum Verständnis des Täters zurechne. Ich habe mich nie sonderlich um die Frage geschert, ob der Ripper nun die Kehle von links nach rechts durchtrennte, ob nun ein Zeuge die Wahrheit sagte oder ob die Kleidung blutbefleckt war. Natürlich hat man sich über diese Fragen Gedanken gemacht, denn immerhin mögen sie im Gesamtkontext der Taten eine Rolle spielen. Doch für mich persönlich war schon immer das Verständnis für die Gedankenwelt des Täters wichtig, denn hier findet man die Antworten auf die meisten Fragen, die uns bewegen. Und über die Gedankenwelt des Täters sagen oben genannte Aspekte – wenn auch interessant zu diskutieren – recht wenig aus.
Ich kann mich noch an einen Kritikpunkt von John Evans erinnern, der mir vorwarf, ich würde das Pferd von hinten aufzäumen wollen. Dies habe ich nie so gesehen. Natürlich habe ich stets angenommen, Kelly wäre ein Opfer des Rippers, und natürlich habe ich die Brücke zwischen Eddowes und Kelly scheinbar zurecht gebogen, um diese Morde zu verbinden. Ebenso bin ich mit dem Mord an Martha Tabram verfahren. Aber was von außen als Hinbiegerei erscheint, war für mich immer die Suche nach dem Schlüssel zum Verständnis des Täters, und unter diesem Aspekt sind Änderungen in der Signatur, Abweichungen im Verhalten oder der Tatbegehung kein wirkliches Indiz für einen anderen Täter, sondern eher ein Hinweis zu verschiedenen Reaktionen des Täters auf verschiedene Einflüsse und damit direkte Ausdrücke seiner Persönlichkeit. Dazu gehört natürlich eine gewisse Portion Sturheit, denn man wird auf viel Kritik stoßen und mit wenig bis kaum belegbaren Theorien um die Ecke kommen, macht sich verwundbar… aber kommen wir nun nicht um die Ecke, sondern lieber zum Thema: Ich neige inzwischen dazu, einen Selbstmord des Täters anzunehmen. Und zwar nicht aus Reue, nicht aus der Angst heraus, entdeckt zu werden. Sondern aus einem ganz anderen Grund.
Nicholls, Chapman, Eddowes. Sie haben alle eines gemeinsam: Der Täter scheint bei der Ausübung seiner Verstümmelungen auf die Weiblichkeit der Opfer fixiert zu sein. Direkt kommt er zur Sache und legt seinen Fokus nach dem Kehlschnitt auf die weiblichen Geschlechtsorgane und den Bauchraum. Von Beginn an legt er eine große Professionalität an den Tag, sei es nun durch gezielte Übung an Tieren, im Beruf, oder durch langjährige Beschäftigung mit seiner Gedankenwelt und seinen Fantasien – dieser Täter weiß, was er will, er weiß, wie er es kriegt, und er holt es sich ohne große Umschweife. Er ist relativ schnell, zielgerichtet, und hört genau dann auf, wann er es beabsichtigt. Er scheint keinen großen Drang zu verspüren, Verletzungen zuzufügen, die außerhalb seiner Fantasie liegen: Die Beine bleiben unangetastet, die Arme ebenso. Der Täter scheint die Opfer während der Ausübung nicht zu bewegen. Alle Verletzungen sind dem Opfer so zuzufügen, wie es auf dem Boden liegt. Die Tat erscheint abgeschlossen, der Täter befriedigt.
Ich glaube nicht, dass er sich Gedanken um die Beats der Polizei machte. Er wusste, dass die Prostituierten die Beats kannten. Und er dürfte wohl gewusst haben, dass so eine Runde einige Zeit dauerte. Weshalb ich das annehme? Ganz einfach: Im Prinzip hatte er eine viel größere, unberechenbare Gefahr im Nacken – Zivilisten. Von der Streifenpolizei dürfte er erwartet haben, dass es noch ein wenig dauere, bis diese wieder vorbeikam. Zivilisten jedoch sind unberechenbar, können jeden Moment am Tatort erscheinen, können brüllen, rufen, rennen, können in Gruppen erscheinen, können selbst bewaffnet sein. All dies war im egal. Er tötete auf „offener Strasse“. Weil er wusste, dass er seine Sache ohne Umschweife und Experimente durchziehen würde. In der Nacht des Double-Events jedoch liess er sich anscheinend erstmals aus der Ruhe bringen, bei einem Mord stören. Ein Zeichen von Unsicherheit? Und danach der Mord an Eddowes: Erstmals diese Verletzungen an den Augen. Was hat das zu bedeuten?
Dann eine Pause. Im ganzen Monat Oktober kein Mord im East End. Schließlich der Mord an Kelly: Herausragend brutal verlässt der Täter seinen Fokus, verstümmelt das Opfer in seiner Ganzheit, schält die Haut von den Knochen, zerhackt das Gesicht, schneidet Fleischlappen aus dem Körper des Opfers und türmt diese auf (entschuldigt die drastischen Worte). Er scheint außer sich zu sein, scheint von seinen professionellen Bewegungen auf Overkill umzuschalten, von lautloser schneller Killer auf unberechenbaren Irren. Als Krönung entfernt er Kelly nicht nur einige Organe, sondern auch ein ganz bestimmtes Organ – und dieses Organ fügt sich exakt in meinen Gedankengang ein: Das Herz.
Manche haben das Fehlen des Herzens als Indiz für eine Beziehungstat bewertet, ich sehe darin etwas anderes: Was in der Nacht des Double-Events seinen Anfang nahm, fand beim Mord an Kelly seinen Ausdruck. Der Täter verliess seinen Fokus auf die Weiblichkeit. Er verliess seine Wut und seinen Hass auf Frauen, über dessen Ursprung gerne diskutiert werden darf, und schritt auf einen neuen Pfad: Den Hass auf die Menschen im Allgemeinen. Kelly ist kein Ausdruck mehr, wie man ihn bei Nicholls, Chapman oder auch noch Eddowes sah. Kelly bedeutet die pure Zerstörung des Menschlichen, des Lebens, die absolute Raserei und Wut auf das Menschsein und damit auf sich selbst. Das Herausreißen des Herzens ist kein Zeichen für eine nicht überwundene verletzte Liebe, es ist das Zeichen der absoluten Rage. Der Täter dürfte bei der Ausführung ein hasserfülltes Gesicht gehabt haben. In seinem Körper waren Unmengen an Adrenalin, er verspürte in diesen Momenten meiner Meinung nach wenig von Befriedigung oder „Spass“ an der Sache, hier war ein Täter am Werk, der sich abreagierte und die Grenzen seiner vormals klar abgesteckten Fantasie bei Weitem überschritt.
Und genau diese Diskrepanz war es, die mich schon immer bewegte und die ich zu erklären versuchte. Und seit einiger Zeit vermute ich etwas, was ich vorher noch niemals vermutete: Zwischen der Nacht des Double-Events und dem Mord an Kelly muss etwas passiert sein. Etwas persönliches, was die Wut des Täters auf das Menschsein erklärt. Etwas, was bereits in der Nacht des Double-Events präsent war, den Täter jedoch erst nur leicht verunsicherte. In dieser Nacht findet man erste Zeichen von Schwäche, erste Zeichen von dem Abweichen auf andere Aspekte der Tatbegehung. Dann die Pause. Anscheinend schien er verhindert zu sein, kam nicht zum Morden. Woran kann das gelegen haben? War er in dieser Zeit im East End und bettlägerig? In meinen Augen unwahrscheinlich – selbst die vergangene Zeit würde meiner Meinung nach die Abkehr von der Professionalität nicht erklären. Nein, es muss etwas anderes gewesen sein. Ihr wisst, ich bevorzuge die Vorstellung, dass der Täter nicht aus dem East End kam. Würde auch zu dieser Pause passen. Möglicherweise kam er nicht in sein Jagdgebiet, fristete sein Dasein außerhalb des East Ends, außerhalb des Königreichs, und kam dort einfach nicht zum Zug. Möglich ist so vieles.
Eines muss uns in diesem Zusammenhang ins Bewusstsein gerufen werden: Der Täter besteht nicht nur aus Täter. Er ist auch Mensch. Er hat ein Leben neben dem Morden. Er kann Familie haben, er kann einen Beruf haben. Diese Dinge können ihm auch wichtig sein. Nicht alles in seinem Alltag muss sich um das Morden drehen.
Und genau hier setzt mein Gedanke an, den ich nach diesem langen Post überraschend kurz fassen werde: Ich glaube, dass dem Täter sein Leben im Allgemeinen aus den Händen glitt. Dass es aus den Fugen geriet. Dass es im Oktober ein einschneidendes Erlebnis gab, welches sich bereits im September abzeichnete. Ich glaube, dass es dem Täter immer unmöglicher wurde, seine Gewohnheit „East End – Prostituierte – Morden“ auszuüben, dass ihm dies einen unglaublichen Stress verursachte. Und ich kann mir inzwischen vorstellen, dass der Täter innerhalb dieser Gedankenwelt und innerhalb seines ruinierten Lebens am Ende war, am Boden zerstört, und schließlich freiwillig aus dem Leben schied. Nicht aus Reue. Nicht aus Angst entdeckt zu werden. Er war am Ende. Außerhalb seines Mörderdaseins. Außerhalb „Jack the Rippers“. Damit meine ich keine Krankheit, sondern eine Affektentscheidung irgendwann nach dem Mord an Kelly. Ich glaube, dass sein Leben neben seinem Leben als Mörder am Ende war.
Ich sehe den Ripper nicht als souveränen Kerl von Welt an. Er dürfte verschlossen gewesen sein, introvertiert. Hatte er Familie, so war er recht ruhig, schüchtern, zurückhaltend. Stets des brodelnden Vulkans in sich bewusst. Stille Wasser sind tief, sagt man. Und dieser Mensch hat in der Nacht des Mordes an Kelly sein Innerstes nach Außen gekehrt. Er lässt uns auch heute noch teilhaben an seinem inneren Kampf, an seinem Hass, seiner Verzweiflung, seiner Wut, seiner unbändigen Kraft und dem Schrei seiner Seele nach der Ruhe, die er niemals fand, weil tief in seinem Innern das andere Ich lauerte. Ich sehe durch den Mord an Kelly die Tat eines zerrissenen Menschen, eines Menschen, dessen Tat das letzte Aufbäumen einer schon lange verkorksten Existenz darstellt. Konnte er zu Beginn der Mordserie noch einigermaßen klar und abgeklärt damit umgehen und seine Macht über Leben und Tod voll auskosten, fiel er immens schnell in ein tiefes Loch: Die weltweite Aufmerksamkeit, das mühselige Aufrechterhalten seines Doppellebens, die innneren Kämpfe mit sich selbst - all dies, zusammen mit diesem noch nicht identifizierten Ereignis, welches seinen Ausdruck im Zerbrechen seiner Professionalität und damit seiner Existenz als Serientäter und somit Herr über Leben und Tod bedeutete, könnte ihn tatsächlich zu diesem letzten Schritt bewegt haben. Er war Mörder aus Leidenschaft. Er war einmal gut. Doch er frass wohl zuviel in sich rein und hielt dem Druck am Ende nicht mehr stand.
Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht. Aber das muss ich auch nicht - das kann man ja auch gemeinsam tun.
Grüße, Isdrasil