Autor Thema: Der psychische Druck der auf Kosminski lastete  (Gelesen 9871 mal)

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Direwolf

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Der psychische Druck der auf Kosminski lastete
« am: 25.07.2011 22:37 Uhr »
Aloha allerseits :)

Zugegeben: Kosminski verhielt sich teilweise schon recht merkwürdig, wenn man sich so seine Geschichte durchliest. Hinzu kommt, dass er von der damaligen Polizei wohl teilweise rund um die Uhr beobachtet wurde. Das alles macht ihn natürlich schon zu einem nicht uninteressanten Kandidaten für die Rippermorde. Allerdings wissen wir auch, dass Dank der damaligen Denkweise auch weit unwahrscheinlichere Leute - wenn auch nur kurz - unter Verdacht gerieten. Absurdestes Beispiel war hier wohl Joseph Merrick. Ein weiterer Punkt, über den ich beim lesen in einigen Threads gestolpert bin, war die Messerattacke auf die eigene Schwester.

Ich habe mir heute Abend mal so meine Gedanken gemacht und mir dabei mal die Frage gestellt, wie groß wohl der psychische Druck gewesen sein mag, der auf Kosminski lastete. Schrauben wir hierfür mal kurz die Zeit ein wenig zurück und kommen zu der Stelle, wo Kosminski als erstes unter Verdacht geraten sein mag. Wenn ich mich da recht erinnere war Kosminski zu dieser Zeit zunächst einmal dafür bekannt, wie ein Vagabund sein Dasein zu fristen und sich seine Nahrung lieber aus der Gosse sammelte, anstatt sie von helfenden Händen anzunehmen. Das er zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon in einer eigenen geistigen Welt unterwegs war, sollte kein großes Geheimnis sein.

Nun stellen wir und vor, dass jemand der - auf gut deutsch gesagt - eh schon etwas gaga im Kopf ist auf einmal unter Mordverdacht gerät und entsprechend beobachtet wird. Die Frage die ich mir hierbei stelle: Was stellt dies mit der geistigen Welt eines solchen Menschen an? Wie wird er dies darin einbauen? Vielleicht hat sich Kosminski bis zu den ersten Verdachtsäußerungen als völlig normal angesehen. Ich denke hierbei an einen Vergleich mit einem psychisch kranken Menschen, der seine Krankheit als solche (aus welchen Gründen auch immer) gar nicht wahrnimmt. Was passiert nun wenn in die eigene erschaffene Welt jemand von außen eindringt? Ich würde vermuten, dass nun erst einmal ziemliche Verunsicherung die erste logische Reaktion wäre. Das man in einem verunsicherten Status manchmal etwas merkwürdig reagiert ist auch nichts neues. Schließlich wird hier ja psychischer Druck ausgeübt, wenn zunächst auch nicht zwingend sehr stark. Angenommen Kosminski hat hier wie vermutet ebenso verunsichert reagiert und sich damit noch mehr verdächtig gemacht, so wäre der nächste Schritt doch wahrscheinlich, dass die polizeiliche Observation verstärkt wird. Hier denke ich besonders an die Rund-um-die-Uhr-Überwachung. Und wieder könnte der Druck auf Kosminski gestiegen sein und ihn zu noch weiteren "verdächtigen" Aktivitäten getrieben haben. Dieses Gedankenspiel könnte man noch ein Stück weiterspinnen und zu welchem Endergebnis man hier kommt sei jedem selbst überlassen. Ich könnte mir hier beispielsweise vorstellen, dass Kosminski zuletzt so dermaßen unter Druck stand, dass man es für angebracht hielt ihn einzuweisen. Auch das ihn seine Familie die ganze Zeit über "beschützt" hat klingt für mich nicht mehr zwingend nach Täterschutz.

Ich hoffe ich konnte nun nach einer harten Spätschicht meine Gedankengänge einigermaßen verständlich erläutern und ich habe nicht ganz so viele Fakten und Lücken übersehen. Daher vorerst abschließend nun die Frage an euch:
Wie denkt ihr darüber?

 

Offline Anirahtak

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Re: Der psychische Druck der auf Kosminski lastete
« Antwort #1 am: 26.07.2011 09:54 Uhr »
Aloha Direwolf :)

Deine Überlegung finde ich sehr gut und folgerichtig - sie fügt sich nämlich sehr gut an meine an. Dazu muss ich Kosminskis Gaga etwas konkretisieren. Überliefert ist folgendes: "Er hatte Halluzinationen, sah Erscheinungen und hörte Stimmen. Zeitweilig verhält er sich sehr stur." Hinzu der Umstand, dass er sich mitunter weigerte, Essen von anderen anzunehmen. (Irgendwo im Casebook hatte ich mal den Arztbericht zu seiner Einlieferung gesehen, der noch ein wenig ausführlicher war - kann ich gerade aber nicht finden.) Jedenfalls deuten all diese Merkmale auf Paranoide Schizophrenie hin. Ich bin kein Psychiater, habe aber Leute mit dieser Erkrankung schon unmittelbar erlebt und mich mit dem Thema beschäftigt. Deshalb halte ich diese meine "Diagnose" bei Kosminski nicht für allzu weit hergeholt.

Paranoide Schizophrenie lässt sich umgangssprachlicher auch mit Verfolgungswahn umschreiben. Die Erkrankten fühlen sich verfolgt, was aber nicht der Realität entspricht. Sie beziehen vieles auf ihre Person, was tatsächlich überhaupt nichts mit ihnen zu tun hat und deuten dies als Zeichen ihrer Verfolgung. Nun wurde Kosminski ab einem gewissen Punkt aber tatsächlich verfolgt, was sich auf jemanden, der vorher schon unter genannten Wahn litt, fatal ausgewirkt haben dürfte.

Auch gehe ich davon aus, dass es Kosminskis Erkrankung mit dem damit einhergehenden auffälligen Verhalten war, die ihn überhaupt erst in den Kreis der Verdächtigen rückte. Man ging davon aus, der Täter muss verrückt sein, Kosminski fiel als ganz besonders verrückt auf und schon wandelte sich seine eingebildete in eine reale Verfolgung. Müsste ich den Ripper vor Ort finden, würde ich mich auf "auffällig unauffällige" Personen konzentrieren.

Offline Lestrade

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Re: Der psychische Druck der auf Kosminski lastete
« Antwort #2 am: 26.07.2011 19:30 Uhr »
Im großen und ganze stimme ich mit euch überein. Vielleicht vertiefe ich das nocheinmal.

Nicht nur im herkömmlichen Sinne war der Täter verrückt, logisch. Aber ich denke, dass diese Art von Täter, besonders Ende September/ Anfang November 1888, emotional am Ende war und sich dieser Zustand in den darauffolgenden 1-2 Jahren drastisch verschlechtert haben dürfte. War er noch nicht so auffällig Ende 1888, so wird er dies rein "Benimmtechnisch", Jahre später um so stärker gewesen sein. Dies würde auf einen Mann wie Aaron Kosminski zutreffen. Solche Prozesse erleben ihre Dynamik zwischen dem 20- 30 Lebensjahr. Auch das spricht für Kosminski. Seit jeher liegt die Vorstellung des Rippers, was das Alter betrifft, bei den meisten Menschen im "festen" Erwachsenenalter. Ich halte das für falsch. Der Täter dürfte ein junger Mann gewesen sein, Anfang 20 bis Mitte 20 Jahren (abfallend - 30 Jahre, je nach persönlicher Entwicklung). Ich betrachte dies natürlich ganzheitlich und könnte dabei fälschlicherweise Irrtümern unterliegen, gerade wenn ich den Bogen von Emma Smith über Tabram zu den K5 spanne. Dies würde eine rasante Entwicklung beim Täter zeigen. Solch einen Prozeß würde ich bei jemanden bis 25 Jahre erwarten, danach eher nicht. Ich denke, eine ähnliche Entwicklung hatte David Cohen genommen. Auch er war zu dem Zeitpunkt der Taten, 23 Jahre alt. So wie Aaron Kosminski.

Kosminski und Cohen hin- oder her. Für mich und das meine ich nur für mich, war Jack the Ripper kein Mann "gesetzteren" Alters. Er m u s s ein junger Mann Anfang bis Mitte 20 gewesen sein.

Unter den Umständen einer Observation, dürfte der psychische Druck für Kosminski, irgendwann immens und unerträglich geworden sein, gerade im Bezug auf seine Paranoia. Er dürfte irgendwann, wie er ja auch selber sagte, von allen Menschen die "Bewegungen" gekannt haben. 
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...

Direwolf

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Re: Der psychische Druck der auf Kosminski lastete
« Antwort #3 am: 10.10.2011 21:28 Uhr »
Ich habe heute mal mit einem mir bekannten Psychotherapeuten gesprochen und ihn - im Rahmen einer Referatrecherche - befragt, was passieren könnte, wenn ein Mensch wie Aaron Kosminski, der sich zuvor möglicherweise einfach nur einbildete verfolgt zu werden, plötzlich durch eine Polizeiobservierung in seinem bisherigen Irrglauben Bestätigung bekommt. Die erste Antwort war dabei recht wenig überraschend: Theoretisch kann da alles mögliche passieren. Je nach Schwere und Art der Erkrankung kann es unter anderem zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft (Stichwort: übertriebener Selbstschutz), Suizidale Gedankengänge ("Bevor "die"  mich bekommen, schaff ich mich selbst aus dem Weg"), oder auch eine Art Einigelung ("Ich bau mir einen imaginären Zaun um mich herum auf.") kommen.

Der letzte Punkt hat mich da allerdings etwas zum nachdenken gebracht und mir fiel da sofort die Geschichte mit dem Maulkorblosen Hund aus dem Jahr 1889 ein, in den Kosminski verwickelt gewesen ist. Angenommen die Observierung des "Verdächtigen" in der Butchers Row betraf unseren Kosminski und dieser hat davon irgendwie Wind bekommen, so ergibt für mich auch die Maulkorbgeschichte wieder etwas mehr Sinn. Natürlich ist das weit hergeholt und alles nur Spekulation, aber wäre es nicht zumindest eine denkbare Erklärung? Kosminski gerät ins Visir der Ermittler, wird möglicherweise eine Zeit lang unter Beobachtung gestellt, um dann - aus Mangel an Beweisen - wieder in Ruhe gelassen zu werden. Hierbei könnte sich durchaus bei ihm ein Schalter im Kopf umgelegt haben, der ihm nun eintrichterte besonderen Schutz zu benötigen. Wie aus den Quellen hervorgeht galt Aaron weder als Suizidgefärdet, noch als gefährlich für andere Leute. Demnach scheint es mir wahrscheinlicher, dass im Falle einer Observierung bei ihm eher eine Art Selbstschutzwunsch entstand. Da kann ruhig etwas Zeit vergehen, bis man den für sich passenden Schutz gefunden hat. Vielleicht dauerte es ja einige Zeit und sein Verfolgungswahn nahm in dieser "Warteschleife" zu, bis dieser dann 1889 sogar so weit ging, dass er sich von dem Hund den erwünschten Schutz versprach und ihn deshalb ohne Maulkorb herumlaufen ließ.

Wie gesagt: Alles nur Spekulation, aber zumindest nicht völlig ausgeschlossen, wie ich finde.

LG,
Direwolf

Offline Lestrade

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Re: Der psychische Druck der auf Kosminski lastete
« Antwort #4 am: 10.10.2011 22:37 Uhr »
Das sind Gedanken, die man sich darüber machen darf und die auch berechtigt sind.

Ein Mensch, der eh paranoid ist und dem man nicht glaubt, der dürfte echt in eine Krise geraten, wenn sich die "Bedrohungen und Verfolgungen" anders oder gar intensiver darstellen, als die bisher gewohnten. Dann gesellen sich neben den eingebildeten auch die irdischen dazu aber das "nicht glauben", bleibt weiterhin bestehen.

So oder so und alles in allem, ein echter Horror.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...