Hi.
Hier eine Frage, die mich ja schon längere Zeit recht intensiv beschäftigt (neulich ja auch hier schon kurz angesprochen:
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,953.msg19861.html#msg19861 - ich denke aber, das Thema verdient eine nähere ´Begutachtung´ in einem eigenen Faden, der hiermit eröffnet ist):
Im Gegensatz zur Zeit davor fand die mögliche Begnadigung eines eventuellen, geständigen Komplizen nach dem Mord an Mary Jane Kelly von Seiten der Ermittler plötzlich auffällig regen Zuspruch.
Home Secretary Matthews erklärte am 23. November 1888 angeblich im House of Commons, dass es im Fall Mary Jane Kelly ´gewisse Umstände´ gab, die in früheren Fällen fehlten, und die es wahrscheinlicher machten, dass es ´andere Personen´ gab, die dem Mörder
nach (!) der Tat ´assistierten´. Da sich dies aus den uns bekannten Fakten im Fall MJK eigentlich nicht wirklich eindeutig ablesen lässt, erscheint diese plötzliche Meinungsänderung von Matthews schon einmal etwas verwunderlich. Noch weiter verwunderlich ist aber, dass sich direkt nach dem Mord an Kelly eine ganz andere Person für die Begnadigung eines eventuellen Komplizen im House of Commons stark machte, nämlich
Dr. George Baxter Phiillips. ´
The Echo´ vom 12. November 1888 nannte ihn sogar als die treibende Kraft hinter dem Wunsch nach einer derartigen Maßnahme (
http://www.casebook.org/press_reports/echo/18881112.html). Dass sowohl
George Lusk als auch (später)
Charles Warren diese Idee zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls unterstützten, lässt sich hier sehr gut nachlesen:
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,148.0.html. Auch
Abberline,
Reid und
Beck scheinen eine in Aussicht gestellte Begnadigung eines geständigen Komplizen als hilfreich empfunden zu haben, die angebliche ´Theorie´ von
Monro (der sich selbst als jemand bezeichnete, der, wenn er theoretisiert, dies von einem durchführbaren Standpunkt heraus betreibt) soll auf einen ´very hot potato´ hingewiesen haben, und
Walter Dew äußerte später ja sogar, dass er der Meinung sei, dass irgendjemand irgendwo das ´schuldige´ Geheimnis von Jack the Ripper mit diesem teilte...
Über das enge Zeitfenster und den Tatort mitten auf einer Polizeiroute im Fall Eddowes haben wir neulich ja bereits diskutiert, und dass sich ein Täter mit einem Komplizen ebenso in den Fällen Nichols und Chapman zumindest aufgrund der Bausubstanz an den Tatorten ´leichter getan´ hätte, ist wohl auch unbestritten. (Von diversen Interpretationen in Zusammenhang mit der Zeugenaussage von Israel Schwartz im Fall Stride ganz zu schweigen.) Natürlich ist klar, dass die Ermittler
jedes mögliche Mittel, das eventuell zur Ergreifung des Täters führen konnte, nutzen wollten und dem entsprechend ist auch die Chance hoch, dass sie ebenso bezüglich der Begnadigung mal ´auf gut Glück´ im Trüben gefischt haben könnten - warum sich jedoch auch Dr. Phillips plötzlich für die Begnadigung eines Komplizen so aktiv einsetzte, ist aufgrund der bekannten Fakten schwer zu begründen, es sei denn, er hätte etwas, das wir zumindest nicht eindeutig mit einem Komplizen in Verbindung bringen (oder eben aufgrund verschwundener Unterlagen nicht kennen), festgestellt, das ebenfalls in diese Richtung wies. Abgesehen davon scheint die Mordserie nach dieser Entwicklung ja beendet oder (wenn man den Mord an Alice McKenzie dem Ripper zuordnet) zumindest für einige Zeit unterbrochen worden zu sein (und im Gegensatz zu Eddowes und Kelly erscheinen die Verstümmelungen an Alice McKenzie in ihrer Durchführung verhältnismäßig eher ´vorsichtig ausgeführt´.).
Vieles wurde nach dem Mord an Kelly gemutmaßt – der Täter könnte gestorben, aufgrund eines anderen Deliktes hinter Schloss und Riegel gelandet sein, sich sogar umgebracht haben, oder aufgrund der Verstümmelungen an Kelly komplett (bis zur völligen Handlungsunfähigkeit) meschugge geworden und eventuell letzten Endes gar in eine Anstalt eingewiesen worden sein,etc,etc... Dass aber eventuell eine, und sei sie eine ursprünglich noch so ´ins Blaue´ spekulierte Maßnahme, die von den Ermittlern schon länger propagiert wurde, letztlich doch zumindest irgendwie ´gegriffen´ haben könnte, wird merkwürdigerweise relativ selten in Betracht gezogen, und wenn, dann oft gleich auch mit der ziemlich absurden ´königlichen Verschwörungstheorie´ in Verbindung gebracht. Sind die anderen Begründungen für ein Ende der Mordserie tatsächlich so viel realistischer? – Warum plötzlich die Begnadigung eines eventuellen Komplizen? War sie primär für ´wissende´ Familienangehörige oder Freunde des Täters gedacht, obwohl sie, realistisch betrachtet, wohl kaum einen sonderlichen Anreiz für deren Kooperation darstellte? Verdichteten sich die Hinweise auf einen oder möglicherweise sogar mehrere Komplizen vielleicht tatsächlich? Hatte die Polizei ab diesem Zeitpunkt eventuell doch eine konkretere Theorie? Was hat Matthews letztlich wohl gemeint, mit den ´gewissen Umständen´ im Fall MJK, warum hielt man einen eventuellen Komplizen gerade in diesem Fall (und vor allem warum ´nach´ der Tat?) für möglich, und warum setzte sich Dr. Phillips an höherer Stelle für eine Begnadigung eines geständigen Komplizen ein? Was denkt ihr?
Grüße,
panopticon