Von Roman Heflik
Wer war der brutale Serienmörder, der Ende des 19. Jahrhunderts mindestens fünf Prostituierte in London bestialisch ermordete? Neue Dokumente scheinen zu belegen, dass Scotland Yard den als "Jack the Ripper" bekannt gewordenen Serienmörder schon so gut wie verhaftet hatte.
London - Es sind nur einige Bleistift-Notizen, hingekritzelt in einem Buch - doch sie könnten die Lösung zu einem der größten kriminologischen Rätsel der vergangenen 120 Jahre sein: Wer war der Mann, der zwischen August und November 1888 im Londoner East End vermutlich fünf Prostituierte mit einem Messer ermordete und bestialisch verstümmelte?
Bislang waren Kriminologen und Historiker davon ausgegangen, dass der wahre "Jack the Ripper" der britischen Polizei immer wieder hatte unerkannt entkommen können. Folgt man dagegen den Notizen des damaligen Ripper-Fahnders Chief Inspector Donald Swanson, die seine Nachkommen jetzt an das Museum von Scotland Yard übergaben, dann ist der wahre Täter damals tatsächlich überführt worden - und kam doch nicht ins Gefängnis.
Es begann damals alles wahrscheinlich am Abend des 31. August 1888. Der Prostituierten Mary Ann Nichols, auch "Polly" genannt, wurde in einer Gasse im Elendsviertel Whitechapel die Kehle durchgeschnitten und mit einem Messer der Unterleib verstümmelt. In den kommenden Wochen versetzten noch vier weitere Morde die britische Hauptstadt in Angst und Schrecken - alle trugen dieselbe Handschrift, wurden in ihrer Ausführung aber immer brutaler.
Verdächtige: Ein Lehrer, ein Arzt, ein Friseur
Die Polizei war ratlos. Assistant Commissioner Robert Anderson und Chief Inspector Donald Swanson versuchten verzweifelt, dem Mörder auf die Spur zu kommen. Die Kriminalexperten erstellten ein Profil des Täters: Demzufolge handelte es sich um einen gut gekleideten Mann weißer Hautfarbe im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, von mittlerer bis kleinerer Statur. Höchstwahrscheinlich war er ledig und hatte einen festen Job: Seine Taten fanden zu verschiedenen Abend- und Nachtzeiten statt, aber immer nur an Wochenenden. Zudem hatte "Jack" vermutlich medizinische Erfahrung und war Rechtshänder.
Trotz dieser recht vagen Spuren grenzten die Fahnder von Scotland Yard den Kreis der Verdächtigen bald auf eine kleine Gruppe ein. Unter ihnen befand sich beispielsweise Montague John Druitt, ein junger Anwalt und Lehrer aus guter englischer Familie, der als sexuell gestört galt. Kurz nach den vorerst letzten Frauenmorden verschwand er. Seine Leiche wurde Ende Dezember 1888 in der Themse gefunden.
Der zweite Hauptverdächtige war ein jüdischer Friseur namens Aaron Kosminski, der 1882 aus Polen nach England gekommen war und nun in Whitechapel wohnte. Der psychisch kranke Kosminski war für seinen Hass speziell auf Prostituierte bekannt. Der Polizei fiel er 1891 auf, weil er seine Schwester mit einem Messer bedroht hatte.
Ein Zeuge identifiziert "Jack"
Auch Michael Ostrog, ein russischer Arzt und Sträfling, war unter den verdächtigen Personen. Ostrog war wiederholt wegen versuchten Totschlags in ein Irrenhaus gesperrt worden. Es konnte niemals geklärt werden, wo er sich zum Zeitpunkt der Taten aufgehalten hatte.
Doch den britischen Kriminalpolizisten gelang es nicht, einen der Verdächtigen vor Gericht zu bringen - zu dünn war die Beweislage. "Jack the Ripper" wurde zu einem Phantom, vor dem man sich in den dunklen Gassen der Themsestadt noch lange Jahre fürchtete.
1910 schließlich veröffentlichte Ermittler Anderson seine Memoiren, von denen er seinem Kollegen Swanson ein Exemplar schenkte. In den Passagen, in denen Anderson vom Ripper-Fall berichtete, kritzelte Swanson einige Bemerkungen an den Rand - glaubt man diesen Notizen, dann hatten die Beamten den echten Ripper tatsächlich bereits aufgespürt. Schon in dem Buch hatte Anderson erwähnt, der Täter sei sehr wahrscheinlich "ein polnischer Jude" gewesen.
Anscheinend war Swanson und seinem Kollegen etwas besonderes gelungen: Sie hatten einen Augenzeugen aufgetrieben, der Jack the Ripper gesehen hatte. Anderson und Swanson waren sich einig, dass der Zeuge einen der Verdächtigen identifiziert hatte. Erst am Ende des Buches notiert Swanson den entscheidenden Satz: "Der Verdächtige war Kosminski."
"Ein unlösbares Rätsel"
Und doch wurde Kosminski nie verurteilt: Der Zeuge, ein Mann jüdischen Glaubens, weigerte sich, vor Gericht auszusagen, "weil der Verdächtige ebenfalls Jude war und weil diese Aussage den Verdächtigen an den Galgen bringen würde - womit der Zeuge nicht sein Gewissen belasten wollte", notierte Swanson. Zudem war mehr als fraglich, ob man dem Friseur bei seinem Geisteszustand überhaupt den Prozess machen konnte.
Dennoch schien Jack the Ripper nun das Handwerk gelegt: "Nach der Identifizierung fanden keine Morde dieser Art mehr in London statt." Kosminski wurde künftig Tag und Nacht von Polizisten observiert. Kurz darauf wurde er laut Swanson in eine psychiatrische Anstalt gebracht. 1919 starb der Mann, der angeblich Jack the Ripper war.
Der Historiker Keith Skinner hat jedoch Zweifel: "Ich bin mir nicht sicher, dass Aaron Kosminski die richtige Person ist", sagte er der BBC. Es gebe einige zeitliche Widersprüche in Swansons Notizen. Skinner wird nicht der einzige Zweifler bleiben. So hatte beispielsweise 2002 die Thriller-Autorin Patricia Cornwell verkündet, sie habe den Beweis dafür, dass der deutschstämmige Maler Walther Sickert der Täter sei.
Dieses Rätsel werde wahrscheinlich niemals gelöst, sagte Steve Lovelock, der Chef der Londoner Polizeiakademie, der BBC. "Aber vielleicht ist es ja auch genau das, was den Fall von Jack the Ripper so interessant macht."
quelle:http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,426830,00.html