Autor Thema: Die Organentnahme - Warum?  (Gelesen 24163 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Offline Shadow Ghost

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 624
  • Karma: +3/-0
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #30 am: 04.03.2010 00:22 Uhr »
In Bezug auf die romantische Bedeutung des Herzens treibt mich schon den ganzen Tag eine ziemlich blöde Frage um, die ich mich kaum zu stellen wage, aber was soll's: Hatte das Herz damals überhaupt schon die romantische Bedeutung als Organ der Liebe, wie es sie heute hat? Ich meine, Symbole können doch mit der Zeit ihre Bedeutung ändern. Früher wurde das Herz, soweit ich weiß, als Sitz der Seele angesehen, was ja nicht unbedingt dasselbe sein muss wie ein Symbol der Liebe; und vielleicht war das Herz früher einmal ein Symbol für (Lebens-)kraft oder etwas ganz anderes?
Worauf ich eigentlich hinaus will, ist, wenn wir schon über eine symbol-behaftete Handlung diskutieren, sollten wir (zumindest für mich) erst einmal die mögliche Symbolik klären.

Viele Grüße,
Shadow Ghost

may_roora

  • Gast
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #31 am: 04.03.2010 03:28 Uhr »
@KvN

Zitat
Sehr romantisch, so gehört sich´s für eine Rilke Leserin!
Danke!    Rilke ist toll...

Hm, mit dem Alibi hast du natürlich recht. Allerdings hab ich ganz wenig darüber gelesen, mich würde mal interessieren, wer und wie viele Männer mit ihm Karten gespielt haben in jener Nacht, und ob nicht sogar die Möglichkeit besteht, dass sie Komplizen von ihm waren... Oder beispielsweise zu betrunken, um sich noch genau an die Nacht erinnern zu können! Kann ja alles sein...


@panopticon

Zitat
Kann es sein, dass der Täter die Gedärme von Annie Chapman und Catherine Eddowes ganz einfach deshalb (womöglich eben sogar unbewusst) über die Schulter legte, weil er das so ´gelernt´ hat?
Woher weiß man bzw. warum vermutet man denn, dass er die Gedärme über die Schulter gelegt hat?

Zitat
Dass der Täter irgendeinen bewussten Hang zu irgendeiner Art ´Symbolismus´ (jenseits von ´Demütigung per se´) oder gar ´Romantik´ hatte, schließe ich jedenfalls nach wie vor aus.
Wieso denn? Hältst du ihn dafür für zu kaltblütig? Ich fände es seltsam, wenn hinter der Organentnahme nichts Symbolisches stünde. Wenn es nur zur Qual oder Demütigung der Opfer gedient hätte, hätte er sie doch nicht vorher getötet, oder? :icon_question:


@Shadow Ghost
 
Auf jeden Fall hatte das Herz bereits die romantische Bedeutung! Die hat es schon viel, viel länger. In Wikipedia kannst du Genaueres nachlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Herz_%28Symbol%29

Außerdem geschahen die Rippermorde zur Epoche des Naturalismus. Der bekannteste Vertreter des Naturalismus war Arno Holz, er hat viele Liebesgedichte geschrieben und das Wort "Herz" sehr oft verwendet. Du wirst es ganz häufig finden, wenn du einige seiner Gedichte liest:  :icon_wink: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/holz.htm

Achja, noch etwas; dass es schon längst für Liebe stand, merkt man beispielsweise auch daran, dass die Epoche des Naturalismus erst ca. 50 Jahre nach der Romantik folgte.


Gute Nacht
« Letzte Änderung: 04.03.2010 03:40 Uhr von may_roora »

KvN

  • Gast
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #32 am: 04.03.2010 08:33 Uhr »
Morgen!

Also ich kann mir wirklich nicht vorstellen dass jemand in Ruhe Karten dippelt und dann eine solche Verzweiflungstat aus enttäuschter Liebe begeht...Obwohl ich Rilkes Lyrik durchaus auch schätze. Die Sache mit den Gedärmen ist dem Autopsiebericht zweifelsfrei zu entnehmen, könnte meiner Merinung nach aber auch Teil des stagings sein. Chirurgen tun sowas eher selten*ggg*, ob es der Technik eines Fleischers, Jägers oder Bauern entsprach vermag ich nicht zu sagen.
Zum Symbolgehalt: Mir ist kein Serienmörder bekannt der seine Opfer nach diesem Gesichtspunkt ausweidete, zumeist wurde die Organentnahme als sadisitischer Akt gewertet. Aber die menschliche Seele ist eben ein weites Land...Die Opfer vorher zu töten war in Anbetracht der Umstände unvermeidlich, vielleicht war ja auch die Ausweidung eine Art "Entschädigung", weil der Mörder seine Opfer nicht bei lebendigem Leib quälen konnte.

@panopticon: Ich bin durchschaut! Korrekt, ich bin auch in Wien z´haus...

Offline Shadow Ghost

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 624
  • Karma: +3/-0
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #33 am: 04.03.2010 11:50 Uhr »
@ may_roora

Danke für die Information; so etwas habe ich mir eigentlich schon gedacht (wenn auch nicht literaturwissenschaftlich unterlegt), aber manchmal reibt man sich eben an solchen Kleinigkeiten auf. Dennoch meine ich, dass - sollte es sich wirklich um eine symbolische Handlung gehandelt haben - es sich nicht um eine bewusst symbolische Tat gehandelt hat (nach dem Motto: ich will jetzt einen versteckten Hinweis geben oder weil Du mir mein Herz gebrochen hast,...), denn so etwas würde nach meinem Empfinden vorherige Planung oder eine rationale Entscheidung während der Tat voraussetzen. Beides halte ich für wenig wahrscheinlich.
Sollte es sich hingegen um eine unbewusst symbolische Tat handeln, so haben wir das Problem, dass wir eben nicht wissen können, welche symbolische Bedeutung das Herz für den Täter in dessen Unterbewusstsein hatte. Ich gehe hierbei davon aus, dass ein Metzger einen anderen Bezug zu einem Herzen haben dürfte als ein Arzt oder ein Ingenieur.

Ich glaube stattdessen nicht an eine symbolische Handlung. Jack the Ripper hat das Herz wohl einfach aus der Brusthöhle entfernt, weil es eben da war. Ich habe es gerade nicht im Kopf, aber was war eigentlich mit Mary Kellys Lungen? Lagen die noch unberührt in der Brusthöhle, waren sie verletzt oder vielleicht sogar aus der Brusthöhle entnommen?

Viele Grüße,
Shadow Ghost

P.S. Rilke fand ich in meiner Jugendzeit auch super. Dies ging dann nahtlos über in Jim Morrison. Später hat mich dann Pablo Neruda gepackt.

Offline panopticon

  • Superintendent
  • *****
  • Beiträge: 415
  • Karma: +2/-0
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #34 am: 05.03.2010 14:24 Uhr »
Hi.

Woher weiß man bzw. warum vermutet man denn, dass er die Gedärme über die Schulter gelegt hat?

Das mit den Gedärmen und der Schulter bei Chapman und Eddowes ist, wie KvN schon erwähnte, den Autopsieberichten zu entnehmen. Siehe z. Bsp. auch hier: (Vorletzter Absatz) http://www.jacktheripper.de/opfer/chapman/ und hier (direkt unter den drei Bildern) : http://www.jacktheripper.de/opfer/eddowes/
Des weiteren gibt es die von mir im Zusammenhang mit dem Wiener Fall (wo diese Vorgehensweise übrigens nicht stattfand) erwähnte Skizze der toten Catherine Eddowes von Frederick William Foster. Auch darauf ist zu sehen, wie der Täter sein Opfer ´hinterließ´. Du findest sie zum Beispiel hier (irgendwo war die gesamte Skizze auch hier im Forum, wenn ich mich recht erinnere, nur leider finde ich sie gerade nicht): http://photos.casebook.org/displayimage.php?album=35&pos=7


Wieso denn? Hältst du ihn dafür für zu kaltblütig? Ich fände es seltsam, wenn hinter der Organentnahme nichts Symbolisches stünde. Wenn es nur zur Qual oder Demütigung der Opfer gedient hätte, hätte er sie doch nicht vorher getötet, oder? :icon_question:

Der eigentliche Grund, warum ich persönlich das ausschließe, liegt darin, dass ich diesen Fall schon während meiner Studienzeit bezüglich kunsthistorischer, kommunikationswissenschaftlicher und sozialpsychologischer Aspekte äußerst ´detailversessen´ untersucht und diskutiert habe. Das "Bild", das JtR hinterließ, wäre jedenfalls im Prinzip dem ´Symbolismus´ zuzurechnen, wenn er es denn bewusst hinterlassen hätte, was ich eben ausschließe. Nur zur allgemeinen Erklärung: Beim ´Symbolismus´ handelt es sich um eine Strömung in Bildender Kunst und Literatur, die sich aus der Romantik entwickelte und etwa zeitgleich mit dem von may_roora erwähnten ´Naturalismus´ seinen Höhepunkt erreichte (in etwa um 1890), wobei festzuhalten ist, dass ´Naturalismus´ als Epochenbegriff primär die Literatur betrifft – in der Bildenden Kunst gibt es diesen (in enger Verbindung mit dem ´Realismus´) zwar auch, allerdings wird der Begriff ´Naturalismus´ dort heute in erster Linie zur Beschreibung einer Darstellungsweise verwendet. (Ähnliches gilt auch für den Symbolismus, dessen Einfluss sich zum Beispiel besonders stark bei den Surrealisten erkennen lässt.) Die Themen der ´Symbolisten´ waren etwa das Verdrängte, das Unterbewusste, das Mythologische und das Okkulte, in erster Linie aber das Rätselhafte. (Zu  erwähnen, dass  auch die als ´Impressionismus´ bezeichnete Strömung zeitgleich koexistierte, ist hier wahrscheinlich überflüssig, zumal Walter Sickert oftmals damit in Verbindung gebracht wird, obwohl er , streng genommen, kein  typischer Vertreter dieser Richtung war.)

Um aber auf JtR zurückzukommen und auf  ´Symbolik´ einzugehen: Im Gesamteindruck (!) lässt sich an den jeweiligen Verletzungen, und der Art und Weise, wie der Täter die Toten an den Tatorten hinterlassen hat, kein System von Symbolen zweifelsfrei erkennen, dem in der damaligen (!) englischen / europäischen Gesellschaft oder Kultur in dieser Form eine über die sinnlich wahrnehmbare Sache hinausweisende Bedeutung zuerkannt wurde. Wenn wir es hier also abseits einer generellen Warnung des Täters vor sich selbst und vor dem, zu was er imstande ist, mit einer Art Symbolik zu tun haben, dann lediglich mit einer, die letztendlich nur für den Täter selbst zweifelsfrei nachvollziehbar war (wie Shadow Ghost eben bereits erwähnte), ferner vielleicht mit einer für eine ganz spezifische Zielgruppe (dazu unterscheidet sich sein Vorgehen von Fall zu Fall allerdings doch recht stark), oder aber eben mit einer, die aufgrund bestimmter (vielleicht nicht einmal zutreffender) und aus dem Gesamtkontext gerissener  Details von den  damaligen Medien (zur Auflagensteigerung) oder Laien hineininterpretiert wurde. Fazit: Ganz egal, was sein eigentliches Motiv war (und selbst wenn er, was nicht gerade wahrscheinlich ist, im ´Auftrag´ einer anderen Person oder ´übergeordneten´ Sache handelte): Dem Täter ging es hier in erster Linie letztlich um sich selbst, oder anders formuliert: Ja, er war ziemlich kaltblütig. (Insofern glaube ich aufgrund der Vorgehensweise des Täters auch nicht, dass die Morde für ihn primär zur Qual oder Demütigung der Opfer dienten (da wäre er dann wahrscheinlich, wie Du schon erwähnt hast, anders vorgegangen), sondern zu seinem wie auch immer gearteten eigenen ´Nutzen´, selbst wenn dieser ´Nutzen´ eventuell nur ´Befriedigung´ war.)


@panopticon: Ich bin durchschaut! Korrekt, ich bin auch in Wien z´haus...
:icon_mrgreen:


Grüße,
panopticon
« Letzte Änderung: 05.03.2010 14:50 Uhr von panopticon »

KvN

  • Gast
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #35 am: 08.03.2010 21:58 Uhr »
Gut gedacht, wohl gesprochen!

Trotzdem: Wir haben bei den Rippermorden ein ausgeprägtes staging, sowohl bei den einzelnen Taten als auch bei der Serie im gesamten betrachtet. Wenn auch keine Symbolik im engeren Sinn erkennbar ist - da bin ich völlig deiner Meinung - die Fundposition war deutlich abwertend und ich glaube nicht dass es Zufall ist, genauso wie die Steigerung des Grades der Verstümmelung. Das Arrangement im Fall Kelly ist für mich die denkbar abscheulichste Karikatur einer liebesbereiten Frau, zynisch und ekelhaft.

Aber vielleicht ist das einfach mein subjektives Empfinden...

Grüße
 

may_roora

  • Gast
Re: Die Organentnahme - Warum?
« Antwort #36 am: 08.03.2010 23:03 Uhr »
Zitat
"Im Fall von Mary Jane Kelly wurden viele ihrer inneren Organe entfernt und sowohl in ihrem Zimmer als auch unter und neben ihrem Körper verteilt. Lediglich das Herz wurde vermisst."
Quelle: Wikipedia
- Falls das, was in Wikipedia steht, stimmt, war das Herz wohl wirklich weg. :icon_confused:

@panopticon
Ich habe den Naturalismus nur erwähnt, um Shadow Ghost einen Beweis zu liefern, dass das Herz damals auch schon für Liebe stand. Ich weiß nicht, ob er sich irgendwie als Künstler gesehen hat und ein gewisses "Bild" hinterlassen wollte. Allerdings ist meine (wie KvN auch sagt, vlt persönliche, subjektive) Meinung, dass er nicht einfach sinnlos herum geschnippselt hat. Irgendwas Symbolisches kann, denke ich, sehr wohl dahinter gesteckt haben. Nur weil er ein Mörder war, muss er nicht völlig gefühlstot gewesen sein. Eben weil es ihm nur um sich selbst ging, hat er in den Morden meiner Meinung nach etwas Persönliches gesehen und diese vielleicht wie einen selbsterfundenen Ritus gefeiert.

Ahh, das mit den Gedärmen hab ich falsch verstanden, ich dachte, JtR hätte sie über seine eigene Schulter gelegt und wollte deswegen wissen, woher man die Idee denn bitte hat. :icon_mrgreen:
Wenn er sie über die Schulter des Opfers gelegt hat, ists ja klar, dass die so vorgefunden wurden. :)