Autor Thema: Jack London - Die Menschen des Abgrunds  (Gelesen 9685 mal)

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Schwarzblau

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Jack London - Die Menschen des Abgrunds
« am: 04.07.2012 21:30 Uhr »
Plötzlich aber verschwand Jack London für Monate aus dem Blick der Öffentlichkeit – und tauchte Anfang 1903 mit einem Buch wieder auf, das wohl niemand erwartet hätte: Statt eines neuen Schmökers aus dem Lande des Frosts präsentierte der “Kipling of the Cold” seinen Lesern ein Lehrstück über soziale Kälte, “Menschen des Abgrunds”, einen Sozialreport in Erzählform über die Lage der Slumbewohner von — London!

    Als Undercover-Agent des Sozialprotests in der Stadt abzutauchen, deren Namen er trägt, fügte London´s Abenteurer-Image ein neues Glanzlicht hinzu. In Petticoat Lane staffiert er sich mit abgerissener Kleidung aus und verschwindet für sieben Wochen im Londoner East End – ein Goldstück als eiserne Reserve im Hosenbund und auf den Lippen die Geschichte vom arbeitslosen US-Matrosen.

    Von allen meinen Büchern liebe ich “Menschen des Abgrunds” am meisten. Kein anderes Buch hat mich so viel Herzblut und Tränen gekostet wie diese Studie über die ökonomische Erniedrigung der Armen.

    Indem er seinen kurzweiligen Augenzeugenbericht geschickt mit Statistiken und anderem Faktenmaterial untermauert, demonstrierte Jack London, daß Soziologie sich durchaus spannend und emotional aufrührend erzählen läßt – und begründete damit die investigative Sozialreportage als neue Literaturgattung, die bei uns später vor allem durch Kisch und Walraff zur Geltung kommt.

    London´s Fazit aus seiner Erfahrung unter den Menschen des Abgrunds führte den verblüfften Leser dann wieder zum altbekannten Hauptthema des Autors zurück, Wildnis und Zivilisation: Wenn der Kapitalismus trotz seiner Vervielfachung der menschlichen Produktivkraft ein Millionenheer von Menschen am Hungertuch nagen läßt, was bitte ist dann für diese Menschen der Vorteil gegenüber der Lebensqualität ihrer steinzeitlichen Vorfahren?

    Wenn die Zivilisation dem Menschen nichts Besseres bieten kann, dann gib uns brüllende, nackte Barbarei. Besser, ein Geschöpf der Wildnis und der Wüste, der Höhle und des primitiven Lagers, als eine erbärmliche Kreatur der Maschine und des sozialen Abgrundes.

Jack-London.org


Das Buch war interessant, aber letztendlich wenig abwechslungsreich. Ich habe gelesen, dass die Morde von Jack the Ripper die Aufmerksamkeit auf die Zustände in Whitechapel gelenkt und die Zustände dort verbessert haben sollen. Jack London war 14 Jahre danach dort und was sich gebessert haben soll, ist mir absolut schleierhaft:

1.) Das durchschnittliche Todesalter betrug 35 Jahre – Mord, schlechte Ernährung, Industrieabgase (der berühmte Londoner Nebel bestand zum großen Teil daraus), vergiftete Luft beim Arbeiten und Krankheiten taten ihr Werk.
2.) Obdachlosen war es per Gesetz verboten nachts zu schlafen; taten sie es doch, wurden sie von der Polizei geweckt.
3.) In den Obdachlosenunterkünften musste man die Unterkünfte (wenn man eine bekam), durch Arbeit ableisten, z.B. durch Steine brechen oder 4 Pfund Werg (Flachs) zupfen.
4.) Ganze Familien mussten auf weniger Raum leben, als einem einzelnen Soldaten zugestanden worden ist; durch Nach – und Nachvermietungen wurden Betten (und der Platz unter dem Betten) im Dreischichtensystem genutzt.
5.) Es wurde immer weniger bezahlt, als jemand zum Leben brauchte, ein Telefonmädchen bekam z.B. 11 Schilling, brauchte aber 18 Schilling (ohne neue Kleidung) zum Leben. – Das führen unsere Politiker schon wieder erfolgreich in Deutschland ein.
6.) Die Menschen hatten nicht die Kraft, sich die Insekten von Leib zu halten, die teilweise zu Tausenden auf ihnen rumkrochen.
7.) Arbeitswerkzeug musste selbst mitgebracht werden.

Leider waren die Betrage in dem Buch nicht in den Anmerkungen in DM umgerechnet, weswegen ich mit den Beträgen, die London nennt, nichts anfangen konnte. In einem anderen Buch habe ich einmal gelesen, eine Nacht im Ritz hätte in der Zeit *skandalöse* 1 Pfund gekostet; wenn ich das umrechne, dann wäre 1 Pfund = 255-300 Euro. Andererseits habe ich Zweifel, dass man das so rechnen darf, denn nach ungefähr 5 Jahren stiegt das Gehalt eines Telefonmädchens auf 1 Pfund / Woche, was so schlecht für die damalige Zeit nicht wäre.

Fazit:

Mir war das Buch auf Dauer zu deprimierend – wer sich über die Zustände in Whitechapel informieren möchte, dem sei das Buch zusammen mit einer Doku über den Ort zur Zeit des Rippers empfohlen (Die Doku zeigt viele Orte aus dem Buch und zitiert dieses). Wer sich dann noch von Büchern und Filmen blenden lässt, die in der Oberschicht spielen, dem ist nicht mehr zu helfen.

Tipp. Passend zur Lektüre gibt es Victorian London Street Life in Historic Photographs

Original-Rezi mit einer Doku über Whitechapel zu Zeiten des Rippers: http://nomasliteraturblog.wordpress.com/2012/05/06/abgebrochen-die-menschen-des-abgrunds/

Offline thomas schachner

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Schwarzblau

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Re: Jack London - Die Menschen des Abgrunds
« Antwort #2 am: 05.07.2012 14:06 Uhr »
Ich gebe auch ein Buch kostenlos ab, nur ist der Zustand alles andere als toll.