Hier zwei Artikel aus der "Neuen Freien Presse" vom Oktober 1888 - Um nicht extra einen neuen Thread anfangen zu müssen, habe ich sie hier untergebracht.
Letzter Artikel zeigt, wie Medien die Morde in Whitechapel sogar dazu nutzten, recht polemisch über internationale Politik zu "berichten".
NEUE FREIE PRESSE (Österreich-Ungarn)
Neue Freie Presse,
Donnerstag, 4. October 1888, Seite 4
[Die Morde in London.] Der englischen Polizei ist es zur Stunde noch nicht gelungen, den Thäter der Samstag Nachts im Ostende Londons begangenen Morde ausfindig zu machen. Es heißt, daß am 29. d. M. in Goldston Street ein Theil der Schürze der in Mitre Square London aufgefundenen Frauensperson entdeckt wurde, während heute Morgens ein Polizist ein scharfes Messer in der Gegend fand, dessen Klinge fast 10 Zoll lang war. Am letzten Donnerstag erhielt die Geheimpolizei einen mit "Jack der Aufschlitzer" unterzeichneten Brief, in welchem der Schreiber sich in höhnischen Worten über die Unfähigkeit der Polizei erging und die Mittheilung machte, daß er das nächstemal seinem Opfer auch noch die Ohren abschneiden werde. Der Brief könnte als dummer Witz erscheinen, wenn nicht der Umstand, daß der in Mitre Square ermordeten Frauenperson wirklich die Ohren fast abgeschnitten waren, etwas zu deuten gäbe und wenn ferner nicht die Anzeige, daß der Verfasser des Briefes in den allernächsten Tagen wiederum Mordthaten begehen würde, buchstäblich in Erfüllung gegangen wäre. Bis jetzt sind anläßlich der beiden Mordthaten zwei Verhaftungen vorgenommen worden. Eines der ermordeten Frauenzimmer ist als eine gewisse Elisabeth Stride identifiziert worden, während der Name der anderen noch zu ermitteln ist.
Neue Freie Presse,
Mittwoch, 17. October 1888, Seite 4
London, 10. October. [Orig.-Corr.] Politik ohne Interesse. Die Morde in Whitechapel.) "Politik" ist in diesem Augenblicke in England entschieden dull, wie man hier sagt, das heißt kein Interesse erregend. Mit auswärtiger Politik beschäftigt sich der Engländer in der Regel nicht, und was innere Angelegenheiten betrifft, so ist die irische Frage selbst für den eifrigsten Politiker und Zeitungsleser schon langweilig geworden. Toujour perdrix: stets die nämlichen Auflagen. Balfour sei ein Mörder und Gladstone ein Heiliger und dergleichen Redensarten mehr. Das Tagebuch des Kaisers Friedrich und noch mehr das Vorgehen des Fürsten Bismarck gegen Geffcken erregten wol einiges Interesse; die Engländer der heutigen Periode können eben nicht begreifen, daß man einen so hochachtbaren Mann wie Professor Geffcken in einen Kerker werfen kann, weil er Auszüge aus dem Tagebuch des verstorbenen Kaisers veröffentlichte. Am wenigsten begreifen die Engländer jedoch die Haltung der Cartellpresse, welche von dem Grundsatze ausgeht, daß ein Mann, der, wie Geffcken, in seinen Aufsätzen die Politik Bismarck´s in einigen Fragen nicht billigte, ein Verbrecher, ein Landesverräther sein müsse. Und doch gibt es noch Leute, welche sich über die Unfehlbarkeit des Papstes aufzuhalten den Anschein geben. Wenn die Theorie jener deutschen Zeitungen auch hierzulande sich einbürgern sollte, dann müßte Lord Salisbury den Earl Granville einsperren lassen, und Jedermann, der gegen die auswärtige Politik des jeweiligen Ministers schreibt, müßte als Landesverräther in das Gefängnis wandern.
Eigentlich ist es jetzt hier bloß ein einziger Gegenstand, welcher alle Welt beschäftigt und von dem Jedermann spricht. Das sind die Morde in Whitechapel; das Scheusal, welches dieselben verübte, verstand es bisher noch immer, ganz spurlos zu verschwinden, und die Polizei besitzt auch nicht die geringste Ahnung, wer der Mörder sei, wer er sein sollte und wo man ihn suchen müsse. Die barocksten, absurdesten und verrücktesten Meinungen – hier Theories genannt – wurden schon bezüglich des Mörders und seiner Beweggründe zu seinen Verbrechen aufgestellt, allein dieselben halfen der Polizei noch keinen Schritt weiter. Da die menschlichen Detectives sich ganz rathlos in dem Falle zeigen, so sollen jetzt "Bluthunde" benutzt werden, um dem Mörder auf die Fährte zu kommen.
Grüße,
panopticon