Ich glaube, dass die kurzen Abstände eine Kombination aus Drang, Gelegenheit und Erfahrung waren.
Betrachten wir den Ripper zu Beginn seiner „Karriere“. Er hat (aus welchen Gründen auch immer) das Bedürfnis, Frauen anzugreifen und ihnen die Geschlechtsorgane zu zerfleischen. Bei seinem ersten Versuch im Februar 1888 sticht er deshalb Annie Millwood nieder. Nur das diese sich noch wehren kann, weshalb einige Stiche auch die Beine treffen. Was lernt er daraus? Er muss das Opfer erst kampfunfähig machen!
Er wartet eine Zeitlang. Sicher ist er nach diesem ersten Angriff verwirrt und verängstigt. Doch er merkt auch, dass dieser erste Angriff kaum Aufmerksamkeit erfährt. Die Presse berichtet kaum darüber, und die Polizei steht auch nicht am nächsten Tag vor seiner Tür, um ihn zu verhaften. Dennoch weicht er für seinen nächsten Angriff nach Bow aus. Bezeichnenderweise findet der Angriff auf Ada Wilson eine Woche nach dem Tod von Annie Millwood statt. Er fühlt sich wieder etwas sicherer, denn die einzige Zeugin seines ersten Versuchs ist tot. Bei Ada Wilson versucht er, sein Opfer erst durch Stiche in den Hals zu töten. Doch das gelingt noch nicht so wie geplant. Sie kann noch um Hilfe rufen, und er kann mit knapper Mühe entkommen (vgl. Aussage von Rose Bierman). Was lernt er daraus? Keine Angriffe in Wohnungen, weil die Gefahr besteht, dass er nicht entkommen kann. Und: er muss sein Opfer am Schreien hindern!
Wieder dürfte er verängstigt gewesen sein, dass jeden Augenblick, die Polizei bei ihm vor der Tür steht. Er versucht sich unauffällig zu verhalten, und darauf zu warten, dass sich seine Lage beruhigt. Doch Ada Wilson überlebt den Angriff. Deshalb die relative lange Pause bis zu Martha Tabram. Sie konnte nicht mehr um Hilfe schreien, an ihr konnte er sich „austoben“.
Doch er merkt, das Zustechen bringt ihm nicht die Erfüllung, die er sich erhofft hat, beim nächsten Opfer muss er schneiden. Er hat mittlerweile die Sicherheit, dass die Polizei ihm nicht auf den Fersen ist. Das sagt ihm seine Erfahrung. Das sagen ihm die Presseberichte. Schon ziemlich bald dürfte er wieder auf der Jagd gewesen sein, dürfte Prostituierte angesprochen haben, abgewogen haben, wer als Opfer in Betracht kommt. Vielleicht war er auch schon kurz davor, sein Messer zu ziehen und wurde kurz vorher gestört. Drei Wochen später jedenfalls begegnete er Polly Nichols. Nun konnte er seine Phantasien ausleben, er konnte sich „Perfektionieren“. Bis zum double event dürfte ihn wenig aufgehalten haben außer der Suche nach der passenden Gelegenheit, dem passenden Opfer. Er dürfte gelernt haben, wie er der Bürgerwehr und der Polizei aus dem Weg gehen kann. Vielleicht waren ihm die Routen der Polizisten auch schon von einer früheren kriminellen Karriere her bekannt.
Nach dem double event jedoch ist ihm das Pflaster zu heiß geworden. Er hatte nun sowohl die Metropolitain als auch die City Police auf seinen Fersen, es gab erste Beschreibungen von ihm in der Presse. Er war gesehen worden. Vielleicht ist er sich zu selbstsicher geworden. Er beschließt, vorsichtiger zu werden, sich zurück zu nehmen. Scheinbar kann er sich soweit kontrollieren. Er besucht vielleicht frühere Tatorte. Vielleicht ergötzt er sich auch an den mitgenommenen Organen, wie auch immer er sie aufbewahrte. Er wird auch weiterhin Prostituierte aufsuchen in der Hoffnung auf eine Gelegenheit. Und die bietet sich im November im Zimmer von Mary Jane Kelly. Endlich kann er wieder zuschlagen, seine Phantasien, die sich nach dem Eddowes Mord noch verstärkt haben dürften („Was kann ich einer Frau noch alles antun?“), explodieren.
Nach dem Kelly Mord gibt es wahrscheinlich wenig, was er sich noch vorstellen könnte, ausleben zu wollen. Die Lage für ihn ist zu kritisch, vielleicht wurde er im Rahmen der Haus-zu-Haus-Befragungen auch schon von der Polizei vernommen, vielleicht fürchtet er auch die Zeugenbeschreibung von George Hutchinson. Jedenfalls zieht er sich zurück. Ob er später für die Angriffe auf Alive McKenzie oder Frances Coles verantwortlich ist, ist wohl Thema für einen anderen Thread.
Viele Grüße,
Shadow Ghost