Hallo Anirahtak!
Vor dem ´
Alien Act´ 1905 (
http://en.wikipedia.org/wiki/Aliens_Act_1905) gab es (meines Wissens nach) an sich keine klaren Gesetze bezüglich Immigration in Großbritannien. Das 19. Jahrhundert war ja das Jahrhundert der Industrialisierung und Urbanisierung – gerade in Großbritannien, und während viele Briten in die USA auswanderten, zog auch das vereinigte Königreich viele Immigranten aus anderen Ländern an, was u.a. gerade im Frühjahr und Sommer 1888 sehr intensiv diskutiert wurde, weshalb ich die Ereignisse bis dahin - vor allem aber die von 1888, die ich als sehr wichtig erachte - mal etwas näher skizziere:
Es gab aber davor im Laufe der Geschichte Ausnahmen: Unter
Edward I. beispielsweise wurden 1290 die Juden aus England vertrieben und die Ausübung dieser Religion untersagt.
Oliver Cromwell hatte erst 1656 wieder die Ansiedelung von Juden und die Praktizierung des jüdischen Glaubens in England erlaubt, was uns direkt nach Whitechapel und Spitalfields, sogar konkret ins Jahr 1888 und in Folge auch bis zum ´Alien Act´ von 1905 führt. Seit Cromwell gab es also eine stetige jüdische Zuwanderung (mit Ausnahme der Zeit des Krieges mit Frankreich (Koalitionskriege), ab 1830 aber wieder stärker). Die jüdische Gemeinde siedelte sich ursprünglich außerhalb der City vor der alten Stadtmauer, genauer dem Aldgate, dem ´Alten Tor´ an – Also eben in den Bereichen
Spitalfields und Whitechapel. (Wie bereits anderswo erwähnt, kam die ehemalige hugenottische Bausubstanz in diesem Bereich ihren Berufen – zumeist in der Textilbranche (Schneider, Schuhmacher,...) – sehr entgegen.) Das ursprüngliche Judenviertel war ziemlich genau der Bereich zwischen Aldgate / Bishopsgate Station (also nahe des Mitre Square) im Westen, Buxton Street (das ist die nächste Parallele zur Hanbury Street) im Norden, Brady Street im Osten (das ist die Straße, in die die Buck´s Row verläuft) und der Whitechapel High Street / Whitechapel Road (das ist die Straße, die der Ripper, sofern er dafür verantwortlich war, nur im Fall Stride ´überschritt´) im Süden. (Man könnte also sagen, dass das Zentrum des ursprünglichen Judenviertels gleichzeitig das Zentrum der Mordserie darstellte, bzw, dass das Judenviertel letztlich bereits seit dem Mord an Eddowes ringsum von bestialisch verstümmelten Toten ´flankiert´, um nicht zu sagen regelrecht ´markiert´ wurde, was nachweislich auch den Ermittlern, allen voran Sir Charles Warren, auffiel – Mehrere Angehörige des damaligen Polizeiapparates äußerten nach der Nacht des ´Double Events´ irgendwie direkt oder indirekt, dass es den Eindruck mache, man wolle sie mit der Mordserie scheinbar auf die jüdische Gemeinde oder Ausländer und eventuell Sozialisten hetzen. In meinen Augen hatten die Ermittler damit wohl recht, denn die ´Auswahl´ des Ripper-Territoriums ist gerade zu dieser Zeit (siehe weiter unten) schon bemerkenswert und Prostituierte waren auch in den anderen Stadtteilen Londons zu finden, vor allem im übrigen Bereich des East Ends, nicht nur in dem abschätzig oftmals als ´Little Jerusalem´ bezeichneten Bereich in Whitechapel (inklusive Spitalfields), in dem der Ripper des Nächtens letztlich umging.) Durch die enorme Zuwanderung jüdischer Immigranten in den 1870er und 1880er Jahren vor allem aus Polen, Deutschland, den Niederlanden und Russland (bei letzterem gab es in den 1880er Jahren ja die Pogrome) expandierte die jüdische Bevölkerung aber allmählich auch in die angrenzenden Teile der City im Westen, bis Mile End im Osten und bis maximal ´the Highway´ im Süden. Nicht alle jüdischen Zuwanderer entflohen Kontinentaleuropa nur wegen der perversen, ihnen dort entgegengebrachten Feindlichkeit – Viele hofften, der Armut generell zu entkommen – wie auch viele Personen anderen Glaubens und anderer Herkunft (siehe Elisabeth Stride) und wurden von den bereits in London angesiedelten ´Religions- oder Herkunftskollegen´ auch oftmals ´erstversorgt´. Wie multikulturell Whitechapel (inklusive Spitalfields) damals war, wurde gerade an Wochenenden und Feiertagen merklich, wenn sich auf den Straßen Menschen aus allen Ländern tummelten und die Märkte (wie der Petticoat Lane Market in der Middlesex -, Wentworth – und Goulston Street) geöffnet hatten. Darüber gibt es hochinteressante Berichte. Dass die meisten neuen Zuwanderer aber jedenfalls mittellos, und die Verhältnisse gerade im East End katastrophal waren, ist ja bekannt.
Politische Entwicklungen 1888: Vielen Briten war der extreme Zuzug ein Dorn im Auge und manche Medien hetzten schon seit langer Zeit gegen Zuwanderer, vor allem gegen Juden. Gerade im
Frühjahr und Sommer 1888 keimte die
Debatte über Zuwanderung und eine Verschärfung der (wohl eigentlich kaum vorhandenen) betreffenden Gesetze sehr heftig auf. Es gab im House of Commons jedenfalls wohl ein ´
Select Committee on Emigration and Immigration (Foreigners)´, das für die Zuwanderung zuständig war, und das gemeinsam mit dem ´
Lord´s Sweating Committee´ Befragungen und damit verbundene, heftige Debatten bis kurz vor der Mordserie (genauer bis Ende Juli 1888) unter anderem darüber führte, ob man jüdische und andere Zuwanderer nicht generell als ´soziale Bedrohung für die Nation´ betrachten sollte – und diese Debatte wurde teilweise mit äußerst dubiosen und skurrilen Mitteln geführt – So ließen strikte Einwanderungsgegner, allen voran
Arnold White (
http://en.wikipedia.org/wiki/Arnold_White) pikanterweise extra über einen Agenten namens Levy engagierte, bewusst noch viel heruntergekommener und geistig verwahrlost wirkende (!) Juden aus dem East End (die mit der Unterstützung zur Ausreise in die USA oder Rückreise in ihr Heimatland und weiterer Unterstützung geködert wurden) vor dem Lord´s Committee antanzen, um die ´Degeneriertheit´ von Zuwanderern ´unter Beweis zu stellen´, Levy gestand den Schwindel schließlich, und es scheint, dass White noch mehr antijüdisch veranlagt war, als ohnedies schon rein fremdenfeindlich. (In einem Artikel in der
Times hatte White zuvor unter der Überschrift ´England den Engländern´um Erlaubnis gebeten, durch den Artikel quasi ´einen Schuss auf die verarmten Ausländer abgeben zu dürfen´. (Die
Times dürfte keine Probleme mit provokativen Artikeln gehabt haben – sie war es auch, die ein Jahr zuvor die merkwürdigen, von Dr. Robert Anderson verfassten Artikel abdruckte, mit denen dieser ja eindeutig eine Verbindung von Parnell und Amerikanischen Fenians assoziieren wollte.) Auch der Lipski-Fall wurde im Laufe der Debatten 1888 als Argument gegen Juden und Immigranten ins Rennen geschickt und Jüdinnen wurden absurderweise sogar als ´Bedrohung für Prostituierte´ aufgeführt, weil sie ´unkeusch´ seien. White sprach der jüdischen Bevölkerung sogar Sauberkeit ab, und als ihm erklärt wurde, dass Sauberkeit sehr wichtig im jüdischen Glauben ist (und dass Whitechapel über eine Menge jüdischer Bäder verfügte, wie z. Bsp. das uns bekannte zwischen Goulston Street und Castle Alley), antwortete er, dass er das nicht wusste, es aber auch nicht glaube. (White fiel übrigens angeblich Jahre später auch dadurch auf, dass er vor einer ´Verdeutschung´ Englands warnte und auf seinem Grab findet sich laut seinem letzten Willen angeblich die Inschrift ´for England´). Unter den fast 300 damaligen Befragten traten aber auch britische Geschäftsleute (zumeist klarerweise aus dem Textilbereich) aus dem East End auf, die ihren jüdischen Konkurrenten ´Dumping´ vorwarfen, und es gab auch einige bereits länger im East End ansässige jüdische Geschäftsleute, die ebenfalls Kritik an der Zuwanderungspolitik Großbritanniens äußerten, da auch sie sich – vorwiegend wirtschaftlich oder wegen ihrer Anerkennung als Staatsbürger – bedroht fühlten und ihre Religionskollegen zu einem größeren ´Integrationswillen´ aufforderten. Auch die jüdische Gemeinde versuchte Neuankommende zu einer Rückkehr in ihr jeweiliges Heimatland zu bewegen und bot ihnen dafür Hilfe an. Währenddessen kam es immer häufiger zu gewalttätigen Übergriffen auf Juden und die
Tories nutzten all die Debatten sogar, um Gangs zu engagieren, die sozialistische Veranstaltungen störten und dort gegen alle Ausländer hetzten. Dokumentiert ist ein Fall, bei dem ein Typ aus einer dieser ´Tory-Gruppen´ bei einer Veranstaltung in Bethnal Green herumschrie, er würde nie für einen Ausländer arbeiten, sondern lieber hungern, und habe es schon ausgeschlagen, für einen Deutschen zu arbeiten, weil er alle Deutschen hasse. Letztendlich führte die Migrationsdebatte im Endeffekt zum ´
Alien Act´ 1905, der aber nicht, wie diverse Ausländerfeinde in ihrem Wahn zuvor forderten, die Einreise von Juden oder Ausländern generell verbot, sondern primär gegen (organisierte) Bettler und Kriminelle gerichtet war. Wie geschildert, ist das alles in meinen Augen aber für unseren Fall hochinteressant: ´Die Juden sind die Männer, denen man nicht umsonst die Schuld geben wird.´ über einem weggeworfenen Beweisstück an einem mehrheitlich von Juden bewohnten Gebäude im jüdischen Viertel liest sich, unabhängig davon, wer es geschrieben hat, und ob es sich auf Jesus von Nazareth bezieht, oder nicht, doch irgendwie wie ein Suggestionsversuch an die Polizei und die Öffentlichkeit - Warren war gut beraten, den Satz auch als solchen zu sehen, und sich nicht davon leiten zu lassen. Ob er ihn aber gleich hätte unfotografiert entfernen lassen sollen, ist natürlich eine andere Frage...
Wie sah es bei den anderen Immigranten aus:
Für unseren Fall hier sind wohl in erster Linie noch die
Iren interessant. Das heutige Irland gehörte damals zwar ohnedies zum Vereinigten Königreich, allerdings ging von irischen Einwanderern in London ja eine Terrorgefahr aus, und den Fenians war ja 1884 sogar schon einmal das Hauptgebäude der Metropolitan Police in einem als ´schottisch´ bezeichneten Hof zum Opfer gefallen. Zumal man auch sie lieber vor den ehemaligen Stadtmauern wusste, besiedelten die irischen Einwanderer wie die Hugenotten, Deutschen und Juden ebenfalls vorwiegend das nähere East End – ihre Hauptberufe, sofern sie einen Beruf hatten, waren (im Gegensatz zu den jüdischen Immigranten) Carman, Straßenhändler und Arbeiter - zumeist Dockarbeiter, weshalb sie auch stark im südlichen und etwas östlicheren Bereich des East Ends in Docknähe anzutreffen waren (St-George.in-the-East, Wapping,...), wenngleich auch eine ganze Menge Iren in Whitechapel und Spitalfields wohnte und viele sogar Häuser mit den dort vorwiegend angesiedelten jüdischen Immigranten teilten. Gerade die große Hungersnot in den 1840er Jahren hatte viele Iren nach London geführt (
http://de.wikipedia.org/wiki/Große_Hungersnot_in_Irland) und auch die Iren waren in London diversen Vorurteilen ausgesetzt. Auch sie waren klarerweise stark vom Hass gegen verarmte Einwanderer betroffen und fanden, wenn überhaupt, nur im East End Arbeit, zumal ihre Ausbildung zumeist nicht gerade ausreichend war, um in der City einen Job zu finden.
Ein kurzer Blick auf die
Schweden im East End:
Elisabeth Stride suchte oftmals die ´
Swedish Chapel / Church´ in St.George-in-the-East (diese befand sich noch ein ziemliches Stück weiter südlich der Berner Street, aber von Whitechapel aus in etwa in der gleichen Richtung) auf und wurde von dieser zumindest zwischen 1879 und 1886 wie andere schwedische Immigranten angeblich auch öfter finanziell unterstützt.
In englischsprachigen Foren über JtR wird das Thema Einwanderung und Ausländerfeindlichkeit (auch als Motiv!), soweit ich das mitbekommen habe, wesentlich intensiver und häufiger diskutiert – wohl weil es mehr englischsprachige Publikationen über das East End,(vor allem über Whitechapel & Spitalfields) und seine damalige Entwicklung gibt. Zu allem, was ich bisher erwähnte, wäre vielleicht noch zu ergänzen, dass es scheinbar (zumindest soweit ich weiß) nach dem Mord an Kelly erstmals seit dem Mord an Nichols keine größeren Aufstände mit direktem Bezug zu den Morden gegen die jüdische Gemeinde oder jüdische und andere Zuwanderer mehr gab (vielleicht auch wegen der Dorset Street?) – Auch ein durchaus möglicher, plausibler Grund für ein Ende der Mordserie, wie ich meine, denn dass die Mordserie ausgerechnet im jüdischen Viertel stattfand, die Opfer verarmte Bettlerinnen bzw Prostituierte waren und zwei davon sogar einen Migrationshintergrund aufwiesen, beinhaltet eigentlich schon so ziemlich alles, gegen das sich xenophobe Briten damals richteten, und damit einen Themenkomplex, der gerade damals öffentlich heftig diskutiert wurde. Gerade in Kombination mit der Tatsache, dass der oder die Täter keine eindeutigen Anzeichen auf sexuelle Handlungen mit den Opfern hinterließ/en, erscheint mir das jedenfalls sehr bemerkenswert! Es ist zumindest interessant, sich den politischen Hintergrund, vor dem die Morde damals stattfanden, näher anzusehen – ob er nun direkt, indirekt oder vielleicht auch gar nicht (was ich ehrlich gesagt bezweifle) mit der Lösung des Falles zu tun hat... Auf jeden Fall ist das Thema ´Migration im East End´ sehr umfangreich, sensibel und hoch komplex! (Etwaige, nötige Korrekturen betreffend erwähnter Ereignisse natürlich wie immer willkommen und, gerade dieses Thema betreffend, explizit erwünscht!)
Buchtipps zum Thema ´Migration und das East End´ (englisch):
William J. Fishman: ´
East End 1888´
Peter Ackroyd u.a.: ´
Jack the Ripper and the East End´
Anne J. Kershen (British Politics Society) ´
Strangers, Aliens and Asians: Huguenots, Jews and Bangladeshis in Spitalfields 1660-2000 ´
Zum Thema Vorurteile, die Medien und urbane Mythen im JtR-Fall durchaus auch:Alexandra Warwick & Martin Willis (Ed.): ´
Jack the Ripper: Media, Culture, History´
Beste Grüße,
panopticon