Berliner Tageblatt, 14. November
1888
Die Londoner Polizeistreife.
Es gab eine Zeit, in welcher die Londoner
Polizei mit Recht als die beste der Welt galt. Neuerdings ist dem
nicht mehr so, wie englische Stimmen selbst während der letzten
Jahre wiederholt zugegeben haben. Jetzt ist in Folge der grausigen,
geheimnisvollen Frauenmorde, welche seit zwei Monaten ganz London
in ängstlicher
Aufregung halten, plötzliche eine Krise in der Londoner Polizeiverwaltung
eingetreten, welche binnen wenigen Tagen zum Rücktritt des
Polizeipräsidenten Warren und des Chefs der Geheimpolizei,
Mr. Monro, geführt hat.
In der vorgestrigen Sitzung des Unterhauses wurde – wie
telegraphisch kurz gemeldet – der Minister des Innern, Matthews,
interpellirt, warum die Polizei bisher die Entdeckung des Verübers
der grässlichen Frauenmorde nicht ermöglicht habe. Herr
Matthews antwortete, die Vergeblichkeit der polizeilichen Bemühungen
sei keiner Veränderung in der Organisation der Polizei, sondern
der ungewöhnlichen Schlauheit und Vorsicht des Verbrechers
zuzuschreiben. Sodann setzte der Minister des Innern die Grüne
aus einander, welche die Regierung bewogen, keine Belohnung auf
die Entdeckung des Mörders auszusetzen. Das […] (Anm.:
Wort kann nicht identifiziert werden), derartige Belohnungen auszusetzen,
wurde in 1884 von dem damaligen Minister des Innern, Sir W. Harcourt,
aufgegeben, weil es sich nicht allein in den meisten Fällen
als unwirksam, sondern auch als gefährlich und gemeinschädlich
erwies. So ereignete sich in 1884 der eigenthümliche Fall,
dass ein Komplot ausgeheckt wurde, die deutsche Botschaft in die
Luft zu sprengen und eine unschuldige Person des Verbrechens anzuklagen,
um die auf die Entdeckung des Thäters ausgesetzte Belohnung
zu erlangen. In dem Falle der Morde in Whitechapel sei ebenfalls
die Gefahr vorhanden, dass die Aussetzung einer hohen Belohnung
zu falschen Aussagen führen dürfte. Die Regierung würde
indes nichts unversucht lassen, den Verüber der grässlichen
Verbrechen, welche das ganze Land erschüttert haben, zur Rechenschaft
zu ziehen. Der Rücktritt des Chefs der Geheimpolizei sei erfolgt,
weil derselbe in Fragen der Polizeiverwaltung anderer Ansicht war
als sein Vorgesetzter, Sir Charles Warren.
Die plötzliche Entlassung des Letzteren erregt in ganz England
großes Aufsehen. Als direkte Ursache wird, wie schon gemeldet,
die Rüge bezeichnet, welche ihm der Minister des Innern vor
Kurzem wegen der Veröffentlichung eines Aufsatzes über
die Londoner Polizei in „Muttays Magazine“ ertheilte.
Sir Charles Warren scheint die ministerielle Verordnung, wonach
Beamte Werke oder Artikel über ihre Departmements nicht ohne
besondere Erlaubnis ihres Vorgesetzten veröffentlichen dürfen,
nicht gekannt zu haben. Er machte sich somit durch die Veröffentlichung
seines Aufsatzes in der erwähnten Monatsschrift eines Disziplinarvergehens
schuldig, und die ihm ertheilte Rüge seines Chefs, des Minister
des Innern, verstimmte ihn derartig, dass er seinen Posten niederlegte,
dem er in gewisser Hinsicht nicht gewachsen war, und der ihm durch
Anfeindungen seitens der radikalen Presse wegen seines schroffen
Verhaltens in der Trafalgar Square-Frage, durch verschiedene Zwistigkeiten
mit seinen Untergebenen und die der seinen Befehlen unterstellten
Polizei gemachten Vorwürfe der Unfähigkeit, weil sie
noch nicht im Stande gewesen, den Verüber der Frauenmorde
in Whitechapel zu entdecken, gewiß jehr verleidet worden.
Sir Charles Warren war vor einiger Ernennung zum Polizeichef von
London im April 1886 General-Gouverneur der Küsten des Rothen
Meeres und Kommandant von Sanafim, und ihm wird voraussichtlich
ein ähnlicher Posten übertragen werden.
Es muss abgewartet werden, ob die Londoner Polizeikrise nunmehr
beendet ist. Die „Pall Mall Gaz.“ nimmt von dem Gerücht
Notiz, dass auch Minister Matthews demnächst seine Entlassung
nehmen werde. Gleichzeitig melden andere Blätter, dass vielleicht
Sir Randolph Churchill und Lord Hartington in das Kabinet eintreten
werden.
Thomas
Schachner
(Dokument
zuletzt bearbeitet am 20.11.04)