Berliner Tageblatt, 13. November
1888
Ein neuer Frauenmord in London warf am jüngsten Freitag einen
traurigen Schatten auf das gerade stattfindende Lordmayors-Fest.
In den Mittagstunden verbreitete sich das Gerücht, in Spitalfields
sei des Morgens zwischen 10 und 11 Uhr ein neuer Mord begangen
worden. Die Einzelheiten desselben sind fast noch entsetzlicher,
als die der schaurigen, jüngst in Whitechapel verübten
Greuelthaten.
Das Opfer, eine 24jährige Dirne, wurde in einem Logierhause
in Dorset-court todt aufgefunden. Ihr Kopf war fast vom Rumpfe
getrennt, das Fleisch vom Gesicht gerissen, die Brüste, Nase
und Ohren waren abgeschnitten und der Unterleib ähnlich wie
in den früheren Fällen verstümmelt.
Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass der grause Mord auf dasselbe
Ungeheuer zurückzuführen ist, welches nun schon seit
Wochen das Ostende Londons mit Schrecken erfüllt. Der Schauplatz
des Verbrechens ist nicht weit von Hanbury Street entfernt, wo
die Nicholls ums Leben gebracht wurde. Die Ermordete war eine Irländerin
und lebte mit einem Kohlenträger namens Kelly zusammen, der
sie für seine Frau ausgab. Wie die meisten Frauenzimmer ihres
Schlages, war sie dem Trunke stark ergeben. Sie bewohnte ein möbliertes
Zimmer in einem Hause in Dorset Street, zu dem der Eingang von
Millers Court aus führte. Das Haus hat ein Krämer gemiethet,
dessen Diener die Mordthat zuerst entdeckte. Da die Kelly mit ihrer
Miethe im Rückstande war, begab er sich gestern früh
in ihre Wohnung, wobei er den grausam verstümmelten Leichnam
der Unglücklichen fand. Sofort wurde die Polizei benachrichtigt.
Der verstümmelte Leichnam wurde in eine Kiste gepackt und
nach der Morgue in Shoreditch gebracht, wo die Leichenbeschaueruntersuchung
abgehalten wird. Bemerkenswerth ist, dass von den anwesenden Ärzten
konstatiert wurde, dass, entgegengesetzt den früheren Mordthaten,
kein Stück des Körpers fehlte. Der Liebhaber der Ermordeten,
Kelly, hat jedenfalls nichts mit dem Verbrechen zu thun. Am Dienstag
Abend hatte er die Kelly mit der er Streit gehabt, freilich noch
besucht, wohnte jedoch schon seit 10 bis 12 Tagen in New Street,
wo ihn die Polizei gestern sinnlos betrunken im Bette vorfand. Über
die Zeit der Verübung des Mordes herrscht große Unklarheit.
Den Detectives ist es aufgefallen, dass die Mordthaten stets am
Ende der Woche verübt werden, und sie halten es daher für
möglich, dass einer der Fleischer der am Donnerstag und Freitag
in London eintreffenden und am Sonntag oder Montag wieder fortsegelnden
Viehdampfer der Mörder sein könnte. Bestimmte Anhaltspunkte
liegen für diese Theorie nicht vor. In dem Zimmer der Ermordeten
wurde ein Lootsenrock aufgefunden, ob er aber von einem der Liebhaber
der Kelly zurückgelassen ist, oder wem er sonst gehört,
ist noch nicht aufgeklärt. Die Polizei hat jetzt zwei Verhaftungen
anlässlich des Verbrechens vorgenommen. Beide Verdächtige
mussten jedoch als unschuldig entlassen weden. Auch „Jack
der Aufschlitzer“ hat wieder etwas von sich hören lassen
und in einem an die Polizei gerichteten Brief angekündigt,
dass er heute Abend seine Thätigkeit in dem Stadttheil Marylebone
wieder aufnehmen werde, wo er zwei Frauenzimmer bereits für
seine Zwecke notirt habe. Dem Briefe wird natürlich wenig
Beachtung geschenkt, wenn auch die Polizei daraufhin einige Vorsichtsmaßregeln
trifft.
Die Aufregung in Whitechapel kennt kaum noch Grenzen. Der Wachsamkeitsausschuß,
welcher in der letzten Zeit ermüdete, wird seine Thätigkeit
verdoppeln, und der Minister des Innern, Mathews, hat sich wohl
oder übel veranlasst gesehen, etwaigen Komplizen des Mörders
Begnadigung zuzusichern, falls sie den Behörden Mittheilungen
machen, die zur Ergreifung des Unholdes führen.
Thomas
Schachner
(Dokument
zuletzt bearbeitet am 20.11.04)