
Dr. Thomas Stowell erwähnte Sir William Gull das erste Mal
in Verbindung mit den Whitechapel Morden in einem Artikel, den
er für die Zeitung "Criminologist" im Jahre 1970 schrieb.
Informationen über das Leben und Wirken von William Gull erhielt
er von dessen Tochter Caroline Acland.
Seiner Theorie lag ein Artikel aus der "Sunday Times Herald" in Chicago von
1895 zugrunde, in der ein verrückter Arzt namens Thomas Mason als Ripper
verdächtigt wurde.
Mehrere "Ripperologen", darunter auch Stephen Knight in seinem
Buch "The Final Solution", fügten Stowells Bericht noch weitere
erschütternde Details hinzu und so war im Jahre 1973
der Grundstein für die "Königliche Verschwörung" mit
dem Hauptakteur William Gull gelegt.
Curriculum Vitae
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31. Dezember 1816 in Osyth
Mill - St. Leonard, Colchester
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29. Januar 1890 in London |
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Sir William Withey Gull war das jüngste von 8 Kindern. Sein
Vater, Besitzer eines Binnenschiffs, starb in London im Jahre 1827
an Cholera.
Im Jahre 1837 wurde William Gull als Schüler in das Guy's
Hospital aufgenommen und so begann eine Verbindung mit der "besseren
Gesellschaft", die bis an sein Lebensende halten sollte.
Mit einem Hochschulabschluss in Geisteswissenschaften verließ er
1841 die Universität von London und wurde 1843 Dozent für
Naturwissenschaften. Im Jahre 1846 erhielt er seinen Doktor in
Medizin. Anschließend war er von 1847 - 1849 Tutor und Dozent,
sowie "Fullerian Professor" der Physiologie (Anm. der Red.: nach
John Fuller, einem der Gründer der Königlichen Institution.
Im Laufe seines Lebens rief er die Lehrstühle Chemie und Physiologie
ins Leben).
Im Jahre 1848 heiratete er Susan Anne Dacre Lacy. Sie hatten miteinander
zwei Kinder: Cameron und Caroline.
Die Königliche Gesellschaft nahm in 1869 als Partner auf
und im Jahre 1871 errang er nationale Prominenz als er den Prinzen
von Wales gegen Typhus behandelte.
Zum Dank wurde er 1872 zum Baron ernannt (Anm. der Red.: englisches, erbliches
Adelsprädikat. Zusammen mit den "Knights" bildeten die "Baronets" den "niederen" Adel
- Anrede: Sir oder Lady). Außerdem wurde er Hofarzt der Königlichen
Familie und enger Vertrauter von Queen Victoria.
Am 29. Januar 1890 verstarb William Gull an den Folgen eines zweiten
schweren Schlaganfalls. Der Totenschein wurde von seinem Schwiegersohn
Dr. Theodore Dyke Acland unterzeichnet. Dies war ein recht seltsames
Vorgehen, denn normalerweise unterzeichnen Verwandte keine Totenscheine,
da man Angst hatte sie könnten sich durch den Tod des Angehörigen
bereichern.
Dies war zwar kein illegales Vorgehen, aber doch recht ungewöhnlich, da
noch weitere Ärzte in Bereitschaft waren.
William Gull hinterließ ein Vermögen. Nach heutigem
Stand knapp 23 Millionen Euro.
Argumente: PRO
- Er war ein ergebener Untertan der Englischen Krone und hätte
alles getan, um die Königliche Familie zu beschützen.
- Er war ausgebildeter Arzt und wäre somit in der Lage gewesen
den Opfern die Verletzungen zuzufügen.
- Die Morde wurden aufgrund des Modus Operandi des Öfteren
den Freimaurern zugeschrieben. William Gull gehörte dieser
Vereinigung angeblich an.
- Er selbst hat angeblich zugegeben, dass er manchmal aufwachte
und Blut unerklärlichen Ursprungs auf seiner Kleidung fand.
- In einer amerikanischen Zeitung wurde William Gull als Verdächtiger
genannt.
Argumente: CONTRA
- Zur Zeit der Morde war William Gull 71 Jahre alt und passt
somit auf keine der Zeugenaussagen. Außerdem ist zu bezweifeln,
dass er nach seinem Schlaganfall im Jahre 1887 in der Lage gewesen
wäre, solch präzise Schnitte mit einem Messer auszuführen.
- Amerikanische Zeitungen schrieben nicht nur über William
Gull als Tatverdächtigen, sondern überraschten die Öffentlichkeit
ständig mit neuen Kandidaten.
- Er wurde niemals von der Polizei verdächtigt.
Folgender Zeitungsbericht stammt aus der Sunday Times Herald
in Chicago. Dieser Bericht nennt einenThomas Mason als den Ripper.
Der Ripperologe Stephen Knight änderte den Namen in William Gull und fügte
noch einige weitere, recht unglaubwürdige, Details hinzu und fertig war
seine "final
solution". Man betrachtet diese "Zeitungsente" als den Ursprung der "königlichen
Verschwörung".
Sunday Times Herald, Chicago
28. April 1895
Die Gefangennahme von Jack the Ripper
Die Geschichte, die Dr. Howard, ein bekannter Londoner Arzt, William
Greer Harrison vom Bohemian Club in San Francisco über das
Schicksal von Jack the Ripper erzählte, damit es die Welt
endlich erfährt, öffnete die Lippen eines Bürgers
dieser Stadt; er ist somit in der Lage, der „Times-Herald" einen
vollständigen, gründlichen Bericht über die ausgedehnten
Nachforschungen der Londoner Kriminalbeamten zu geben, die nach
Jahren beharrlicher Arbeit zum Ziel führten, nämlich
die Identität des berühmten Whitechapel-Mörders
zweifelsfrei festzustellen.
Der erwähnte Dr. Howard war einer jener zwölf Londoner Ärzte,
die in einem medizinischen Untersuchungsausschuss oder als Fachkommission
für Geisteskrankheiten tagten und über ihren Berufskollegen
berieten, denn endlich war der sichere Beweis erbracht worden,
dass der gefürchtete „Jack the Ripper" niemand geringerer
war als ein angesehener Arzt, ja ein Mann, der sich der Achtung
der besten Gesellschaft im West End von London erfreute. Als schließlich über
alle Zweifel hinaus bewiesen war, dass der fragliche Arzt der Mörder
war und seine Unzurechnungsfähigkeit von einer Commission
de Lunatico Inquirendo bestätigt wurde, mussten sich alle
Beteiligten, die davon Kenntnis hatten, zum Stillschweigen verpflichten.
Bis zu den Enthüllungen Dr. Howards wurde dieser Eid streng
eingehalten. Ein Londoner Klubmitglied, das jetzt in Chicago wohnt,
kennt Dr. Howard; er glaubt, dass dieser im Ausland und vielleicht
unter dem Einfluss von Wein eher dazu bereit war, plötzlich
sein Schweigen zu brechen. In diesem Zusammenhang sagte er gestern
zu einem Reporter der „Times-Herald": „Es fällt
mir auf, dass Dr. Howard den Namen des Arztes, der die Morde beging,
nicht nannte. Darüber muss er froh sein, denn das hätte
den vollkommenen Ruin seiner Londoner Praxis zur Folge gehabt.
Wie die Sache liegt, wird er zweifellos von der Königlichen
Gesellschaft der Ärzte und Chirurgen einen internen Verweis
erhalten, da ein unter solchen Umständen abgelegter Eid als
unbedingt heilig und bindend erachtet wird." Dr. Howards Geschichte
ist im Großen und Ganzen richtig, soweit er sie erzählte.
Als „Jack the Ripper" schließlich gefasst wurde, entdeckte
man, dass er ein angesehener Arzt mit einer ausgedehnten Praxis
war. Seit seiner Studienzeit am Guy's Hospital war er begeisterter
Anhänger der Vivisektion gewesen. Infolge eines ungewöhnlichen
angeborenen Widerspruchs stimmte ihn der Anblick von Schmerz nicht
weich, wie es bei den meisten Verfechtern wissenschaftlicher Experimente
der Fall ist, sondern übte die entgegengesetzte Wirkung aus.
Das nahm solche Ausmaße an, dass er die lebhafteste Freude
dabei empfand, wenn er wehrlosen Tieren Qualen zufügte. Einer
seiner Lieblingszeitvertreibe bestand darin, einem Kaninchen die
Augenlider zu entfernen und es dann stundenlang in fixierter Stellung
dem blendenden Sonnenlicht auszusetzen. Er nahm daneben Platz und
vergaß über den intensiven Gefühlen, die ihn bei
der Beobachtung der qualvollen Verrenkungen seiner Opfer erfüllten,
die Zeit und alles um ihn herum.
Die Leidenschaft, Schmerz zuzufügen, wuchs in dem Mann, der
später als Jünger der Grausamkeit mit Nero und Dschingis-Khan
auf gleicher Stufe stehen sollte. Als er schließlich zum
Mann herangewachsen war und seine sanftere Seite ihn dazu veranlasste,
eine Frau zu suchen, konnte er sich kaum lange genug von seinen
barbarischen Freuden zurückhalten, um eine Frau zu umwerben
und zu gewinnen.
Er war erst einen Monat verheiratet, als seine Frau entdeckte,
dass er von der Manie besessen war, Schmerz zuzufügen. Vor
der Untersuchungskommission machte sie folgende außergewöhnliche
Aussage:
„Eines Abends saßen wir im Wohnzimmer. Es war ziemlich spät.
Ich stand auf, um zu Bett zu gehen. Als ich im Obergeschoß anlangte, erinnerte
ich mich, dass ich meine Uhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer liegengelassen hatte
und ging hinunter. Als ich mich dem Wohnzimmer näherte, hörte ich das
erbarmungswürdige Miauen einer Katze. Ich schaute zur Türe hinein,
die zufällig offen stand, und sah mit Entsetzen, wie mein Mann eine Katze über
die Flamme der Öllampe hielt. Ich hatte zuviel Angst, um etwas anderes zu
tun, als mich ins Obergeschoß zurückzuziehen. Als mein Mann gegen
Tagesanbruch zu Bett ging, hatte ich das Gefühl, das Bett mit einem Ungeheuer
zu teilen. Später entdeckte ich, dass er nahezu die ganze Nacht damit verbracht
hatte, die Katze zu verbrennen.
„Am nächsten Tag war er zärtlich und liebevoll wie immer. Später
entdeckte ich, dass er das Opfer der unüberwindlichen Manie war, Schmerzen
zuzufügen. Ich beobachtete ihn genau und konnte recht gut vorhersagen, wann
ihn diese Stimmungen überfielen. Bei solchen Gelegenheiten warnte mich eine
scheinbar banale Handlung. Er fing zum Beispiel eine Fliege, spießte sie
auf eine Nadel und wirbelte sie herum. Er war auf eigenartige Weise widersprüchlich.
Als unser vierjähriger Sohn ihn einmal in dieser Beziehung nachahmte, war
der Vater schockiert und so verärgert, dass er dem Knaben eine Tracht Prügel
verpasste. Als der Knabe infolge der schmerzhaften Bestrafung brüllte, brach
die grausame Seite der Natur meines Mannes durch. Wäre ich nicht eingeschritten,
hätte er das Kind wahrscheinlich zu Tode geprügelt. In normaler Verfassung
war er ein wunderbarer Ehemann und Vater und der sanfteste und fügsamste
aller Männer. Ich habe oft gehört, wie er sein aufrichtiges Mitgefühl
für Menschen ausdrückte, denen ein Unglück zugestoßen war"
Die Umstände, die zur Entdeckung dieses unmenschlichen Monsters mit der
Doppelnatur führten, sind außergewöhnlich und in der Geschichte
des Verbrechens einmalig. Da Dr. Howard enthüllt hat, dass Jack the Ripper
verhaftet und eingesperrt wurde, ist es nur richtig, den Mann zu würdigen,
der die Londoner Polizei auf seine Spur brachte. Er selbst hat sein Versprechen
geflissentlich gehalten - aus religiösen Bedenken hatte er sich geweigert,
einen Eid abzulegen - und die Identität des Rippers nicht preisgegeben.
Jahrelang konnten sich die Unglücklichen aus dem East End buchstäblich
nur unter Lebensgefahr in die Nacht hinauswagen; dass sie heute vor den Attacken
des Monsters sicher sind, verdanken sie Robert James Lees. Mr. Lees ist derzeit
der Inhaber der neuartigen Anstalt zur Weiterbildung von Arbeitern in Peckham,
einem Vorort von London. Mehr als 1.800 Arbeiter besuchen seine Kurse und er
hat viel Geld in sein Unternehmen investiert, das jetzt bereits Profit abwirft.
Mr. Lees gilt heute als einer der fortschrittlichsten Arbeiterführer in
England und zählt zu den engen Freunden Kier Hardys, dem Führer der
unabhängigen Arbeiterpartei. Er wohnt derzeit in The Gardens 26, Peckham
Rye, London S.E.
In seiner Jugend entfaltete Mr. Lees außergewöhnliche
hellseherische Kräfte, die es ihm ermöglichten, mit den
Augen eines Sehers Dinge wahrzunehmen, die gewöhnlichen Menschen,
die ohne diese Gabe geboren wurden, verborgen bleiben. Mit 19 Jahren
wurde er nach Birmingham zur Königin gerufen, wo er seine
hellseherischen Kräfte unter Beweis stellte und damit das
größte Erstaunen Ihrer Majestät hervorrief. Da
er über beträchtliche Mittel verfügte, widmete er
sich der Literatur, beschäftigte sich eingehend mit Theologie
und studierte schließlich Spiritismus und Theosophie. Er
gilt heute als der anerkannte Führer der Christlichen Spiritisten
in Großbritannien.
Zur Zeit der ersten drei Ripper-Morde befand sich Mr. Lees auf
der Höhe seiner hellseherischen Kräfte. Eines Tages schrieb
er in seinem Arbeitszimmer, als ihn die Überzeugung überkam,
dass der Ripper im Begriff war, einen weiteren Mord zu begehen.
Vergeblich versuchte Lees, das Gefühl loszuwerden. Er saß an
seinem Arbeitstisch, und die Szene rollte vor ihm ab. Er sah zwei
Personen, einen Mann und eine Frau, die eine ärmliche Straße
entlanggingen. Mit seinen geistigen Augen folgte er ihnen und sah,
wie sie einen engen Hof betraten. Er las den Namen des Hofes. In
der Nähe befand sich ein hell erleuchtetes Ginlokal. Durch
die Fenster sah er die Uhr auf 12:40 stehen; um diese Zeit schließen
in London die Pubs. Er bemerkte, dass der Mann und die Frau in
einer dunklen Ecke des Hofes verschwanden. Die Frau war halb betrunken,
der Mann vollkommen nüchtern. Er trug einen dunklen Anzug
aus schottischem Tweed und über den Arm einen hellen Mantel;
seine hellblauen Augen glänzten im Schein der Lampe, die den
schmutzigen Schlupfwinkel des Paares schwach erleuchtete.
Die Frau lehnte sich an die Mauer und der Mann legte ihr eine Hand auf den
Mund. Sie wehrte sich schwach, als wäre sie zu sehr vom Alkohol beeinflusst,
um wirksamen Widerstand zu leisten. Der Mann zog ein Messer aus der inneren
Westentasche und durchtrennte die Kehle der Frau. Das Blut strömte aus
der Wunde und spritzte auch auf seine Hemdbrust. Er presste die Hand so lange
auf den Mund der Frau, bis diese zu Boden fiel. Dann entblößte der
Schlächter die unteren Gliedmaßen seines Opfers und fügte ihr
mit seinem langen Messer auf systematische Art mehrere Schnitte zu. Dabei legte
er bestimmte Organe neben den Körper seines Opfers. Dann wischte er das
Messer vorsorglich an den Kleidern der Frau ab, steckte es in seine Scheide
und zog den hellen Mantel an. Er knöpfte ihn sorgfältig zu, um die
Blutflecke auf dem Hemd zu verstecken. Danach verließ er ruhig den Mordschauplatz.
Diese außergewöhnliche hellseherische Vision spielte sich vor Mr.
Lees 'geistigen Augen ab. Er war von der Szene, die er auf so unerklärliche
Weise beobachtet hatte, so beeindruckt, dass er sofort zu Scotland Yard ging
und den Kriminalbeamten die ganze Angelegenheit im Detail schilderte.
Da seit Monaten die unterschiedlichsten Verrückten, Scotland
Yard ihre Theorien über Jack the Ripper präsentierten,
betrachteten die Beamten auch Lees als Narren und schenkten ihm
wenig Aufmerksamkeit. Der diensthabende Sergeant ertrug den Mann
geduldig. Er hielt ihn für einen harmlosen Irren und schrieb
den Namen des Platzes auf, wo laut Mr. Lees das Verbrechen begangen
werden sollte; er notierte auch, dass die Uhr des fiktiven Pubs
in dem Moment, als der Ripper mit seinem Opfer den Hof betrat,
12:40 Uhr anzeigte.
In der nächsten Nacht betrat um 0:30 Uhr eine Frau das Pub,
das auf den erwähnten Hof hinausging. Sie war schon betrunken,
und der Barkeeper weigerte sich, sie zu bedienen. Fluchend und
ordinär schimpfend verließ sie das Lokal. Ein weiterer
Zeuge sah, wie sie gegen 0:40 Uhr den Hof in Gesellschaft eines
Mannes in einem dunklen Anzug betrat, der über dem Arm einen
hellen Mantel trug. Der Zeuge hielt ihn für einen Amerikaner,
da er einen weichen Filzhut auf dem Kopf hatte; er fügte noch
hinzu, dass er „wie ein Gentleman aussah".
Diese Aussage wurde vor dem Coroner gemacht, der die gerichtliche
Untersuchung der Leiche der Frau vornahm; man hatte sie an genau
dem Ort gefunden, den Mr. Lees beschrieben hatte, „ihre Kehle
war von einem Ohr zum anderen durchschnitten und sie war auf unschickliche
Weise entsetzlich verstümmelt" - um den Bericht des Coroners
zu zitieren.
Mr. Lees war äußerst erschüttert, als er am folgenden
Tag von dem Mord erfuhr. In Begleitung seines vertrauenswürdigen
Dieners suchte er den Schauplatz der Gräueltat auf. Um seine
eigenen Worte zu verwenden - „Ich hatte fast das Gefühl,
Beihilfe geleistet zu haben. Es beeindruckte mich so tief, dass
mein gesamtes Nervensystem ernsthaft erschüttert war. Ich
konnte nachts nicht mehr schlafen, und auf Anraten eines Arztes
reiste ich mit meiner Familie auf den Kontinent."
Während seines Aufenthalts in Europa wurde Mr. Lees nicht
mehr durch seine seltsamen Halluzinationen beunruhigt, obwohl der
Ripper während Lees' Abwesenheit der Liste seiner Verbrechen
vier weitere grauenhafte Morde hinzufügte. Dann musste Mr.
Lees wieder nach London zurückkehren.
Als er eines Tages mit seiner Frau im Omnibus von Shepherd's Bush
unterwegs war, hatte er wieder die seltsamen Empfindungen, die
ihn schon beim letzten Mal vor seinem hellseherischen Zustand überkommen
hatten. Der Bus fuhr den Notting Hill hinauf. Oben blieb er stehen,
und ein Mann stieg zu. Sofort empfand Mr. Lees ein eigentümliches
Gefühl. Er blickte auf und sah, dass der neue Fahrgast ein
Mann von mittlerer Größe war. Er trug einen dunklen
Anzug aus schottischem Tweed, darüber einen hellen Mantel
und auf dem Kopf einen weichen Filzhut. Seit der hellseherischen
Vision von Mr. Lees war mehr als ein Jahr vergangen, aber das Bild
des Mörders hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt.
Er beugte sich zu seiner Frau und bemerkte ernst: „Das ist
Jack the Ripper." Seine Frau lachte darüber und meinte, er
solle nicht so dumm sein. „Ich irre mich nicht", antwortete
Mr. Lees, „ich spüre es."
Der Omnibus fuhr durch die Edgware Road und bog bei Marble Arch
in die Oxford Street ein. Hier stieg der Mann mit dem hellen Mantel
aus. Mr. Lees beschloss, ihm zu folgen. Er gebot seiner Frau, die
Fahrt nach Hause fortzusetzen, er aber folgte dem Mann durch die
Park Lane. Auf halbem Weg traf er einen Wachtmeister, dem er den
Mann mit dem hellen Mantel zeigte und dem er mitteilte, dass das
der gefürchtete „Ripper" war; er forderte den Wachtmeister
auf, den Mann zu verhaften. Der Wachtmeister lachte ihn aus und
drohte, „ihn einzulochen".
Der „Ripper" dürfte geahnt haben, dass er sich in Gefahr
befand, denn bei Apsley House sprang er in eine Kutsche, die ihn
rasch hinunter zum Piccadilly fuhr. Einen Augenblick später
stieß Mr. Lees auf einen Polizeisergeanten, dem er seinen
Verdacht anvertraute.
„Zeigen Sie mir den Wachtmeister, der sich geweigert hat, ihn zu verhaften!" rief
der Sergeant. „Erst heute morgen erfuhren wir auf dem Bow Street Revier,
dass der 'Ripper' in diese Richtung unterwegs ist."
An jenem Abend hatte Mr. Lees wieder eine Vorahnung, dass der „Ripper" knapp
vor einem weiteren Mord stand. Der Schauplatz seiner Untat war
diesmal nicht so deutlich auszumachen wie beim letzten Mal, doch
das Gesicht der ermordeten Frau war klar erkennbar. Mr. Lees prägte
sich das Aussehen des Opfers des „Rippers" genau ein. Die
Verstümmelungen ähnelten jenen des ersten Opfers; eine
Besonderheit bestand darin, dass ein Ohr völlig vom Gesicht
abgetrennt war und das andere nur noch an einem Fetzen Fleisch
hing.
Sobald Mr. Lees sich von seiner Trance und dem darauf folgenden
Schock über die traumartig erlebte Tragödie erholt hatte,
eilte er zu Scotland Yard; hier bestand er auf einem sofortigen
Gespräch mit dem leitenden Polizeiinspektor. Dieser hörte
sich mit ungläubigem Lächeln den ersten Teil der Geschichte
seines Besuchers an, doch das Lächeln verschwand, sobald der
Erzähler bei dem Punkt anlangte, wo es um das abgetrennte
Ohr ging. Nach Mr. Lees' Erzählung spiegelte sich deutlich
Betroffenheit auf dem Gesicht des Beamten, und mit zitternder Hand
nahm er eine Postkarte von seinem Schreibtisch und legte sie dem
Besucher vor.
Es war eine gewöhnliche, mit roter Tinte geschriebene Postkarte.
Zusätzlich wies sie zwei blutige Fingerabdrücke auf,
die der Schreiber als eine Art blutiger Unterschrift auf die glatte
Oberfläche gedrückt hatte. Auf der Karte stand:
Morgen Nacht werde ich wieder Rache üben und aus einer Klasse von Frauen,
die mir überaus verhasst ist, mein neuntes Opfer holen.
JACK THE RIPPER
P.S. Zum Beweis, dass ich wirklich Jack the Ripper bin, werde ich dem neunten
Opfer die Ohren abschneiden.
Kaum sah sich Mr. Lees dieser furchtbaren Bestätigung seiner zweiten Vision
gegenüber, fiel er ihn Ohnmacht und blieb für alles, was um ihn herum
vorging, vollkommen unempfänglich.
Man muss sich vor Augen halten, dass die ganze britische Hauptstadt, die sich
damals bis zu dreißig Kilometer von Charing Cross ausdehnte und fast
7 Millionen Menschen beherbergte, durch die schreckliche Serie von Mordfällen
eingeschüchtert war.
Es gab keine Parallelen zur barbarischen Vorgangsweise, deren
Häufigkeit und die scheinbar vollkommene Immunität des
unmenschlichen Täters die gesamte Christenheit entsetzte.
Der Inspektor war ein religiöser Mann und betrachtete den
außergewöhnlichen Zufall, dass er die Postkarte - deren
Inhalt nur er kannte - und gleichzeitig Mr. Lees' Besuch erhalten
hatte, als eine Warnung des Himmels und als göttliches Zeichen,
nichts unversucht zu lassen, um das Monster der Gerechtigkeit zu übergeben.
Den ganzen Tag konzentrierte er seine Energien auf das Problem,
wie er das verzweigte Gebiet, das als „Bezirk Whitechapel" bekannt
war, am besten schützen konnte. Fast 10.000 Polizisten standen
unter seinem Befehl. Als der Abend des nächsten Tages dämmerte,
durchstreiften 3.000 von ihnen in Zivilkleidung sowie 1.500 als
Dockarbeiter und Handwerker verkleidete Kriminalbeamte die Gassen
und Höfe von Whitechapel.
Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen durchbrach „Jack the
Ripper" den Kordon, tötete sein Opfer und entkam. Der Inspektor
wurde totenblass, als er erfuhr, dass man das Opfer gefunden hatte:
Ein Ohr war vollkommen abgetrennt, und das andere hing nur noch
an einem Fetzchen Fleisch. Es dauerte geraume Zeit, bis er seine übliche
Selbstbeherrschung wiedererlangte.
Diese neuerliche Tragödie beeinflusste Mr. Lees so
sehr, dass er wieder auf den Kontinent reiste. Während seiner
Abwesenheit, beging der „Ripper" seinen sechzehnten Mord
und teilte Scotland Yard kühl mit, dass er beabsichtige, zwanzig
zu töten und dann aufzuhören. Kurz darauf kehrte Mr.
Lees nach England zurück. Hier machte er die Bekanntschaft
von Roland B. Shaw aus New York - ein Effektenmakler aus der Bergwerksbranche
-und Fred C. Beckwith aus Broadhead, Wis., -Finanzpromotor eines
amerikanischen Syndikats in London.
Eines Tages speisten die drei Herren zusammen im „ Criterion ",
als Mr. Lees plötzlich an seine zwei Begleiter gewandt rief: „ Guter
Gott! Jack t he Ripper hat wieder einen Mord begangen." Mr. Shaw
blickte auf die Uhr: Es war elf Minuten vor 20:00 Uhr. Um zehn
Minuten nach 20:00 Uhr entdeckte ein Polizist die Leiche einer
Frau in Crown Court, im Bezirk Whitechapel: Ihre Kehle war von
einem Ohr zum anderen durchschnitten und die Wunden an ihrem Körper
deuteten darauf hin, dass der Ripper am Werk gewesen war.
Mr. Lees und seine Gefährten begaben sich sofort zu Scotland
Yard. Der Inspektor hatte die Nachricht über den Mord noch
nicht erhalten, doch während Mr. Lees seine Geschichte erzählte,
traf ein Telegramm mit den Details der Untat ein.
Der Inspektor fuhr sofort mit zwei Kriminalbeamten zum Crown Court; Mr. Lees
und die beiden Amerikaner begleiteten ihn. Als sie den Hof betraten, rief Mr.
Lees:
„Schauen Sie in die Ecke der Mauer. Dort steht etwas." Der Inspektor lief
hin; er hatte keine Laterne bei sich und zündete ein Streichholz an. Im
Schein der winzigen Flamme wurden die Worte „Siebzehn, Jack the Ripper" deutlich
sichtbar, sie waren mit Kreide auf die Wand geschrieben.
Der Inspektor war mittlerweile dem Wahnsinn nahe. Man muss bedenken,
dass dieser Verrückte seit Jahren die größte Polizeiorganisation
der Welt samt den ihr zu Gebote stehenden Hilfsmitteln zum Narren
hielt; als die Polizei schließlich kapitulierte, riefen die
britischen Behörden die erfahrensten Kriminalisten aus Frankreich,
Deutschland, Holland, Italien, Spanien und Amerika zu Hilfe. Ungeheure
Summen wurden aufgewandt, um den Unhold aufzuspüren, eine
Belohnung von 30.000 Pfund und eine Lebensrente von jährlichen
1.500 Pfund waren für denjenigen ausgesetzt, der den schrecklichen „Ripper" der
Gerechtigkeit auslieferte. Wie schon erwähnt, sah der Inspektor
in Mr. Lees ein Werkzeug der Vorsehung - und in diesem Augenblick
beschloss er, sich diese wunderbare, wenn auch vollkommen unverständliche
Kraft zunutze zu machen.
Auf die ernste Bitte des Inspektors hin erklärte sich Mr.
Lees bereit zu versuchen, den „Ripper" aufzuspüren -ähnlich
wie ein Bluthund einen Verbrecher verfolgt. Eine Art magnetischer
Wellen verband offensichtlich seinen äußerst feinen
Sinn mit dem Flüchtigen. Die ganze Nacht unterwarf sich Mr.
Lees diesem seltsamen magnetischen Einfluss und durchwanderte eilig
die Straßen Londons. Der Inspektor und seine Leute folgten
wenige Meter hinter ihm. Um vier Uhr morgens blieb der menschliche
Bluthund mit blassem Gesicht und blutunterlaufenen Augen vor dem
Tor einer Villa im West End stehen. Seine Lippen waren geschwollen
und aufgesprungen, er keuchte und deutete auf ein Fenster im Obergeschoß,
aus dem ein schwacher Lichtschein fiel.
„Dort ist der Mörder - der Mann, den Sie suchen." „Das ist unmöglich",
antwortete der Inspektor. „Hier wohnt einer der berühmtesten Ärzte
des West End."
Jetzt kommt der ungewöhnlichste Teil dieser nahezu unglaublichen
Geschichte. Der Inspektor war so sehr von den hellseherischen Fähigkeiten
Mr. Lees' beeindruckt, dass er entschlossen war, sie auf die entscheidende
Probe zu stellen.
„ Wenn Sie mir die Diele beschreiben ", sagte er, „so werde ich ihn
verhaften; ich setze damit meine Stellung aufs Spiel, die ich mir durch zwanzig
Jahre treuer Arbeit erworben habe."
„Wenn man die Diele betritt, steht rechts ein hoher Stuhl aus schwarzem
Eichenholz, am anderen Ende befindet sich ein buntes Glasfenster und eine große
Bulldogge schläft im Augenblick am Fuß der Treppe", antwortete Mr.
Lees ohne zu zögern.
Sie warteten bis 7:00 Uhr; um diese Zeit beginnt die Dienerschaft
in einem vornehmen Londoner Haus sich zu regen. Dann betraten sie
das Haus und erfuhren, dass der Doktor noch im Bett war. Sie baten,
seine Frau sprechen zu dürfen. Der Diener ließ sie in
der Diele stehen, und Mr. Lees machte den Inspektor darauf aufmerksam,
dass keine Bulldogge zu sehen war, obwohl die Beschreibung der
Diele in allen anderen Belangen genau stimmte. Auf die Frage, wo
denn der Hund sei, antwortete das Dienstmädchen, dass der
Hund meist am Fuß der Treppe schlief, jeden Morgen aber in
den Garten hinausgelassen wurde. Als der Inspektor das hörte,
rief er:
„Großer Gott!" und fügte leise zu seinen Begleitern hinzu: „Das
ist die Hand Gottes."
Im Verlauf einer halbstündigen eingehenden Befragung gestand die schöne
Frau des Arztes, dass ihr Mann ihrer Ansicht nach nicht ganz bei Verstand war.
Es gab Augenblicke, in denen er sie und die Kinder bedrohte. Wenn das geschah,
hatte sie sich angewöhnt, sich einzusperren. Voll herzzerbrechender Angst
war ihr aufgefallen, dass ihr Mann nie zuhause war, wenn ein Mord in Whitechapel
geschah.
Eine Stunde später hatte der Inspektor alles Notwendige zur
Vernehmung des Arztes veranlasst. Er hatte zwei der größten
Experten der Stadt auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten zu seiner
Unterstützung angefordert. Als der Arzt beschuldigt wurde,
gab er zu, dass sein Geist schon seit einigen Jahren gestört
war und dass es seit kurzem Zeitspannen gab, an die er sich nicht
erinnern konnte; er wusste nicht, was er während dieser Zeit
getan hatte. Als man ihm mitteilte, dass er beschuldigt wurde,
während der Erinnerungslücken die Morde in Whitechapel
begangen zu haben, drückte er Reue und Abscheu vor solchen
Taten aus. Er sprach von dem Mörder, als wäre es eine
mit ihm nicht idente Person, und erklärte sich bereit, ihn
der Gerechtigkeit auszuliefern. Er berichtete den Ärzten,
dass er ein- oder zweimal in seinen Räumen zu sich gekommen
war, als wäre er plötzlich aus einer langer Betäubung
erwacht, und einmal hatte er Blut auf seinem Hemd gefunden, dass
er einem Nasenbluten zuschrieb. Ein anderes Mal war sein Gesicht
ganz zerkratzt gewesen.
Als der Inspektor das vernahm, veranlasste er eine genaue Durchsuchung
des Hauses, bei der man ausreichende Beweise dafür fand, dass
der Arzt der Mörder war. Unter anderem förderten die
Kriminalbeamten den berühmten Anzug aus schottischem Tweed,
den weichen Filzhut sowie den hellen Mantel zutage. AIs er von
seiner Schuld überzeugt war, bat der unglückliche Arzt,
ihn sofort zu töten, er könne mit einem solchen Monster
nicht unter einem Dach leben.
Wie am Beginn dieses Artikels bereits festgestellt, ergab eine
eingehende Untersuchung in Gegenwart einer Kommission für
Geisteskrankheiten, dass der Arzt einerseits ein höchst ehrenwerter
Mann war, andererseits jedoch ein fürchterliches Monster.
Er kam sofort in eine private Anstalt für Geisteskranke in
Islington und ist dort der derzeit schwierigste und gefährlichste
Verrückte. Um das Verschwinden des Arztes aus der Gesellschaft
zu erklären, wurden sein Tod und eine Beerdigung vorgetäuscht.
Der leere Sarg in der Familiengruft in Kensal Greens enthält
angeblich die sterblichen Überreste eines großen Arztes
aus dem West End, dessen frühen Tod ganz London betrauerte.
Keiner der Wärter weiß, dass der verzweifelte Irre, der sich in
seiner Gummizelle von einer Seite auf die andere wirft und dessen durchdringende
Schreie die langen Nachtwachen zur Hölle machen, der berüchtigte „Jack
the Ripper" ist.
Für sie und für die Inspektoren ist er einfach Thomas
Mason, alias No. 124.
Thomas Schachner
(Dokument zuletzt bearbeitet am 16.12.04)