Standpunkte der "Mord am Vormittag" -Theorie ( ab ca. 8:30 a.m.)Ich hatte ja angekündigt, hier die Theorie für einen späteren Todeszeitpunkt darzustellen. Sorry wenn ich jetzt die Kaminfeuer- Diskussion abwürge, aber das was jetzt kommt ist auch ganz interessant.
Bevor ich damit anfange, muss ich noch einen Irrtum meinerseits eingestehen. Die Theorie stammt nicht wie von mir behauptet von Philip Sugden. Alles was ich gefunden habe sind einige kurze Ausführungen bei Macpherson. Völlig egal, was man von dem halten mag, erwirft doch einige Fragen auf, über die es sich durchaus lohnt nachzudenken.
Medizinische SichtDr. Bond: Über die Todeszeitpunktbestimmung durch Dr. Bond wurde hier schon genug geschrieben. (Insoweit sei darauf verwiesen) Danach kommt der spätere Todeszeitpunkt nicht in Betracht.
Aber Dr. Bond war nicht der einzige, der die Leiche untersucht hat.
Am Tatort wurde die Leiche von MJK von
Dr. Phillips untersucht.
Dummerweise gibt es dazu keine offiziellen Dokumente. Alles was zu dieser Untersuchung heute noch bekannt ist, stammt aus der Times vom 12. Nov. 1888.
Dr. Philips nahm auf Grund mehrer Faktoren (u.a. Verletzungen, Fensterschaden, ...) eine schnelle Auskühlung des Körpers von MJK an und plädierte für eine Todeszeit 5-6 Std. vor seiner Untersuchung.
Die Frage ist nun, wann diese stattfand. Da die Türe zu MJKs Wohnung erst gegen 1 p.m. aufgebrochen wurde, kann sie erst danach gewesen sein (Zeitraum 1 - 1.30 p.m.)
Mit einer sehr optimistischen Rückrechnung könnte damit als Todeszeitpunkt 8.30 a.m. in Betracht kommen.
Fazit: Zwei unterschiedlich Meinungen. Man kann jetzt entweder sagen, dass Bonds Ergebnis besser ist, weil er genauere Untersuchungen durchführen konnte als Phillips. (Darüber wieviel genauer seine Untersuchungen wirklich waren und ob sein Ergebnis
unbedingt zutreffender sein muss, kann man sicher streiten)
Man könnte aber auch Phillips die größere Kompetenz zuschreiben und sein Ergebnis für richtiger halten.
Dafür besteht m.E. eigentlich kein Anlass, aber man könnte es zumindest so sehen, dass in der medizinische Beurteilung des Todeszeitpunktes ein Dissenz besteht.
Auf die medizinische Sicht käme es aber auch nicht an, wenn ein Todeszeitpunkt zw. 8.00 und 9.00 am aus anderen Gründen nicht in Betracht kommt.
Zeigenaussagen
Betrachten wir daher an dieser Stelle einmal die Zeugenaussagen (hier sehr vereinfacht dargestellt) unter dem Blickwinkel, ob sie eine spätere Ermordung Kellys ausschließen.
1. Mrs. Lewis: Schrei von junger Frau ("Murder") um ca. 3.30.
Von wem der Schrei war unklar.
2. Hutchinson: Von 2.15 - 3.00 vor Ort.
3. Elisabeth Prater: Schrei ("Oh Murder!"), weibl. Stimme, aus näherer Umgebung.
Mit dieser Ausage gibt es folgendes Problem: Prater wohnt im Raum 20 in der Dorset Street 26. Das ist die Wohnung direkt über MJKs Zimmer!
Hätte sie wenn der Schrei aus dem Zimmer direkt unter ihr kam nicht genau dies bemerkt und ausgesagt?
Das Prater nicht aussagte der Schrei sei aus der Wohnung unter ihr gekommen spricht doch eigentlich eher dafür, dass er nicht
von dort kam und demzufolge nicht von Kelly stammte!
4. Caroline Maxwell: Will Kelly um 8.30 am. und später nochmals um ca. 9.00 gesehen haben.
Diese Aussage passt offensichtlich mit nichts von dem, was bis hierhin gesagt wurde so richtig zusammen.
Überwiegend wird aus diesem Grund der Zeugin die Glaubwürdigkeit abgesprochen oder sie wird schlicht und einfach unter den Teppich gekehrt. Das überzeugt den kritischen Betrachter freilich nicht.
Macht man sich Gedanken, warum Maxwells Aussage nicht zutreffend sein soll, kommen drei Gründe in Betracht (frei nach Sugden und Skinner): "drunk / lying / mistaken"
1. Betrunken? Für eine solche Annahme liegen keine Anhaltspunkte vor.
2. Lüge? " insbesondere ist kein Motiv für eine wissentliche Falschaussage ersichtlich.
3. Datumsverwechselung bezüglich des Gesprächs? Möglich, aber wie wahrscheinlich ist das wirklich?
Die Berfagung Maxwells erfolgte 3 Tage nach dem Mord, die Erinnerung war also noch relativ frisch.
Wenn sie mit Kelly um 8.30 am gesprochen hat und bis zum Abdend des selben Tages von deren Tod erfahren hat
(davon ist wegen des ganzen Troubles im Miller's Court auszugehen - das spricht sich schnell rum) verknüpfen sich die
beiden Tatsachen in ihrem Gehirn miteinander und diese Verbindung brennt sich doch geradezu ins Gedächtnis.
Wenn zwischen dem Gespräch mit Kelly und dem Bekanntwerden des Mordes bei Maxwells eine lägere Zeitspanne (einige Tage) läge,
könnte man möglicherweise eine Datumsverwechselung erwägen.
Aber in diesem Fall erscheint das doch sehr, sehr unwahrscheinlich.
Fazit: Wenn man obigen Erwägungen zustimmt, besteht eigentlich kein Gründ für die Annahme die Aussage Maxwells wäre falsch.
Widerspricht das nicht den anderen Zeugenaussagen?
Meiner Meinung nach nicht. Aus keiner der anderen Aussagen kann man auf den Todeszeitpunkt Rückschlüsse ziehen.
Was besagen die denn? Es gab einen Schrei irgendwo im Miller's Court - nicht mehr und nicht weniger. Ob der Schrei von
Kelly kam oder nicht wird dadurch nicht geklärt. Praters Aussage spricht m.E. sogar eherdagegen.
Auch durch die Zeugenaussagen lässt sich der Todeszeitpunkt nicht eindeutig klären.
GesamtbewertungNimmt man alle Umstände zusammen ( insbesondere die Verbindung der Zeugenaussagen mit dem medizinischen Befund Dr. Bonds )
scheint die Annahme eines Todeszeitpunkts zwischen 3. 30 und 4 .00 a.m. wohl nach wie vor durchaus plausibel.
Zerlegt man die diese Theorie jedoch in ihre einzelnen Bestandteile, wirken einige sie begründenden Aspekte
durchaus nicht so unproblematisch wie man auf den ersten Blick meinen könnte.
Insbesondere die Aussage Maxwells ist äußerst problematisch.
Allerdings muss man wohl davon ausgehen, dass die medizinische Beurteilung durch Bond den Ausschlag für den früheren Todeszeitpunkt geben muss. (An seiner Kompetenz bestehen keine Zweifel, und das er Fehler gemacht hat ist nicht ersichtlich)