Hi, Isdrasil,
meine Antwort wurde – auch wegen deines zweiten postings - ein klein bißchen länger als geplant. Hoffe, du hälst beim Lesen durch!
Es geht hier um den psychologischen Effekt auf den Täter. Und du willst doch nicht erzählen, dass man unter diesem Gesichtspunkt Millers Court mit den anderen "Freiluft"-Tatorten vergleichen kann, oder?
Doch, genau das will ich. Der Tatort stellt einen psychologischen Effekt dar und hat somit Einfluß auf die Handlungsweise des Täters. Außerdem laßen sich die Tatorte vergleichen. Ja, sollten sogar verglichen werden. Eben weil du ja „beweisen“ möchtest, daß des Täter´s Stress in Miller´s Court am „größten“ war. Was ist das anderes als ein Vergleich?
Und ich sehe darin nichts Schlimmes. Im Gegenteil: wenn wir davon ausgehen, daß dieser Täter ein Serienkiller war, dann können wir das nur, weil wir die Taten als Serie erkennen.
Es ist daher wichtig, Ähnlichkeiten oder Abweichungen festzustellen. Um das zu tun, muß man aber Vergleiche anstellen, das ist sogar unumgänglich.
Daß unsere Schlußfolgerungen unterschiedlich ausfallen, ist aber nun wirklich kein Grund, um sich zu „kloppen“.
Betrachte Millers Court doch mal einzeln.
Eine gute Idee! Auch wenn sie mich kurzfristig von dem abbringt, was ich schreiben wollte (und somit mein Posting länger macht), so betrachte ich Miller´s Court jetzt mal einzeln.
Stellen wir uns mal vor, es hätte keine Serie gegeben und nur Kelly wäre ermordet worden. Was, glaubst du wohl, würden wir heute als Grund für diese starken Gesichtsverletzungen annehmen?
Keine Serie, keine Steigerung, keine verschiedenen Tatorte, daher kein unterschiedlicher großer Stress.
Wir hätten somit nicht die geringste Vergleichsmöglichkeit und würden die Situation anders einschätzen, ziemlich sicher sogar mit 99% Wahrscheinlichkeit auf eine Beziehungstat tippen und die Verletzungen als Versuch ansehen, Kelly ihrer Persönlichkeit zu berauben, nicht wahr?
Aber diese Serie, und gerade die Tatsache, daß wir die einzelnenTaten miteinander vergleichen, lassen uns auch auf andere Gedanken kommen. Dennoch ist die Idee der Beziehungstat mit dem Bedürfnis des Täters, Kelly total zu zerstören, nicht von der Hand zu weisen.
Aso, zurück zum Anfang: gehen wir von der Serie aus.
Falls ich dich richtig verstehe, stellst du folgende zwei Hypothesen auf:
1) der Stresspegel des Täters hängt von der Tatortsituation ab
2) Kelly´s Gesichtsverletzungen sind das Resultat eines sehr hohen Stresspegels aufgurnd der Innenraumsituation
Korrigiere mich bitte, wenn ich dich falsch interpretiere.
In Punkt 1) stimme ich dir völlig zu.
In Punkt 2) leider nicht. Argumentation folgt hiermit:
Wenn hoher Stress hohe Aggression bei diesem Täter bedingt haben soll, dann müßte das doch für die gesamte Serie gelten, oder?
Damit bin ich wieder bei den Tatorten, die ich vergleichen möchte. Per se ist ein Innenraum-Tatort nicht stressverdächtiger als ein „Freiluft“-Tatort. Der Tatort-Stress ergibt sich vielmehr daraus, ob der Täter
a) schnell / zu früh entdeckt / gestört werden kann
b) wie gut / schlecht seine Fluchtmöglichkeiten sind
Sehen wir uns daher die Tatorte an: der einfachshalber lasse ich Stride außen vor, da die Tat hier nicht beendet wurde, und wir somit eventuelle Gesichtsverletzungen nicht vergleichen können.
Buck´s Row bot ihm trotz hoher Entdeckungsgefahr immerhin zwei Fluchtwege, Mitre Square sogar drei. Diese Tatorte sind daher in dieser Hinsicht als nicht besonders stressbetont einzustufen.
Hanbury Yard hingegen bot eine sehr hohe Entdeckungsgefahr (früh am Morgen: es ist schon hell, ein Haus voller Leute, die jederzeit zur Arbeit aufbrechen müssen, vorher noch auf die Toilette (im Hof) eilen wollen, die Hälfte der Hausbewohner hat ein Zimmer zum Hof und kann daher jederzeit um diese Tageszeit einen Blick durchs Fenster werfen, die Tür läßt sich nicht verschließen, keiner der Hausbewohner würde außerdem vorher anklopfen, es besteht ferner die Möglichkeit, daß andere Prostituierte ihre Kunden in den Hof bringen) bei gleichzeitiger erschwerter Fluchtmöglichkeit. So zuverläßig und sicher ist ein Überklettern eines hohen Zaunes auch nicht.
Hanbury Hof also hat mMn mindestens denselben hohen Stresspegel wie Miller´s Court, falls nicht höher.
Bedenke zudem - in einer Wohnung hört man sich nähernde Schritte nicht so klar wie an offenen Tatorten.
Gerade weil ich die Umstände bedenke, komme ich zu dem Schluß, daß Miller´s Court der günstigere Tatort war. Zugegeben, nicht der beste, aber uU besser als Hanbury Yard. Es gab zwar nur einen Fluchtweg, aber dieser ließ sich von innen verschließen und verstellen. Was deine Frage wohl beantwortet: JA! Er hätte gehört, ob jemand an der Tür rüttelt oder klopft oder Schritte kommen. Er hat ziemlich sicher genau darauf geachtet.
Es sei denn, er wäre ein echter Psychotiker, der so sehr in seine Beschäftgiung verteift war, daß er seine Umgebung nicht wahrnimmt und ihm die Gefahr, in der er schwebt, gar nicht bewußt oder total egal ist.
Das ist zwar möglich, aber wenn wir vom Ripper als Täter ausgehen, so war dieser bestimmt nicht dieser Tätertyp. Dazu ging er in all den anderen Fällen vorher zu vorsichtig vor! Wie du schon ausgeführt hast, er entkam ja immer. Ein total in sich versunkener Täter wäre längst erwischt worden. Dem sind der Tatort und seine eigene Sicherheit auch völlig egal.
Er hätte wohl erst gar niemanden gehört. Er stand also auch zusätzlich unter dem unterbewussten Streß, die Tür könne jeden Moment aufgehen.
Nun, hier beschreibst du zwei unterschiedliche Tätertypen:
1) den, den ich oben erwähnte – den Psychotiker, der tatsächlich nicht auf seine Sicherheit und somit Nebengeräusche achtet. Der hört und sieht nichts. Aber so ein Typ hat daher auch kaum Stress – warum auch? Er fürchtet aufgrund seiner Psychose ja nicht um seine Sicherheit. Er entwickelt somit, weder bewußt noch un / ter / bewußt, Stress.
Stress ist ein natürbedingtes, instinktives Phänomen, das bei Menschen zur Alarmierung des ganzen Körpers dient. Es dient dazu, den Menschen instinktiv und in Windeseile aus der Gefahrenzone zu bringen. Sämtliche Kräfte werden unglaublich mobilisiert, die Sinne geschärft.
Ein Mensch, der unter Stress steht, ist ausgesprochen hellhörig / aufmerksam / auf den Sprung / hochgradig nervös.
Tut mir leid Isdrasil, aber deine Kombination „Stress + unaufmerksam in der höchsten Gefahr“ ist ein
physiologisches Unding.
Also, entweder hört er auf die Tür, dann hat er Stress, oder es ihm egal oder seine Sinne haben abgeschaltet, aber dann entwickelt er keinen Stress.
Gerade der Ripper hat aber immer wieder bewiesen, daß er kein in seine Taten vertiefter Psychotiker ist, zwar risikobereit, aber kein Depp. Seine Sicherheit ging stets vor. Es war also ständig unter „Stress“, aufnahmebereit, gefahrenbewußt, durchaus in Kontrolle der Situation und daher gelang ihm auch stets die Flucht. Bedenke mal die Situation im Mitre Square. Reagiert so ein Mensch, der wegen seiner Beschäftigung mit seinem Opfer „nichts mehr hört“?
Sicher nicht.
Die Vermutung liegt sogar nahe, daß er sich gerade deshalb einen Innenraum suchte, um etwas ungestörter länger agieren zu können. Allerdings bedeutet das nicht, daß seine Körperbiologie deswegen ganz plötzlich ausfällt wie ein defektes Relais und der Ripper sich von einem Tatort zum anderen von einem aufmerksamen, der Gefahr sehr wohl bewußtem, Täter zu einem seine Umgebung völlig ignorierenden Psychotiker entpuppen würde.
meinst Du, die Flucht wäre ihm bei Millers Court gelungen?
Nun, sie ist ihm gelungen, nicht wahr?
Wäre sie gelungen, wenn zufällig wer Kelly besucht hätte? Lies einfach weiter: diese Wahrscheinlichkeit dürfte mitten in der Nacht sehr sehr gering sein. Und falls doch? Was tut der? Er / sie klopft an, wartet ab.
Nichts leichter für den Täter als zu sagen: „Moment, dauert noch“. Bekannte und potentielle Kunden wissen, was da vorgeht und würden nicht stören, sie würden warten. Der Täter kann dann ganz bequem das Zimmer verlassen, die Tür hinter sich zuziehen und das Weite suchen. Bis der sehr unwahrscheinliche Gast der späten Stunde dann tatsächlich im Raum ist, ist der Täter weg.
Oh ja, es könnte wer durchs Fenster gucken. Was würde er sehen? Einen Mann, der über Kelly, die im Bett liegt, gebeugt ist. Nun, das war wohl nichts Neues.
Im Gegensatz zu Hanbury Yard: da könnte jeder einen Mann sehen, der über einer Leiche gebeugt ist. Also, mir macht dieser Gedanke mehr Stress, ganz ehrlich. Dir nicht?
Abgesehen davon sah ja niemand zu dieser Zeit ein Feuer oder Licht. Was hätte jemand von außen also anderes als Dunkelheit sehen können?
Was wir außerdem immer in Betracht ziehen müssen, ist die
subjektive Gefühlslage des Täters. Fühlt er sich am Tatort sicher? Könnten wir das an seinen Handlungen erkennen? Ich denke, ja. Ein Täter,
der sich am Tatort Zeit läßt, zeigt eigentlich, daß er sich auch sicher fühlt.
Und gerade Miller´s Court ist ein gutes Bispiel für einen Täter, der sich Zeit nahm und sie offenbar auch hatte, sich also sicher, also weniger unter Stress fühlte als auf offener Straße. Dort hielt er sich ja nie sehr lange auf. Aus gutem Grund, gelle?
Was lesen wir so oft bei namhaften Ripperologen? „Bei Kelly konnte er sich austoben“. Richtig! Er tat alles, was er offenbar (schon immer tun) wollte – weil er eben Zeit und somit weniger Stress / Angst hatte.
Dazu noch eine Überlegung: wie verhält sich jemand, der Sress hat? u.a. versucht so jemand, die Stressituation so kurz wie möglich zu halten, alles schnell zu erledigen und so bald wie möglich zu verschwinden. Er legt mit Sicherheit
keine zeitraubende extra „Bonus“ Runde ein, nicht wahr?
Alleine schon deshalb behaupte ich, Miller´s Court war für ihn (soferne es sich um denselben Täter gehandelt hat) nicht stressiger als zB Hanbury Yard.
Ich werde nun noch die These (je mehr Stress, desto heftigere Gesichtsverletzungen) im Vergleich mit den anderen Opfern betrachten. Wenn diese These doch stimmen soll, dann müßte ja Chapman (deren Tatort Situation den Täter mindestens ebenso, wenn nicht mehr, gestresst haben muß wie die in Miller´s Court) ebensolche Verletzungen aufweisen. Hat sie aber nicht.
Mitre Square hingegen, mit seinen vielen Fluchtmöglichkeiten, hatte somit, wie Pathfinder ja wohl auch meint, wesentlich weniger Stressfaktoren. Für die Richtigkeit dieser These müßte das aber heißen, daß Eddowes demnach gar keine oder weniger starke Gesichtsverletzungen als zB Chapman haben sollte. Hat sie aber auch nicht.
Diese Vergleiche ergeben für mich daher:
die Gesichtsverletzungen sind nicht durch den Innenraum-Tatort stressbedingt. Im Gegenteil – sie erscheinen
zeitbedingt. Sie treten nämlich genau dann auf, wenn der Täter dieser Serie (noch) genügend Zeit hat, sie anzubringen.
Somit sehe ich die These: ‚mehr Stress – mehr Gesichtsentstellungen’ (für den Fall, daß der Ripper auch Kelly´s Mörder ist) aufgrund des Innenraumes durch die untersuchten Faktoren nicht bestätigt.
Hingegen stärkere Aggression aufgrund anderer Faktoren (persönliche Beziehung zum Opfer zB) ist durchaus möglich.
Daher biete ich für Kelly´s Gesichtsverletzungen als mögliche Ursachen an:
1) ein andererer Täter mit einer anderen Gemütslage und mit einer anderen Fähigkeit, mit Stress umzugehen
2) der Täter / Ripper hatte einfach mehr Zeit und konnte sich „austoben“ und das für ihn wichtige Programm voll fahren
3) der Täter / Tipper hatte bewußt vor, sich innerhalb der Serie zu steigern und tat genau dieses auch
4) der Täter / Ripper steigerte sich un / ter / bewußt
5) die Gesichtsverletzungen haben ausschließlich mit der Persönlichkeit Kelly´s und ihrer eventuellen realen oder (von Täterseite her) eingebildeten Beziehung zumTäter / Ripper zu tun
Und falls wir uns jetzt doch noch „kloppen“ wollen, welche Waffe möchtest du wählen?