Ich selbst gehe völlig konform mit einer Buchrezension der Welt, und bin so frei hier zu zitieren:
Die dem Ripper gewidmete Internetseite
www.casebook.org weist darauf hin, dass Jean Overton Fuller schon 1990 das Buch „Sickert and the Ripper Crimes“ veröffentlicht habe. Doch Fuller konnte keine sechs Millionen Dollar ausgeben, um Bilder des Künstlers, um Sickert- und angebliche Ripper-Briefe zu erwerben und mittels modernster forensischer Methoden auf genetische „Fingerabdrücke“ hin untersuchen zu lassen. Auch kommt niemand Patricia Cornwell gleich, wenn es um die Beschreibung von Tatorten, Leichenerscheinungen und pathologischen Verhaltensweisen geht.
Der sachliche Ertrag ihrer aufwendigen Untersuchungen verbirgt sich in einem Wald von Spekulationen über Sickerts Charakter, über sein vielleicht verstümmeltes Geschlechtsteil, seinen Frauenhass und die Eskalation seiner Gewaltfantasien. Cornwell teilt ihn eher indirekt mit: „Walter Sickert war der schlimmste Gegner eines forensischen Wissenschaftlers.“ Denn Sickert hat seinen Leichnam einäschern lassen. Cornwells umfassender Untersuchung fehlte deshalb jenes eindeutige DNS-Material, das den ganzen Aufwand gerechtfertigt hätte. Die Untersuchung von Briefumschlägen und Marken, die Sickert möglicherweise angeleckt hatte, konnte allenfalls die Möglichkeit seiner Verstrickung belegen – sofern man über hundert Jahre alter DNS überhaupt trauen darf.
Woran es hingegen nicht fehlt, sind Lebenszeugnisse und Werke Sickerts, sind Hunderte von Briefen, in denen der Ripper sich zu seinen Verbrechen geäußert und die Polizei verhöhnt haben soll. Denn im Gegensatz zum Kanon der Ripperforschung hält Cornwell die meisten Briefe für echt. Was ihrer Interpretation ungemein dienlich ist, weil manche von ihnen Farbspuren und Stilelemente aufweisen, die auf einen Maler und speziell auf Sickert zu deuten scheinen. Wer aber solche Briefe schreibt, und wer so morbide malt wie Sickert, auf dessen Bildern sie verschiedene Tatorte und Tatmethoden des Rippers entdeckt zu haben glaubt, der passt zu gut in Cornwells Täterprofil, um ihn entkommen zu lassen.
Gerade weil solche „Beweise“ dürftig und keineswegs eindeutig sind, sieht Patricia Cornwell sich angespornt zu rekonstruieren, wie es gewesen sein könnte. Schaudernd erfährt der Leser welch ein Sumpf von Schlamperei und Inkompetenz die Gerichtsmedizin der Prä-Cornwell-Ära gewesen sein muss. Blutlachen wurden übersehen, Beweismittel vernichtet, verstreute Organe achtlos in Leibeshöhlen zurückgeschaufelt.
Bei solcher Fachkritik wächst freilich der Eindruck, dass Patricia Cornwell daraus die Lizenz ableitet, übersehene Indizien und verlorene Beweise poetisch zu rekonstruieren. Dort, wo sie keine Belege dafür sieht, dass Sickert zum Zeitpunkt einer Tat nicht in London war, schließt sie deshalb, er müsse folglich nicht nur anwesend, sondern gewissermaßen vorsätzlich anwesend gewesen sein. Ihr Glanzstück aber ist eine ausführliche Beschreibung, wie Sickert als Kind durch eine barbarische Operation an einer angeblichen „Penisfistel“ verstümmelt, traumatisiert und damit zum impotenten Frauenmörder gemacht wurde. Das ist die hohe Schule weiblicher Kastrationsfantasie, nur gibt es keinen Beweis für deren Realitätsgehalt.
Von einer paranoiden Hypertrophie des Möglichkeitssinns befallen, übersieht Cornwell, dass ausgerechnet sie als Verfasserin von vor Blut und Verwesung triefenden Thrillern hier versucht, einem Künstler aus seinen Werken und möglichen Fantasien den Strick zu drehen. Zwar hat dieser Wahnsinn Methode, weil mangels harter Beweise nur die Erfindung weiterhilft, doch scheint sich Patricia Cornwell dessen keineswegs bewusst zu sein.
Artikel erschienen am 6. Dez 2002 (Die Welt)