Norddeutsche allgemeine Zeitung (Berlin)
Saturday, 21 November 1891
Morgen-Ausgabe
Aus Berlin
* Betreffend den Lustmord an der Nittsche mach jetzt die "Voss. Ztg." auf einen am 26. Februar d.J. im "Staats.-Anz." veröffentlichen Steckbrief aufmerksam, der von einem Verbrechen Mittheilung macht, das mit dem an der Nitsche begangenen viele Aehnlichkeit besitzt. Auch die Beschreibung des betreffenden Verbrechers erinnert an die des Mörders der Nittsche. Der Steckbrief lautet:
"Am 21. Februar 1891, Sonnabend Abends nach 8 Uhr, hat ein unbekannter Mann die unter sittenpolizeilicher Aufsicht stehende Pauline Wilden auf dem Bahnsteig des Ostbahnhofs zu Küstrin-Vorstadt an den Holzschuppen hinter dem Abort begleitet, ihr dort plötzlich mit einem Messer den Unterleib aufgeschlitzt und sich dann schleunigst entfernt. Die etwa 20 Zentimeter lange, sehr tiefe Wunde ist lebensgefährlich. Der Thäter ist ungefähr 30 Jahre alt, von mittelgroßer Gestalt, mit blondem Schnurrbart, er trug dunkelblauen Ueberzieher, grauen weichen Filzhut, gelbliches Halstuch, vorn mit einer Nadel zugesteckt, Stulpstiefel und zeigte sich mit Berliner Verhältnissen genau bekannt, wo er beim Militär gestanden habe. Wahrscheinlich derselbe Mann hat bereits am 18. Dezember 1890 abends an derselben Stelle der Wilhelmine Zimmermann eine fingerlange tiefe Schnittwunde am Unterleib beigebracht, dann zwischen Weihnachten und Neujahr auf demselben Bahnhof der Ernestine Frick den Unterleib aufschlitzen wollen und ähnliches gegen die Luise Belgerin und die Emilie Müller beabsichtigt. Auch diese vier Mädchen stehen unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Wer über den sofort festzunehmenden Thäter irgend eine Auskunft geben kann, wird dringend um unverzügliche Mittheilung an mich oder die nächste Polizeibehörde ersucht. Landsberg a.W., den 23. Februar 1891. Königlicher Erster Staatsanwalt."
Abend-Ausgabe
Aus Berlin
rg. Die Polizei hat den durch den heute Morgen mitgetheilten Steckbrief bekanntgewordenen Strafthaten in Küstrin in Bezug auf die Ermordung der Nitsche selbstverständlich ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Eins der damals verletzten Mädchen - die unverehelichte Wilden - befindet sich in Berlin und ist wiederhergestellt. Aber sowohl diese, als die anderen betheiligten Zeuginnen haben sich als wenig zuverlässig erwiesen. So bestreitet Wilden bestimmt, angegeben zu haben, daß der Thäter mit ihr über Berliner Verhältnisse gesprochen habe, trotzdem sie diese Aussage damals wirklich gemacht hat. Sie will übrigens, was unwahrscheinlich klingt, im September denselben Menschen wieder in Küstrin gesehen haben. Seit den Morden in Whitechapel ist der hiesigen Polizei eine große Anzahl von Briefen zugegangen, in welchen Jack der Aufschlitzer seine Ankunft in Berlin meldet. Einer derselben ist besonders merkwürdig und am 5. Mai d.J. der Packetbeförderung übergeben worden. Sein Inhalt lautet: "Alle Achtung! Sonnabend, in der Nähe der Michaelikirch-Platzes der erste Mädchenmord." Der weitere Inhalt des Schreibens deutet darauf hin, daß er von einem Wahnsinnigen herrührt. Daß auch der Mörder der Nitsche geistig nicht gesund war, ist wahrscheinlich. Ueber die Person des Londoner Verbrechers Jack können auch die dortigen Behörden nichts Bestimmtes angeben, nicht einmal,ob er Engländer ist oder nicht. Der Mörder der Nitsche scheint Deutscher zu sein, da er keinen fremden Accent gesprochen hat, scheint auch der besser situirten Klasse nicht anzugehören.