Dieser Cross gerät seit damals immer wieder mal in Verdacht, Jack The Ripper gewesen zu sein und ist später einigen Leuten sogar ein Buch wert, dass ihn zum Täter erhebt. Das will ich prinzipiell nicht abwerten, denn im Fall der Whitechapel-Morde von 1888 ist nur wenig als wirklich gesicherte Erkenntnis zu betrachten. Und seriöse neue Gedankenwege und Ansätze sind immer zu begrüßen.
„Die Welt“ vom 21.09.2012
Der schwedische Autor Christer Holmgren hat zusammen mit seinem britischen Kollegen Edward Stow vor allem auf die Zeugenaussagen in den Ripper-Akten konzentriert – sie sind lückenlos heute im Museum des Scotland Yard in London einzusehen. Auffällig unlogisch kam den beiden dabei die Aussage jenes Zeugen vor, der das erste Opfer gefunden haben will. Charles Cross, von Beruf Droschkenfahrer, aus Bethnal Green, einem Londoner Stadtteil.
Charles Cross eilt am Freitag den 31. August 1888 im Dunkeln durch das Elendsviertel Whitechapel zur Arbeit – so hat er es der Polizei erzählt. Um 3.40 Uhr fällt er fast über einen Körper. Vor seinen Füßen liegt Mary Ann Nichols, eine Prostituierte, Spitzname "Polly". Drei Tage später wäre sie 43 Jahre alt geworden. "Polly" ist tot, die Kehle durchgeschnitten, der Unterleib aufgeschlitzt.*
Kurz darauf stößt ein weiterer Zeuge zum Tatort, Robert Paul, ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit. Während Paul der Polizei später berichtet, er habe Cross dabei überrascht, wie er sich über die Leiche beugte, gibt der Kutscher dagegen zu Protokoll, er habe mit einigem Abstand von der Leiche auf der Straße auf die Polizei gewartet.
"Wir sind sicher, dass Charles Cross der Mörder ist", erklärten Holmgren und Stow kürzlich auf einem Vortrag in London. "Er hat sich durch falsche Aussagen verdächtig gemacht, alle fünf Morde passierten in der Nähe seines Wohnortes und obendrein gab er einen falschem Namen an." Dass Charles Cross kein üblicher britischer Name sei, ist schon vielen aufgefallen, die sich mit den Ripper-Akten beschäftigten. Holmgren und Stow sind allerdings die ersten, denen es gelang, aus historischen Dokumenten und Geburtsurkunden den richtigen Namen jenes Kutschers mit Namen Charles aus Bethnal Green ausfindig zu machen: "in Wahrheit hieß er Charles Latchmere".**
* die Verstümmelungen wurden erst bei der Obduktion entdeckt
** Latchmere klingt noch viel weniger britisch, finde ich...
Über den „richtigen“, also den Geburtsnamen von Charles Cross wurde hier im Forum schon diskutiert. Am nächstliegendsten ist wohl, dass er den Namen seines Stiefvaters annahm, weil er sich mit diesem identifizierte, dieser Mann ein guter Partner seiner Mutter war und er so seinen „Erzeuger“ Cross damit abstreifen konnte.
Unsinnig erscheint mir der Gedanke, er hätte bewusst den „falschen“ Namen bei seinen Aussagen benutzt (u.a. eines der Argumente der obigen Autoren). Bei einer eventuellen Überprüfung hätte er sich damit doch in Teufels Küche gebracht.
Charles Cross sagte aus, nach einem kurzen Augenschein auf das Opfer (dass er zuerst für eine Plane oder ähnliches hielt), hörte er „Männerschritte“ in ungefähr 40 Yards Entfernung, die sich ihm auf der selben Straßenseite näherten. Diese 40 Yards sind etwa 35 Meter, verdammt kurze Distanz. „Männerschritte“ auf derselben Straßenseite...naja
Dem Opfer wurde der Unterrock wieder über die Wunden gezogen, so dass die schweren Verletzungen erst bei der Obduktion entdeckt wurde. Später kam es „Jack“ bei seinen weiteren Morden geradezu darauf an, sein Opfer schockierend zu „präsentieren“. Vielleicht waren ihm bei seinem (vermutlich) ersten Mord noch nicht die letzten Sicherungen durch geknallt und eine allerletzte Hemmschwelle vorhanden. Gerade das Verdecken der Verstümmelungen ist für mich ein Indiz dafür, dass er nicht vor dem Ende seiner Tat aufgescheucht wurde.
Ja, warum eigentlich Charles Cross und nicht der - meiner Meinung nach – mindestens ebenso ominöse Robert Paul?
Cross hörte den anderen Mann (Paul) näher kommen, mehr nicht. Paul könnte bereits in der Buck's Row gewesen sein und hörte seinerseits jemanden kommen. Vielleicht hatte er gerade eben seine schreckliche Tat vollendet und versteckte sich nun vor den heran nahenden Schritten in einer Nische oder sonst wo. Wie die Buck's Row mit der einzelnen Funzel am Straßenende geschildert wird, konnte man doch auf 5 Metern nichts mehr erkennen. Jetzt steht Cross bei der Toten; eine gute Gelegenheit selbst nicht gejagt zu werden wenn er davon liefe und Verdacht von sich ab zu wenden. Er geht in Richtung Cross und wird von ihm angesprochen.
Bei den späteren Befragungen gibt Cross an, er hätte beim Eintreffen von Paul nicht direkt neben der Toten gestanden. Paul gibt jedoch genau dies zu Protokoll. Warum glaubt man hier Cross nicht, diesem Paul aber schon? Cross selbst sagte ja aus, er wäre als erster am Tatort gewesen und traf dann auf Paul. Dieser war damit so ziemlich aus dem Schneider und mit seiner Aussage, er habe Cross über der Toten gebeugt gesehen, belastete er diesen noch zusätzlich, bzw. lenkte damit noch mehr von sich ab. Ein Gedankenspiel – Indizien kann ich nicht bieten. Kein Mensch hat sich scheinbar seit damals über diesen Robert Paul Gedanken gemacht.
Das große Mysterium bleibt natürlich, wie und warum es „Polly“ überhaupt in die Buck's Row verschlug und ob sie dorthin mit „Jack“ unterwegs oder ihm einfach über den Weg lief. In „Jack“ kochte es sicherlich schon seit langem und möglicherweise hat die arme Frau in jener nächtlichen Stunde in dieser stockdunklen Straße bei ihm alle letzten Hemmungen fallen lassen, als er mit ihr auf weiter Flur allein war.