Hallo Anirahtak!
Da hast Du auch recht, es ist prinzipiell schon ziemlich abwegig, aber es gibt in diesem Fall schon ein bis zwei (aber natürlich eben extrem unwahrscheinliche!) Möglichkeiten dafür, dass auch ehemalige (!) Sozialisten oder Anarchisten (dann also wohl letztlich vielmehr ´Terroristen´) hinter den Taten gesteckt haben könnten (Ich meinte nicht ´Anarchisten vs. Sozialisten´, das wäre in der Tat absurd, sondern eben so eine Variante.):
Das eine ist ein ähnliches Szenario, wie jenes, das dieser Informant namens Jonas aus Wien nannte, bei dem der Mörder ein irischer Fleischer namens John Kelly (mit einem Komplizen) gewesen sein soll, wie Jonas Charles Warren kurz vor dem Mord an Mary Jane Kelly mitteilte (Die ganze Geschichte befindet sich übrigens im
Sourcebook, Kapitel 16): Dieser Mann, der auch ursprünglich wohl dem gewaltbereiten Flügel einer angeblichen geheimen internationalen Sozialistenbewegung (solche gab es damals nachweislich ja tatsächlich) angehört haben soll, wurde aus der Vereinigung ausgeschlossen, weil er Mitglieder in Diskredit gebracht hatte – das Motiv dieses Kelly, der schon zuvor seine Freundin und ihr Kind in Amerika getötet haben soll (also scheinbar ohnedies eine mehr kriminell als politisch motivierte Figur), wäre demnach also Rache an ehemaligen Mitstreitern gewesen. So ein Szenario klingt natürlich unglaublich, ist aber tatsächlich auch nicht ganz auszuschließen, und Warren meinte dazu auch: :
´Wie Mr. Matthews weiß, habe ich vor einiger Zeit zu der Idee, die Morde könnten möglicherweise von einer geheimen Gesellschaft verübt worden sein, als einzige logische Lösung der Frage tendiert, aber ich würde es nicht als Werk eines Sozialisten verstehen, da die letzten Morde offensichtlich von jemandem begangen wurden, der es ersehnte, Juden und Sozialisten oder jüdische Sozialisten in Diskredit zu bringen. Aber durch den Wink des Informanten haben wir eine Lösung, bei der sie von einem abtrünnigen Sozialisten begangen wurden, um seine früheren Kameraden in Diskredit zu bringen.´Bezüglich der zweiten aber natürlich ebenfalls recht unwahrscheinlichen Möglichkeit habe ich neulich erst etwas ziemlich merkwürdiges entdeckt:
The Star vom 14. September 1888 enthält eine eigenartige Ankündigung, die ´beispiellos in der jüdischen Geschichte sei´, und wohl dem ´Arbeter Fraint´ entnommen war: Im ´International Working Men´s Club´ in der Berner Street (ja, genau der Club mit dem Dutfield´s Yard!) luden ´jüdische Sozialisten und Freidenker´ für den nächsten Tag (also dann 15 Tage vor dem Mord im Hof des Clubs) zu einem internationalen Bankett als ´Protest gegen die jüdische Religion und den Versöhnungstag´ ein. Die Ankündigung habe unter den orthodoxen Juden für Aufregung gesorgt, schreibt das Blatt, und es würde Gerüchte über eine Störaktion geben. Die Mitglieder des Clubs seien darauf vorbereitet und würden nicht die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen, um eine solche Aktion zu unterbinden. (Du findest den Artikel hier unter ´Freethinking Jews and the Black Fast´ :
http://www.casebook.org/press_reports/star/s880914.html)
Was hier beabsichtigt wurde, ist mir nicht ganz klar, dazu fehlt mir aber wohl auch das Wissen über Jom Kippur, der hier gemeint zu sein scheint, oder bezieht sich das auf ´black fast´ (
). Dass die orthodoxen Juden generell nicht für revolutionäre Ideen zu gewinnen waren, und dadurch auch nicht unbedingt für einen tatsächlichen Klassenkampf zu gewinnen waren, ist eigentlich anzunehmen, und diese Veranstaltung scheint eine Art Protest dagegen gewesen zu sein, wenn ich das richtig sehe(
). Dass man sie aber mittels einer ´Diskreditierungskampagne´ und die dadurch entstehenden judenfeindlichen Reaktionen zum politischen Handeln zwingen wollte, kann ich mir – genauso wie Du - nicht vorstellen, daher halte ich diese Möglichkeit eben auch für sehr, sehr gering bis eben komplett unvorstellbar.
Generell wären also, wie Du ja geschrieben hast, Antisemiten wesentlich wahrscheinlicher – ich wollte nur auf alle Möglichkeiten hinweisen, egal wie unwahrscheinlich sie sind.
@Lestrade:
Auch die psychische Störung, die Du schon mehrfach in Spiel gebracht hast, hat politische Hintergründe. (Zitat: ´Er sollte alles gehaßt haben durch das er geprägt wurde.´) Genau solche Fälle haben wir deshalb an der PoWi auch im Bereich Sozialpsychologie u.a. analysiert. Also dass der Täter nicht ´politisch´ war, stimmt auch bei Deiner Konstruktion (!) einfach nicht – Auch Prostituiertenhasser z. Bsp. sind letztlich politisch motiviert... Es gibt natürlich einige wenige Möglichkeiten, dass wir es hier nicht mit einem letztlich zumindest irgendwie politisch motivierten Täter zu tun haben, allerdings wäre eine solche Person in Anbetracht diverser Umstände in diesem Fall wohl ziemlich sicher ´red handed´ gefasst worden...
Eines ist ja, und ich denke, Du pflichtest mir da bei, auf jeden Fall klar: Keine einzige Beschreibung, die Zeugen lieferten, deuten eindeutig auf einen Juden hin: keine Peyes, kein Vollbart, keine Kippah, kein Stramel, gar nichts der gleichen! (Die meisten jüdischen Zeugen in diesem Fall wiesen zum Beispiel den bekannten Bildern zufolge den durch die Halacha an sich (mit Bezug auf das alttestamentarische Gebot, dass man das Haar am Haupt nicht rundherum abschneiden solle) vorgeschrieben Vollbart auf: Piser, Schwartz, und auch zumindest einer der drei Herren aus der Duke Street.) Gerade wenn der Täter auch irgendwie extrem verwahrlost war, wie das von Aaron Kosminski behauptet wurde, hätte er doch wohl gesamt einen längeren Bartwuchs gehabt, als da in den Zeugenbeschreibungen geschildert wurde. Stattdessen wirken die Personen hinter einigen Beschreibungen wie etwas heruntergekommene Einheimische, andere wiederum aus subjektiver Sicht der jeweiligen Zeugen zwar irgendwie ´ausländisch´, aber niemand hat eindeutig etwas beschrieben, das auf einen Juden hinweist! Zu alledem soll einer der möglichen Mörder im Affekt (!) und vermutlich auf Schwartz gerichtet, auch noch irgendetwas Ähnliches wie ´Lipski´ gebrüllt haben... Apropos Lipski: Der
´East London Observer´ vom 15. September 1888 wies mit Bezug auf die Ausschreitungen nach dem Mord an Chapman darauf hin, dass seit der Rückkehr der Juden im 17. Jahrhundert nach England gerade einmal zwei Juden wegen Mordes gehängt wurden, nämlich Marks und Israel Lipski – Ich bin dem nachgegangen und habe bisher auch noch keinen weiteren gefunden, den man als Mörder bezeichnen könnte - um ehrlich zu sein nicht einmal diesen Herrn ´Marks´, was durchaus am nicht erwähnten Vornamen liegen könnte. In Anbetracht dessen muss man festhalten, dass die judenfeindlichen Aktionen, die schon der Lipski-Prozess im Jahr vor den ´Rippermorden´ mit sich zog, ja noch ekelhafter und unglaublicher sind, als ohnedies schon angenommen! Unbegründbarer, auf Vorurteilen basierender Zündstoff war also auf jeden Fall vorhanden, aber dass der Täter ein Jude war, ist wohl nicht sonderlich wahrscheinlich.
Grüße,
panopticon